Urteil des SozG Duisburg vom 17.09.2007
SozG Duisburg: verbot der diskriminierung, verminderung, rentner, eugh, erwerbsfähigkeit, verwaltungsakt, belastung, wirtschaftsrecht, helm, ehepartner
Sozialgericht Duisburg, S 21 (29) R 125/07
Datum:
17.09.2007
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 21 (29) R 125/07
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 5a R 124/07 R
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die
Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Sprungrevision wird
zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob die Rente des Klägers wegen Erwerbsminderung (EWM) mit dem
Zugangsfaktor 1,00 zu berechnen ist.
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Dem 1945 geborenen Kläger bewilligte die Beklagte nach sozialgerichtlichem
Verfahren - S 11 RA 38/04 - Rente wegen teilweiser EWM auf Dauer ab 01.08.2003 mit
Bescheid vom 21.12.2005. Sie erkannte im Versicherungsverlauf eine 20-monatige
Zurechnungszeit vom 01.05.2003 bis 31.12.2004 an und verminderte den
Rentenzugangsfaktor 1,00 um 0,003 für jeden Kalendermonat nach dem 31.07.2005 bis
zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres. Sie errechnete
damit für 32 Kalendermonate eine Verminderung von 0,096, so dass sie die sich aus
dem Versicherungsverlauf ergebenden persönlichen Entgeltpunkte (EP) von 36,9034
mit 0,904 multiplizierte und der Rentenberechnung 33,3607 EP zugrundelegte. Mit
Bescheid vom 28.12.2005 gewährte die Beklagte dem Kläger Rente wegen voller EWM
auf Zeit vom 01.11.2003 bis 31.10.2006. Sie erkannte im Versicherungsverlauf eine 20-
monatige Zurechnungszeit vom 01.05.2003 bis 31.12.2004 an und verminderte den
Zugangsfaktor 1,00 für die Hälfte der EP, nämlich 18,4517, um 0,003 für jeden
Kalendermonat nach dem 30.04.2005 bis zum Ablauf des Kalendermonats der
Vollendung des 63. Lebensjahres. Sie errechnete damit für 35 Kalendermonate eine
Verminderung von 0,105, so dass sie die Hälfte der sich aus dem Versicherungsverlauf
ergebenden persönlichen EP von insgesamt 36,9840, also hier 18,4517 EP, mit 0,895
multiplizierte und der Rentenberechnung 16,5143 EP sowie zusätzliche 0,0721 EP und
16,6803 EP aus der Rente wegen teilweiser EWM, insgesamt also 33,3607 EP
zugrundelegte. Mit Bescheid vom 03.08.2006 verlängerte die Beklagte die Zeitrente bis
31.10.2009.
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Mit Schreiben vom 04.08.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der
bestandskräftigen Rentenbescheide der Beklagten unter Hinweis auf ein Urteil des 4.
Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R -, wonach
die Kürzung des Rentenfaktors unzulässig sei. Mit Schreiben vom 08.08.2006 bat die
Beklagte um Geduld, da das Urteil des 4. Senats des BSG noch überprüft werde. Mit
Schreiben vom 05.01.2007 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dem Urteil des 4. Senats
des BSG werde nicht gefolgt, da es nicht der geltenden Rechtslage und den Intentionen
des Gesetzgebers entspreche, zumal zeitgleich mit der Verminderung des
Zugangsfaktors durch § 77 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine Anhebung der
Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI erfolgt sie, um die Härten der Rentenminderung zu
mildern. Es seien Musterverfahren beabsichtigt. Sie bat um Mitteilung, ob das
Überprüfungsverfahren bis dahin ruhen könne, was der Kläger verneinte.
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Mit Bescheid vom 18.01.2007 lehnte die Beklagte die Zurücknahme ihrer Bescheide
vom 23.11.2005 - gemeint wohl 21.12.2005 - und 28.12.2005 ab, da diese der
Rechtslage entsprächen. Die Begründung entspricht derjenigen des Schreibens vom
05.01.2007. Den bei ihr am 25.01.2007 eingegangenen Widerspruch, der auf das Urteil
des 4. Senats des BSG Bezug nahm, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
26.03.2007 aus den Gründen des Ausgangsbescheides zurück.
