Urteil des SozG Duisburg vom 20.03.2006

SozG Duisburg: elterliche sorge, fahrtkosten, erlass, höchstpersönliches recht, umwelt, abholung, aufenthalt, darlehen, aufrechnung, ermessensausübung

Sozialgericht Duisburg, S 2 (27) AS 97/05
Datum:
20.03.2006
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 2 (27) AS 97/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 7b AS 14/06 R
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung und Abänderung des
Bescheides vom 02.11.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10.03.2005 unter Einbeziehung der nachfolgenden Bescheide
verurteilt, dem Kläger über die bewilligten Leistungen hinaus die Kosten
für die 14-tägigen Besuchswochenenden sowie die Kosten für
entsprechende Ferienaufenthalte seiner Töchter durch Übernahme der
Fahrtkosten in Höhe von jeweils 58,00 Euro pro Besuchswochenende
sowie 29,00 Euro für jede Abholung der Kinder durch den Kläger und
die nachfolgende Rückfahrt von drei Personen sowie durch Übernahme
der Kosten in Höhe von 70 vH des jeweils geltenden Satzes nach § 3
Abs 2 der Regelsatzverordnung, bezogen auf den Tag pro Kind, für den
Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.03.2006 zu gewähren. Die Beklagte
trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach. Die
Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt die Anerkennung eines zusätzlichen, über die Regelleistung
hinausgehenden Bedarfs im Hinblick auf die mit der Ausübung des Umgangsrechts
verbundenen Kosten.
2
Der am 24.03.1963 geborene Kläger ist seit 1998 geschieden und lebt zur Zeit alleine.
Aus der Ehe sind zwei Töchter hervorgegangen, die am 14.11.1990 und am 16.05.1992
geboren sind. Die geschiedene Ehefrau des Klägers hat das alleinige Sorgerecht; sie
erhält für die Töchter keine Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII. Die Kinder leben
bei ihrer Mutter in R., der Kläger in D.-A ... Unstreitig hat die jüngere Tochter den Kläger
im Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.03.2006 alle 14 Tage an den Wochenenden
besucht. Die ältere Tochter hat in dem genannten Zeitraum den Kläger einmal im
Vierteljahr besucht und das Wochenende bei ihm verbracht. Diese
Besuchswochenenden erstreckten sich jeweils über zwei Tage. Darüber hinaus hat die
ältere Tochter im Jahr 2005 Weihnachten drei Tage beim Kläger verbracht; die jüngere
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Tochter hat in den Oster- und Herbstferien jeweils sieben volle Tage ihren Vater besucht
und darüber hinaus 14 Tage in den Sommerferien bei ihm gewohnt. In den
Weihnachtsferien 2005 hat sie noch einmal fünf Tage beim Kläger verbracht. Soweit in
diesen Ferien Wochenenden gewesen sind, ist der entsprechende Wochenendbesuch
entfallen. Daher ist im Hinblick auf die Sommerferien von einem verlorenen
Besuchswochenende auszugehen. Die Fahrtkosten belaufen sich für eine Hinfahrt
durch den Kläger mit anschließender Rückfahrt mit den Töchtern auf 29,00 Euro, so
dass für ein Besuchswochenende, das die Anreise des Klägers von D. nach R., die
Rückreise mit den Töchtern, die sonntägliche Fahrt des Klägers mit den Töchtern von D.
nach R. und die anschließende Rückfahrt durch den Kläger alleine, Kosten in einem
Umfang von 58,00 Euro anfallen. Diese Beträge gelten ausweislich einer von der
Kammervorsitzenden eingeholten Auskunft des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr - VRR -
sowie der Deutschen Bahn AG für ein "Guten-Tag-Ticket" und stellen den günstigsten
Fahrtpreis für diese Strecke in der fraglichen Personenkombination dar.
Am 14.09.2004 beantragte der Kläger die Gewährung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II einschließlich der Übernahme der Kosten der
Ausübung des Umgangsrechts.
