Urteil des SozG Duisburg vom 13.02.2009

SozG Duisburg: untätigkeitsklage, rente, behörde, verkündung, gesetzesänderung, anschluss, obliegenheit, offenkundig, zahl, ermessen

Sozialgericht Duisburg, S 10 R 193/07
Datum:
13.02.2009
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 10 R 193/07
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des
Verfahrens zu erstatten.
Gründe:
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I.
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Gegenstand des zugrunde liegenden Klageverfahrens war eine Untätigkeitsklage, mit
der der Kläger geltend machte, die Neuberechnung seiner Rente nach Art 6 § 4 c FANG
sei nicht in angemessener Frist vorgenommen worden.
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Dem am 12.01.1937 geborenen Kläger war mit Bescheid vom 11.10.2000 eine
Versichertenrente bewilligt worden, gegen den er mit Schreiben vom 27.10.2000
Widerspruch erhoben hatte, weil er unter Berufung auf die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichtes (BSG) die Kürzung der Rente nach § 22 Abs 4 FRG für
verfassungswidrig hielt. Die Beteiligten vereinbarten das Ruhen des
Widerspruchsverfahrens bis zur endgültigen Klärung der Verfassungsmäßigkeit der
Rentenkürzung durch ein anhängiges Bundesverfassungsgerichtsverfahren.
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Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 13.06.2006 und
dem Inkrafttreten der vom BVerfG geforderten gesetzlichen Neuregelung des Art 6 § 4 c
FANG teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 25.08.2007 mit,
dass der Kläger unter den Anwendungsbereich des Art 6 § 4 c FANG falle und bisher
noch kein Bescheid mit einer Neuberechnung der Rente des Klägers ergangen sei,
obwohl das Gesetz bereits seit mehreren Monaten in Kraft getreten sei. Die Beklagte
wurde aufgefordert, binnen 4 Wochen einen entsprechenden Bescheid zu erteilen.
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Am 02.11.2007 erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers Untätigkeitsklage und
trug zur Begründung vor, die gesetzliche Regelung des Art 6 § 4 c FANG sei am
20.04.2007 in Kraft getreten und die Beklagte habe auch 6 Monate nach Inkrafttreten
des Gesetzes noch keinen Bescheid erlassen. Andere Rentenversicherungsträger wie
die Deutsche Rentenversicherung Bund würden bereits seit Juli 2007 entsprechende
Bescheide erteilen.
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Am 15.11.2007 übersandte die Beklagte an den Prozessbevollmächtigte des Klägers
einen nicht datierten Bescheid, mit dem die Zahlung eines Zuschlages nach Art 6 § 4 c
Abs 2 FANG abgelehnt wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe
seinen
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Überprüfungsantrag erst am 25.08.2007, dh nach dem 31.12.2004 gestellt, so dass die
Voraussetzungen der Übergangsregelung nicht vorlägen.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 29.11.2007
Widerspruch und wies zur Begründung darauf hin, dass der Überprüfungsantrag des
Klägers nicht erst am 25.08.2007, sondern bereits am 27.10.2000 gestellt worden sei.
Damals sei ein Ruhen des Verfahrens vereinbart worden. Daraufhin erging am
03.01.2008 ein Bescheid der Beklagten, mit dem rückwirkend ab dem 01.02.1997 unter
Berücksichtigung eines Zuschlages eine Neuberechnung der Rente vorgenommen
wurde.
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Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erklärt die Untätigkeitsklage am 30.01.2008 für
erledigt und beantragte eine gerichtliche Kostenentscheidung. Er ist der Auffassung, die
Untätigkeitsklage sei begründet gewesen, da die Beklagte innerhalb von 6 Monaten
nach Inkrafttreten eines Gesetzes in der Lage sein müsse, dieses durch entsprechende
Computerprogramme umzusetzen. Ansonsten läge ein erhebliches organisatorisches
Defizit vor, das sich die Beklagte zurechnen lassen müsse und keinen zureichenden
Grund im Sinne des § 88 SGG darstelle.
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Die Beklagte ist der Auffassung, angesichts der Komplexität der gesetzlichen Regelung
bestehe kein Anhaltspunkt für eine Untätigkeit der Beklagten, wenn zwischen der
Verkündung einer gesetzlichen Neuregelung und der erstmals möglichen
Bescheiderteilung ein Zeitraum von 7 Monaten liege. Es seien erhebliche Vorkehrungen
erforderlich gewesen, um die vorgesehenen Berechnungen durchzuführen. Dies gelte
insbesondere im Hinblick auf die programmtechnische Umsetzung, die bei der
Beklagten erst am 21.11.2007 abgeschlossen gewesen sei.
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II. Über die Kostenerstattungspflicht der Beteiligten war nach § 193 Abs 1 S 3 SGG
durch Beschluss zu entscheiden, da das Verfahren durch eine Erledigungserklärung im
Sinne des § 88 Abs 1 S 3 SGG beendet wurde.