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Am 24.04.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18.01.2007 und des
Widerspruchsbescheides vom 26.03.2007 zu verpflichten, ihre bestandskräftigen
Rentenbescheide vom 21.12.2005 und 28.12.2005 teilweise zurückzunehmen und sie
zu verurteilen, den Rentenberechnungen der Renten wegen EWM ab 01.08.2003 den
Zugangsfaktor 1,00 zugrundezulegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Gericht hat den Beteiligten neutralisierte Kopien einer Entscheidung des
Sozialgerichts (SG) Aachen vom 09.02.2007 - S 8 R 96/06, des SG Lübeck vom
26.04.2007 und einer Entscheidung der 21. Kammer des SG Duisburg vom 06.08.2007 -
S 21 (29) R 90/07 - zugeleitet.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, betreffend den
Kläger, Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die form- und fristgerecht erhobene Klage, mit der der Kläger die Neuberechnung seiner
mit bestandskräftigen Bescheiden vom 21.12.2005 und 28.12.2005 festgestellten
Renten wegen EWM unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,00 begehrt, ist
als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zulässig nach § 54
Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Die zulässige Klage ist aber nicht begründet, da die angefochtenen Bescheide nicht
rechtswidrig sind. Folglich wird der Kläger durch sie auch nicht beschwert im Sinne des
§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Denn die Beklagte hat zu Recht die Rentenneuberechnung
unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,00 abgelehnt.
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Nach § 44 Abs. 1 X. Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem
er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen,
soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt
oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist,
sofern deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
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Die ab 01.05.2007 gültige Neufassung des § 100 Abs. 4 SGB VI, wonach ein
unanfechtbarer rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt nur mit Wirkung für
die Zukunft zurückzunehmen ist, sofern eine ständige Rechtsprechung das Recht
anders auslegt als der Rentenversicherungsträger, ist bereits vom Wortlaut her nicht
einschlägig. Denn bisher liegt nur ein BSG-Urteil vor, nämlich das des 4. Senats,
während bei den übrigen BSG-Senaten noch Revisionen anhängig sind, so dass von
einer "ständigen Rechtsprechung" nicht die Rede sein kann.
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Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X liegen hier nicht vor. Denn die Beklagte
hat zu Recht die Renten des Klägers wegen EWM mit einem verminderten
Zugangsfaktor berechnet.
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Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist der Zugangsfaktor bei
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Ablauf des Kalendermonats der
Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, für jeden
Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist
die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors
maßgebend, § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Die Rentenbezugszeit vor Vollendung des 60.
Lebensjahres gilt insoweit nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme, § 77 Abs. 2
Satz 3 SGB VI. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Vorschriften, die das Gericht in
Übereinstimmung mit Ruland
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- Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, Neue Juristische Wochenschrift (NJW),
2007, S. 2086 ff -
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für eindeutig hält, hat die Beklagte zu Recht den Zugangsfaktor bei der Berechnung der
EWM-Renten des Klägers um 0,096 und 0,105 vermindert und den jeweils verminderten
Zugangsfaktor mit den persönlichen EP des Klägers von 36,9034 und 36,9840
multipliziert.
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- So auch: SG Aachen, Urteil vom 09.02.2007, Az: S 8 R 96/06; Ruland, a.a.O -
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Die entgegenstehende Auffassung des 4. Senats des BSG, Vgl. Urteil vom 16.05.2006 -
Az: B 4 RA 22/05 R - und des SG Lübeck Vgl. Urteil vom 26.04.2007 - Az: S 14 R
191/07 -
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wonach aus § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI folge, dass Bezugszeiten einer Rente wegen
EWM vor Vollendung des 60. Lebensjahres keine vorzeitigen Bezugszeiten seien,
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weshalb bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor 1,0 für die Rente
gelte, hält das Gericht nicht für überzeugend. Denn diese Auffassung widerspricht zum
einen dem Willen des Gesetzgebers, der die Rentenhöhe der Rentenbezieher aller
Altersgrupppen, wenngleich in unterschiedlich starker Weise, herabsetzen wollte,
soweit es nicht um die Regelaltersrente ab Vollendung des 65. Lebensjahres geht. Vgl.