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Mit Bescheid vom 02.11.2004 bewilligte die Beklagte Leistungen nach dem SGB II für
die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2005 in Höhe von 753,90 Euro monatlich. Hierin war die
Regelleistung für einen Haushaltsvorstand in Höhe von 345,00 Euro sowie 408,90 Euro
an Kosten der Unterkunft und Heizung, was den tatsächlichen Aufwendungen des
Klägers entspricht, enthalten. Zusätzliche Leistungen für die Ausübung des
Umgangsrechts wurden nicht bewilligt.
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Hiergegen legte der Kläger fristgerecht Widerspruch mit der Begründung ein, seine
Töchter würden ihn regelmäßig alle 14 Tage besuchen, so dass die
Bedarfsgemeinschaft sich um ein bis zwei Personen erweitern würde. Auch würden
Kosten für die Abholung mit dem Pkw einschließlich einer Fahrerin anfallen. Ferner
würden Aufenthalte während der halben Ferienzeiten erfolgen. Nach § 1684
Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - sei er zur Ausübung des Umgangsrechts verpflichtet,
was ihm aber aufgrund der niedrigen Leistungen nach dem SGB II nicht möglich sei.
Unabhängig davon stelle eine solche Regelung einen Verstoß gegen Artikel 1
Grundgesetz - GG - dar.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Zur weiteren Begründung teilte sie mit, die Töchter würden nicht zur
Bedarfsgemeinschaft zählen, da sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht beim Kläger
hätten. Soweit Fahrtkosten geltend gemacht worden seien, würden diese unter dem
Begriff der Beziehungen zur Umwelt fallen und wären daher von der Regelleistung
umfaßt. Eine Anspruchsgrundlage für die begehrten Leistungen bestünde nach dem
SGB II nicht.
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Der Kläger hat fristgerecht die vorliegende Klage erhoben.
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Er ist der Auffassung, ein entsprechender Anspruch sei unabhängig von der rechtlichen
Einordnung auf jeden Fall gegeben. Dabei sei allerdings umstritten, auf welcher
rechtlichen Basis der Anspruch beruhe. Zum einen werde der Vorschlag gemacht, direkt
aus § 20 SGB II den Anspruch zu entnehmen. Eine andere Möglichkeit wäre, einen
Anspruch aus § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II herzuleiten. Dies hätte jedoch den Nachteil,
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dass dies mit einer darlehensweisen Bewilligung verbunden wäre. Es würde sich dann
weiter die Frage stellen, ob seitens des Leistungsträgers eine Verpflichtung bestünde,
auf die Darlehensrückzahlung ggfls über § 44 SGB II zu verzichten. Schließlich werde
die Auffassung vertreten, dass § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II entsprechend anzuwenden sei,
nämlich unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei den Fahrtkosten nicht um Leistungen
handele, die von den Regelleistungen umfaßt seien. Daher könne nur eine
entsprechende Anwendung erfolgen. Bei einer entsprechenden Anwendung wäre es
dann möglicherweise auch leichter, die Bewilligung als Zuschuss und nicht als
Darlehen vorzunehmen. Schließlich werde auch die Auffassung vertreten, § 28 Abs 1
Satz 2 SGB XII analog anzuwenden mit der Begründung, dass eine solche Bestimmung
eigentlich auch ins SGB II hinein gehört hätte, diese vergessen worden und daher diese
Vorschrift analog anzuwenden sei. Jedenfalls handele es sich um eine planwidrige
Regelungslücke. Es handele sich um einen grundrechtlich geschützten Anspruch, so
dass es Aufgabe der Rechtsprechung sei, die Lücke zu schließen.