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Die Entscheidung über die Kostentragungspflicht nach § 193 Abs 1 SGG ergeht unter
Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen
(Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn 13 mwN). Dabei sind insbesondere die
Erfolgsaussichten der Klage sowie die Gründe für die Klageerhebung und die
Erledigung maßgeblich. Das Gericht
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hat bei der Ermessensentscheidung alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen
unter Beachtung der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens. Daher ist das
voraussichtliche Maß des Obsiegens bzw. Unterliegens nicht das allein wesentliche
Entscheidungskriterium, sondern in die Entscheidung können auch Gesichtspunkte wie
die Veranlassung des Rechtsstreits, die Verursachung unnötiger Kosten und die
Anpassungsbereitschaft an eine geänderte Rechts- oder Sachlage eingehen (Meyer-
Ladewig § 193 SGG Rn 12 mwN).
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Bei Erledigung einer Untätigkeitsklage ist unter dem Gesichtspunkt der Veranlassung
des Rechtsstreits der Rechtsgedanke des § 161 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) heranzuziehen, wonach die Kosten in der Regel der Beklagten zur Last fallen,
wenn der Kläger nach den ihm bekannten Umständen mit einer Bescheidung vor
Klageerhebung rechnen durfte (Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn 13 c mwN). Dies gilt
insbesondere dann, wenn innerhalb angemessener Frist kein Bescheid ergangen ist
und für den Kläger aufgrund des Verhaltens der Beklagten nicht erkennbar ist, welche
Gründe für die Verzögerung bestehen und ob in absehbarer Zeit eine Entscheidung
getroffen wird. In diesem Fall soll dem Bürger das Kostenrisiko für die Erhebung einer
Untätigkeitsklage abgenommen werden, da es für ihn in der Regel nur schwer
erkennbar ist, ob und welche Gründe den Sozialversicherungsträger von einer zeitig
früheren Entscheidung abgehalten haben (vgl. OVG Lüneburg MDR 1968, 525;
BVerwGE 42, 108, 110). Andererseits besteht in der Regel keine
Kostenerstattungspflicht der Beklagten, wenn sie mit einem zureichenden Grund nicht
innerhalb der gesetzlichen 3-Monats-Frist entschieden hat und diesen Grund dem
Kläger mitgeteilt hat oder dem Kläger dieser Grund bekannt war (Meyer-Ladewig § 193
SGG Rn 13 c; LSG Rheinland-Pfalz Breithaupt 98, 943; LSG Bremen NZS 98, 151;
Hess VGH DÖV 73, 684).
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Unter Heranziehung dieser Grundsätze ist eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten
zu bejahen. Zwar hat die Beklagte mit zureichendem Grund nicht innerhalb der
gesetzlich vorgesehenen Frist von 6 Monaten entschieden, so dass die
Untätigkeitsklage nicht begründet war. Jedoch hat die Beklagte Veranlassung zur
Klageerhebung gegeben, indem sie den Kläger nicht darüber in Kenntnis gesetzt hat,
welche Gründe für die Verzögerung bestehen und zu welchem Zeitpunkt mit einer
Bescheiderteilung gerechnet werden kann.
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Obwohl das Ausgangsverfahren einen Widerspruch des Klägers betraf, ist vorliegend
die 6-Monats-Frist des § 88 Abs 1 S 1 SGG maßgeblich. Die Beteiligten hatten
vereinbart, dass das Verfahren auf Bescheidung des Widerspruches gegen den
Bescheid vom 11.10.2000 ruhen sollte, bis das BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit
der Vorschrift des § 22 Abs 4 FRG entschieden hat. Die Beklagte musste das Verfahren
nicht nach dem Bekanntwerden der Entscheidung des BVerfG vom 13.06.2006
fortsetzen, da das BVerfG für den Personenkreis, zu dem der Kläger zählt, keine
abschließende Entscheidung getroffen hat, sondern den Gesetzgeber aufgefordert hat,
bis zum 31.12.2007 eine Übergangsregelung hinsichtlich der Absenkung der
Entgeltpunkte für Zeiten nach dem FRG zu schaffen.
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Die vom BVerfG angemahnte Übergangsvorschrift des Art 6 § 4 c Abs 2 FANG ist am
20.04.2007 verkündet worden. Da nach dieser Vorschrift eine Neuberechnung der
Rente vorgenommen werden musste und insoweit ein neues Verwaltungsverfahren
durchgeführt werden musste, lief ab Verkündung der Übergangsregelung die 6-Monats-
Frist des § 88 Abs 1 S 1 SGG. Einer ausdrücklichen neuen Antragstellung des Klägers
bedurfte es insoweit nicht, da aufgrund des noch anhängigen Widerspruches des
Klägers offenkundig war, dass er die Übergangsregelung in Anspruch nehmen wollte.
Somit war die 6-Monats-Frist am 20.10.2007 abgelaufen und die am 02.11.2007
erhobene Untätigkeitsklage zulässig.
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Die Untätigkeitsklage war nach Auffassung der Kammer nicht begründet, so dass sich
eine Kostenerstattungspflicht der Beklagten unter diesem Gesichtspunkt nicht ergibt.