Ruland, a.a.O. -
Darüber hinaus vermag das Gericht keinen sachlich einleuchtenden Grund dafür zu
erkennen, dass Bezieher einer Rente wegen EWM, die nicht notwendig mit Vollendung
des 60. Lebensjahres überhaupt einen Altersgeldanspruch haben, in einer Phase
höheren Lebensalters eine Rentenminderung hinnehmen müssten. Zum anderen ist die
Verlängerung der Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI in der seit dem
01.01.2001 gültigen Fassung (n.F.) ausdrücklich deswegen erfolgt, um die
Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors für eine Rente wegen EWM bei
jüngeren Versicherten abzumildern, wie das Sozialgericht Aachen -vgl. Urteil vom
09.02.2007 - Az: S 8 R 96/06 und Ruland, a.a.O. -
25
zutreffend ausgeführt haben.
26
Die Ausführungen des SG Lübeck,
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Vgl. Urteil vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 -
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wonach ältere Rentner einen "geringeren Bedarf" haben sollen, vermag das Gericht
nicht nachzuvollziehen. Zwar hat die Gruppe der über 60-jährigen im Regelfall keine
Unterhaltspflichten mehr gegenüber Kindern, jedoch gegenüber den Eltern, die bei der
typischen Generationsfolge von gut 20 Jahren mit über 80 Jahren häufig pflegebedürftig
sind, ganz abgesehen von dem Umstand, dass die Gruppe der über 60-jährigen vielfach
durch Kosten von Haushaltshilfen belastet wird, da zu diesem Zeitpunkt im Regelfall
auch der Ehepartner nicht mehr so voll leistungsfähig ist, wie dies bei Frührentnern
regelmäßig noch der Fall ist.
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Bei dieser Sachlage führt die Auffassung des 4. Senats des BSG und des SG Lübeck,
wonach jüngere Versicherte durch die verlängerte Zurechnungszeit eine höhere Rente
als vor 2001 erhalten sollen, während nur über 60-jährige Rentner deutliche Abschläge
hinnehmen müssten, zu einer willkürlichen Ungleichbehandlung dieser Rentnergruppe,
die mit Art. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre, während die von der Beklagten
vertretene Auffassung, die sich am Gesetzeswortlaut orientiert, eine angemessene
Belastung aller Rentnergruppen nach sich zieht. Darüber hinaus ist diese
Rechtsauffassung auch europarechtswidrig. Denn sie führt zu einer unzulässigen
Altersdiskriminierung. Hierbei kann offenbleiben, ob die Richtlinie 2000/78/EG
(Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) Anwendung findet. Denn der Europä- ische
Gerichtshof (EuGH) hat im Urteil vom 22.11.2005 ausgeführt, dass das Verbot der
Diskriminierung wegen Alters ein sog. "allgemeiner Grundsatz des
Gemeinschaftsrechts" ist.
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Vgl. EuGH, Urteil v. 22.11.2005 in Rs. Mangold/Helm, Az: C 144/04, Europäische
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2006, S. 16 (20) -
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Die Regelung über die Verminderung des Zugangsfaktors bei EWM-Rentnern verstoßt
auch nicht gegen höherrangiges Recht, nämlich Art. 14 GG, wie das Sozialgericht
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Aachen zutreffend und umfassend ausgeführt hat.
Vgl. a.a.O., S 8 ff -
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Das Gericht schließt sich dieser Auffassung nach eigener Prüfung voll an.
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In bezug auf die übrigen verfassungfsrechtlichen Bedenken, die gegen die Neufasung
des § 77 SGB VI zum Teil geltend gemacht werden, verweist das Gerricht auf die
Entscheidungsgründe des Urteils der 21. Kammer vom 06.08.2007 - S 21 (29) R 90/07 -,
denen es sich auch für die vorliegende Streitsache voll anschließt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
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Das Gericht hat die Sprungrevision hier nach § 161 Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 160
Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat
und von einer Entscheidung des BSG abweicht. Die Rentenkammern des SG Duisburg
werden zudem derzeit mit Klagen, die den Zugangsfaktor betreffen, zahlenmäßig so
massiv belastet, dass eine alsbaldige Klärung der umstrittenen Rechtsfrage durch das
BSG unter Umgehung der 2. Instanz geboten erscheint, zumal die Arbeitsverdichtung
bei den erstinstanzlichen Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in NRW durch die neuen
Rechtsgebiete auf allen Rechtsgebieten inzwischen so erheblich ist, dass alle Klagen
nicht mehr durchgängig in angemessener Frist erledigt werden können.
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