Für die Zeit ab 01.04.2005 hat die Beklagte dem Kläger mit mehreren Bescheiden
abschnittsweise weiterhin Leistungen nach dem SGB II in Höhe der Regelleistung von
345,- Euro sowie den tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung bewilligt. Die
Bescheide sind gemäß § 99 Abs. 1 SGG durch übereinstimmenden Willen der
Beteiligten Gegenstand des Verfahrens geworden.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter teilweiser Aufhebung und Abänderung des Bescheides vom
02.11.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2005 unter
Einbeziehung der nachfolgenden Bescheide zu verurteilen, dem Kläger über die
bewilligten Leistungen hinaus die Kosten für die 14-tägigen Besuchswochenenden
sowie die Kosten für entsprechende Ferienaufenthalte seiner Töchter durch Übernahme
der Fahrtkosten in Höhe von 58,00 Euro pro Wochenende bzw 29,00 Euro für jede
Abholung der Kinder durch den Kläger und die Rückfahrt von drei Personen sowie
durch Übernahme von Kosten von 70 vH des jeweils geltenden Satzes nach § 3 Abs 2
der Regelsatzverordnung, bezogen auf den Tag pro Kind, für den Zeitraum vom
01.01.2005 bis 31.03.2006 zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, das SGB II regele den Leistungsumfang zur Sicherung des
Lebensunterhalts abschließend in den §§ 20, 21, 22, 23 und 28. Es sei keine eigene
spezialgesetzliche Regelung für die Übernahme eines Bedarfs für die Umgangskosten
mit den Kindern enthalten. Eine Öffnungsklausel, die eine abweichende
Bedarfsregelung ermöglichen würde, sei nur in § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII, nicht jedoch
im SGB II, enthalten und für Leistungsberechtigte nach dem SGB II gemäß § 5 Abs 2
Satz 1 SGB II und § 21 Satz 1 SGB XII auch nicht anwendbar. Soweit der Kläger auch
Leistungen zum Lebensunterhalt für die Tage des Aufenthaltes der Kinder bei ihm
geltend mache, sei dieser Anspruch zurückzuweisen. Die Kinder hätten während der
Aufenthaltstage beim Kläger keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 7 SGB II
bei ihm. Daher bestehe kein anteiliger Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 SGB II. Die
Fahrtkosten könnten nicht zweifelsfrei in eine der genannten Vorschriften eingeordnet
werden. Zwar wäre den bisher bekannten vorläufigen Entscheidungen im einstweiligen
15
Rechtsschutzverfahren gemein, das diese das Umgangsrecht ebenso wie die elterliche
Sorge des anderen Elternteils unter den Schutz des Artikel 6 Abs 2 GG stellten und
durchweg die Notwendigkeit der Kostenübernahme bejahen würden. Uneinheitlich sei
jedoch die Frage der rechtlichen Einordnung. Auch die Beklagte gehe von einer nicht
gewollten planwidrigen Regelungslücke aus.
Der Kläger hat zunächst neben der hiesigen Klage am 18.03.2005 unter dem
Aktenzeichen S 7 AS 73/05 ER einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gestellt und die vorläufige Übernahme der Kosten der Ausübung des Umgangsrechts
beantragt. Diesen Antrag hat das Gericht mit Beschluss vom 22.03.2005 abgelehnt. Zur
Begründung hat es mitgeteilt, nach der vorgetragenen Sachlage und der gebotenen
summarischen Überprüfung erscheine ein Erfolg in der Hauptsache zwar möglich,
letztlich könne aber die Frage, ob der Antragsteller einen Anordnungsanspruch habe,
dahingestellt bleiben, da er die Voraussetzung eines Anordnungsgrundes - also die
besondere Eilbedürftigkeit, die ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht
zumutbar mache - nicht glaubhaft gemacht habe. Die hiergegen eingelegte Beschwerde
ist durch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - LSG NW - durch Beschluss
vom 17.05.2005 zurückgewiesen worden. Ergänzend hat das LSG NW hierin mitgeteilt,
der Antragsteller müsse zur Frage der Eilbedürftigkeit glaubhaft machen, dass jedenfalls
ein Treffen aus den beschriebenen Gründen ausgefallen sei, und dass
Wiederholungsgefahr drohe. Dabei gehe der Senat mit dem Antragsteller allerdings
davon aus, dass das gerichtlich festgelegte Umgangsrecht mit seinen Töchtern nicht
allein daran scheitern dürfe, dass der Regelsatz nach § 20 SGB II trotz aller
Anstrengungen nicht ausreiche. Einen zweiten, am 08.06.2005 gestellten Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung, der ebenfalls auf die vorläufige Bewilligung der
Kosten der Ausübung des Umgangsrechts mit seinen Kindern gerichtet gewesen ist, ist
durch das Sozialgericht Duisburg unter dem Az.: S 27 AS 233/05 ER, zumindest
teilweise, entsprochen worden. Das Gericht hat hierin die Verpflichtung der Beklagten
ausgesprochen, dem Kläger vorläufig und darlehensweise die Kosten für ein
Besuchswochenende monatlich durch Übernahme der Fahrtkosten für das
kostengünstigste öffentliche Verkehrsmittel sowie durch Übernahme von Kosten in
Höhe von 4,50 Euro pro Besuchstag und Kind zu zahlen. Darüber hinaus ist die
Beklagte verpflichtet worden, entsprechende Beträge für den geplanten Ferienaufenthalt
der Kinder vorläufig und darlehensweise zu zahlen. Zur Begründung hat das Gericht
ausgeführt, das Umgangsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils stehe ebenso wie
die elterliche Sorge des anderen Elternteils unter dem Schutz des Artikels 6 Abs 2 GG.