Grundsätzlich kann eine vorübergehende, durch eine Gesetzesänderung
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hervorgerufene Überlastung einer Behörde einen zureichenden Grund für die
Nichtbescheidung eines Antrages im Sinne des § 88 Abs 1 S 1 SGG darstellen. Dabei
kann dieser Grund sowohl in dem schlagartig auftretenden erheblichen Arbeitsanfall als
auch in einer vorübergehenden programmtechnischen Schwierigkeit bei der Umsetzung
der gesetzlichen Neuregelung liegen (vgl. OVG Lüneburg NJW 64, 1637; LSG NRW
vom 09.01.2009 Az: L 14 B 9/08 R; LSG Berlin NZS 1993, 184; Meyer-Ladewig § 88 Rn
7 a). Im vorliegenden Fall ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass die besonders
differenziert ausgestaltete Übergangsvorschrift des Art 6 § 4 c Abs 2 FANG erhebliche
programmtechnische Umsetzungsprobleme
aufgeworfen hat und dass im Hinblick auf die gerichtsbekannt hohe Zahl anhängiger
Verfahren ein besonderer Arbeitsanfall aufgetreten ist. Nach der gesetzlichen Regelung
musste eine Vergleichsberechnung durchgeführt werden, dh die
Gesamtentgeltpunktzahl mit und ohne Anwendung des § 22 Abs 4 FRG ermittelt werden
und für unterschiedliche Rentenbezugszeiten unterschiedlich hohe Zuschläge ermittelt
werden (für den Zeitraum vom 01.07.1997 bis zum 30.06.2000). Insoweit erscheint ein
Bearbeitungszeitraum von knapp 7 Monaten ausnahmsweise vertretbar (ebenso LSG
NRW vom 09.01.2009 Az: L 14 B 9/08 R).
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Allerdings hätte die Beklagte den Kläger über diese Umstände in Kenntnis setzen
müssen und dem Kläger mitteilen müssen, zu welchem Zeitpunkt mit einer
Bescheiderteilung gerechnet werden könne. Bei Vorliegen eines zureichenden Grundes
für eine nicht fristgerechte Entscheidung ist eine Zwischennachricht an den Betroffenen
erforderlich, aus der erkennbar wird, aus welchen Gründen der Bescheid noch nicht
erteilt werden kann (vgl. LSG NRW vom 04.01.1993 L 10 S 17/92; OVG Lüneburg MDR
68, 525; Hess VGH DÖV 73, 684; Meyer-Ladewig § 193 SGG Rn 13 c). Eine solche
Zwischennachricht konnte vorliegend auch nicht unter dem Gesichtspunkt unterbleiben,
dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle tätig
geworden ist. Dies ergibt sich schon vor dem Hintergrund, dass es bei den
Rentenversicherungsträgern unterschiedlich lange Bearbeitungszeiten gab, was
zumindest im Fall der Deutschen Rentenversicherung Bund zwischen den Beteiligten
unstreitig ist und seinen Grund darin hatte, dass bei diesem Rentenversicherungsträger
die programmtechnische Umsetzung früher abgeschlossen war. Aus diesem Grund war
es erforderlich, dass die Beklagte mitteilte, welche programmtechnischen
Umstellungsschwierigkeiten es durch den Anschluss an den Programmierkreis AKIT bei
der Beklagten gab und mit welcher Dauer des Verfahrens ungefähr gerechnet werden
musste.
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Eine entsprechende Information hätte spätestens zu dem Zeitpunkt erfolgen müssen, als
der Prozessbevollmächtigte des Klägers sich mit Schreiben vom 25.08.2007 an die
Beklagte gewandt hatte und an das anhängige Überprüfungsverfahren erinnert hat.
Insoweit ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers seiner Obliegenheit
nachgekommen, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage an die Beklagte zu wenden
und auf die Notwendigkeit
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der Erteilung eines zeitnahen Bescheides hinzuwirken. Obwohl der
Prozessbevollmächtigte insoweit eine 4-wöchige Frist gesetzt hatte, hat die Beklagte
weder den Bescheid erteilt noch eine Zwischenmitteilung gemacht, aus welchen
Gründen sie sich noch nicht in der Lage sehen würde, eine Entscheidung zu treffen. Bei
einer solchen Fallgestaltung gibt die Beklagte Veranlassung zur Erhebung einer
Untätigkeitsklage, wenn sie bis zum Ablauf der 6-Monats-Frist (20.10.2007) keinen
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Bescheid erteilt, da weder die Gründe für das Ausbleiben der Bescheiderteilung
erkennbar werden, noch der Zeitraum, auf den sich der Kläger einstellen muss.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es insoweit nicht darauf an, ob durch die
verzögerte Bescheiderteilung ein Schaden konkret entstanden ist, weil es nicht um
einen Schadensersatzanspruch des Klägers geht, sondern um seinen Anspruch auf
zeitnahe Entscheidung durch die Behörde.