Dabei lasse es das Gericht im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
ausdrücklich offen, ob § 23 SGB II Anwendung finde oder die Kosten für die Ausübung
des Umgangsrechtes als Mehrbedarf zu sehen seien, der bei entsprechender
Anwendung des § 21 SGB XII zu erstatten sei. Im Ergebnis bestehe nämlich unter
Berücksichtigung von Artikel 6 Abs 2 GG grundsätzlich ein Kostenübernahmeanspruch.
Da der Kläger nun auch glaubhaft vorgetragen habe, dass aufgrund seiner finanziellen
Situation seit Januar 2005 nur ein monatlicher Besuch möglich gewesen sei, gehe das
Gericht im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung davon aus, dass
lediglich für das zweite monatliche Besuchswochenende sowie für die
Ferienaufenthalte eine einstweilige Regelung erforderlich sei, um schwere und
unzumutbare Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Hinsichtlich des Betrages
von 4,50 Euro pro Besuchstag und Kind hat das Gericht ausgeführt, dass sich dieser
Betrag für die An- und Abfahrtstage halbiere. Dieser Betrag ergebe sich zum einen aus
dem für das Jahr 2002 geltenden Eckregelsatz unter der Geltung des BSHG von
monatlich 136,00 Euro, zum anderen entspreche er ungefähr 60 % des Sozialgeldes für
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nicht erwerbsfähige Angehörige bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres nach § 28
SGB II, dies unter der Annahme, dass in der Regelleistung ca 38 % für Nahrung und
Getränke, ca 8 % für Wohnnebenkosten, ca 4 % für die Gesundheitspflege sowie 11 %
für Freizeit und Kultur enthalten seien. Unter Berücksichtigung von 60 % von 207,00
Euro ergebe sich ein monatlicher notwendiger Bedarf für die Kinder von 124,30 Euro,
der einem täglichen Bedarf in Höhe von 4,14 Euro entspreche. Um nicht unter dem
Eckregelsatz aus dem Jahr 2002 zu bleiben, halte das Gericht einen Betrag in Höhe von
4,50 Euro für angemessen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verwaltungsakte der Beklagten sowie den Inhalt der Prozessakten des Gerichts,
einschließlich der Verfahrensakten S 27 As 73/05 ER sowie S 27 AS 233/05 ER, die
vorgelegen haben und ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom
02.11.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2005 sowie die
nachfolgenden Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen
Rechten im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -. Dies gilt insoweit, als
durch die Bescheide dem Kläger keine Kosten für die Ausführung seines
Umgangsrechts gewährt worden sind.
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Dabei verkennt die Kammer nicht, dass sich eine entsprechende Anspruchsgrundlage
zu Gunsten des Klägers nicht unmittelbar aus dem SGB II oder anderen Vorschriften
herleiten lässt. Allerdings hat der Kläger einen Anspruch im Rahmen einer
entsprechenden Anwendung des § 20 SGB II, der unter Heranziehung des
Rechtsgedankens des § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII verfassungskonform auszulegen ist.
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Gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II umfasst die Regelleistung zur Sicherung des
Lebensunterhaltes insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarfe
des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und
eine Teilnahme am kulturellen Leben. Dabei sind unter den Begriff der Beziehungen zur
Umwelt die sozialen Außenkontakte der Hilfeempfänger gemeint. Die Grundfunktion
derartiger Hilfen ist in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, über den Regelsatz
dem Hilfesuchenden Mittel zu bewilligen, mittels derer er seine private Lebenssphäre
gestalten kann (Begründung zum Regierungsentwurf des BSHG, BT-Drucks 3/1799,
Seite 40). In Abgrenzung hierzu stellt die Ausübung des Umgangsrechts durch den nicht
sorgeberechtigten Elternteil ein persönliches Grundbedürfnis seines täglichen Lebens
dar. Hierbei handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht, das wegen der engen
persönlich-familiären Bindungen zwischen Eltern und Kind nicht in den Bereich der
"Beziehungen zur Umwelt" fällt (BVerwG, Urteil vom 22.08.1995, Az.: 5 C 15/94 mit
weiteren Nachweisen auf Literatur und Rechtsprechung). Die Kosten für die Ausübung
des Umgangsrechts sind auch nicht deshalb durch die Regelleistung abgedeckt, weil §
20 Abs. 1 SGB II durch die Formulierung, dass diese "insbesondere" die näher
aufgeführten Bereiche umfasse. Die durch § 20 SGB II gewährten Regelleistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts sind pauschalierte Beträge, die sich am Regelbedarf
der meisten Hilfeempfänger orientieren und unter Zugrundelegung dieses Bedarfes
festgesetzt worden sind. Demzufolge ist der konkrete Bedarf von Hilfeempfängern, der
aus einer atypischen Lebenssituation resultiert, von den Regelleistungen nicht umfasst.
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Bei den Kosten des Umgangsrechts handelt es sich um übliche Kosten, die bei nicht
sorgeberechtigten, von ihren Kindern getrennt lebenden Elternteilen anfallen. Bei
diesen Kosten handelt es sich deshalb um einen besonderen Bedarf, der nicht bei allen
Hilfeempfängern gleichermaßen anfällt. Auch unterscheidet sich dieser konkrete Bedarf
von Fall zu Fall abhängig von der Häufigkeit der Ausübung des Umgangsrechtes und
der Entfernung zwischen dem nicht sorgeberechtigten Elternteil und den Kindern sowie
im Hinblick auf die Kosten der Verpflegung und sonstigen Kosten der Versorgung auch
durch die Anzahl der Kinder und die Dauer der einzelnen Aufenthalte. Ein Anspruch auf
Übernahme der Fahrt- und Übernachtungskosten ergibt sich damit nicht direkt aus § 20
SGB II.
Nach Auffassung der Kammer ist die Regelung des § 20 SGB II jedoch analog
anzuwenden unter der Annahme einer planwidrigen Regelungslücke. Dabei lässt sich
die Kammer von dem Gedanken leiten, dass es sich bei der Ausübung des
Umgangsrechts nach wohl einhelliger Rechtsprechung um einen verfassungsrechtlich
anerkannten notwendigen Bedarf zum Lebensunterhalt handelt, der unter dem Schutz
des Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG fällt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.08.1995, Az.: 5 C 15/94
mit weiteren Nachweisen; BVerfG, NJW 1995, 1342 ff.; NJW 2002, S. 1863 ff). Dabei ist
dieser Anspruch von Verfassungsrang und damit die Wahrnehmung und Ausübung des
Umgangsrechts durch den Gesetzgeber zu gewährleisten. Dies gilt auch für Leistungen
nach dem SGB II. Diesen Überlegungen Rechnung tragend ließ § 22 Abs. 1 S. 2 BSHG
eine abweichende Bemessung von Regelsätzen zu, soweit dies nach den
Besonderheiten des Einzelfalles geboten war. Auch § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII
bestimmt, dass die Bedarfe abweichend festgelegt werden, wenn im Einzelfall ein
Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach
erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Demzufolge werden für die
Zeit ab 01.01.2005 für Leistungsbezieher nach dem SGB XII die Kosten für die
Ausübung des Umgangsrechts über diese sogenannte Öffnungsklause des § 28 Abs. 1
Satz 2 SGB XII erstattet, die die Gewährung eines höheren Regelbedarfs vorsieht und
ermöglicht. Hieraus ergibt sich nach Auffassung der Kammer zugleich, dass die
Ausübung des Umgangsrechts grundsätzlich zu den Bedarfen zählt, die über die
Regelleistung abzudecken sind. Eine entsprechende Regelung, die eine Festsetzung
einer höheren Regelleistung bei einem entsprechenden bestehenden Bedarf für
Bezieher von Leistungen nach dem SGB II zulässt, fehlt allerdings im SGB II. Dabei ist
ein sachlicher Grund für eine Schlechterstellung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen
nicht erkennbar. Da es sich aber bei der Ausübung des Umgangsrechts um einen durch
die Verfassung geschützten Anspruch handelt, bedarf es insoweit einer
verfassungskonformen Auslegung des SGB II, da ansonsten nur der Schluss bliebe,
dass die fraglichen Regelungen verfassungswidrig jedenfalls insoweit sind, als ein
Anspruch auf Erstattung der Kosten des Umgangsrechts ausgeschlossen ist.
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Soweit in der zu dieser Frage bislang vorliegenden Rechtsprechung wohl überwiegend
die Auffassung vertreten wird, die dargestellte Lücke könnte durch eine entsprechende
Anwendung des § 23 Abs. 1 SGB II auf solche Leistungen, die nicht unmittelbar von §
20 Abs. 2 SGB II erfasst sind, geschlossen werden (so wohl auch LSG NW, Beschluss
vom 12.05.2005, Az.: L 12 B 9/05 AS ER; SG Schleswig, Beschluss vom 09.03.2005,
Az.: S 2 AS 52/05 ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.03.2006, Az.: L
7 AS 363/05 ER), vermag sich die Kammer dieser Auffassung im Ergebnis nicht
anzuschließen, da § 23 Abs. 1 SGB II nur eine darlehensweise Gewährung zulässt.
Danach erbringt die Agentur für Arbeit einen Bedarf als Sachleistung oder als
Geldleistung und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen, wenn im
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Einzelfall ein von der Regelleistung umfasster, nach den Umständen unabweisbarer
Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs.
2 Nr. 4 noch auf andere Weise gedeckt werden kann. Hintergrund der Regelung ist
dabei, dass aufgrund des weitgehenden Wegfalls einmaliger Leistungen und der damit
verbundenen weitreichenden Abdeckung aller Bedarfe der Hilfe zum Lebensunterhalt
durch die Regelleistung nach Ansicht des Gesetzgebers die Situation entstehen kann,
dass ein notwendiger Bedarf tatsächlich nicht gedeckt werden kann. Ein solcher Fall
soll nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nur in engen Ausnahmekonstellationen
in Betracht zu ziehen sein, etwa wenn mehrere größere Anschaffungen erforderlich sind
und eine Neubeschaffung mangels ausreichender Ansparungen nicht möglich ist (vgl.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einordnung des Sozialhilferechts in das
Sozialgesetzbuch, BR-Drucks 559/03, Seite 196 zu § 38 SGB XII). Sowohl aus dem
Wortlaut des § 23 SGB II als auch aus der Intension des Gesetzgebers ergibt sich nach
Auffassung der Kammer, dass § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II jedenfalls nicht in den Fällen
Anwendung finden kann, in denen die Regelleistung aufgrund eines erhöhten
regelmässigen Bedarfes Monat für Monat nicht ausreichend ist, um das entsprechende
Existenzminimum des Hilfebedürftigen zu decken. In diesen Fällen stellt sich dann auch
die darlehensweise Gewährung als in keinerweise sachgerecht dar, da der
Darlehensbetrag schneller wüchse als dem Hilfebedürftigen aus seiner Regelleistung
eine Rückzahlung möglich wäre. Dies würde bereits nach wenigen Monaten zu einer
beträchtlichen Verschuldung des Hilfeempfängers führen, die er nur schwerlich aus
seiner Regelleistung begleichen könnte. Gegen diese Lösung spricht auch die
Formulierung, dass "im Einzelfall" ein Bedarf ganz oder teilweise nicht gedeckt ist. Denn
bei den nicht sorgeberechtigten Elternteilen, die ihr Umgangsrecht ausüben, besteht
dieser erhöhte Bedarf nicht im Einzelfall, sondern regelmäßig.
Über die Problematik der darlehensweisen Gewährung unter Anwendung des § 23 Abs.
1 SGB II und der hieraus faktisch resultierenden Schuldenspirale hilft nach Auffassung
der Kammer auch nicht die von Teilen der Rechtsprechung in Fortführung dieses
Gedankens entwickelte Lösung über § 44 SGB II hinweg. Danach dürfen Träger von
Leistungen nach dem SGB II Ansprüche erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage
des einzelnen Falles unbillig wäre. Bei dem Erlass handelt es sich im Gegensatz zur
Niederschlagung nicht um einen rein innerdienstlichen Akt, sondern um einen
Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X, der entweder von Amts wegen oder auf
Antrag ergeht und durch den die Schuld erlischt (vgl. hierzu Eicher/Spellbrink, § 44
Rdnr. 6 mit weiteren Nachweisen auf die Rechtsprechung zur Niederschlagung und
zum Erlass). Daher kann der Leistungsempfänger bei Ablehnung eines Erlasses gegen
diesen Verwaltungsakt Widerspruch einlegen und danach mit einer Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage bei den Sozialgerichten gegen die Entscheidung vorgehen. Dies
würde nach Auffassung des Gerichts vor dem Hintergrund der Vielzahl der
Leistungsträger nach dem SGB II und dem im Bereich der Ermessensentscheidungen
bestehenden Gebots der gleichmäßigen Ermessensausübung sowohl auf Seiten der
Leistungsträger als auch auf Seiten der Gerichte zu erheblichen Problemen führen. Zum
einen wäre nicht gewährleistet, dass in dieser für die Leistungsempfänger
entscheidenden Frage bundesweit eine einheitliche Verwaltungspraxis zur Anwendung
gelangen würde. Darüber hinaus wären sowohl die Leistungsträger als auch die
Gerichte gezwungen, die Einheitlichkeit der Entscheidungen jedes einzelnen
Leistungsträgers zu überprüfen und festzustellen. Dem Grunde nach wären also in
jedem einzelnen Fall zwei Verfahren möglich, wobei eine Vielzahl von Entscheidungen
über den Erlass nach § 44 SGB II denkbar wären. So könnte der Erlass ganz oder auch
nur teilweise oder aber erst nach einer gewissen Zeitspanne der Ausübung des
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Umgangsrechtes erfolgen. Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird,
dass die Kosten für die Ausübung des Umgangsrechts nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB II
vom Leistungsträger zu übernehmen sind, wird demzufolge die Auffassung vertreten,
dass wenn diese Leistungen für längere Zeit - z.B. für mehr als ein Jahr - aufzubringen
sind, zu prüfen sei, ob im Wege der Ermessensausübung von einer Aufrechnung nach
Ablauf z.B. eines Jahres abzusehen sei, weil im Wege einer verfassungskonformen
Auslegung unter Berücksichtigung der Regelung in § 37 Abs. 2 SGB XII und § 44 SGB II
dazu Anlass bestehen könnte (so ausdrücklich: LSG Niedersachen/Bremen, Beschluss
vom 28.04.2005, Az.: L 8 AS 57/05 ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 11.08.2005, Az.:
S 30 AS 328/05 ER). Damit aber wird die verfassungsrechtliche Problematik erkennbar
nicht gelöst, sondern letztlich auf die Verfahren des Erlasses nach § 44 SGB II verlagert.
Auch ist das erkennende Gericht nicht der Auffassung, dass hierdurch befriedigende
Lösungen erreicht werden. Überträgt man nämlich diese Rechtsprechung einmal
exemplarisch auf den vorliegenden Fall und berücksichtigt allein die Fahrtkosten für die
14-tägigen Besuche der Töchter beim Kläger, so ergibt sich im Laufe eines Jahres ein
Betrag von 1.450,- Euro alleine an Fahrtkosten unter Annahme von 25
Besuchswochenenden im Jahr. Berücksichtigt man nun ferner rechnerisch, dass gemäß
§ 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II das Darlehen durch monatliche Aufrechnung in Höhe von bis
zu 10 v.H. der an den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und die mit ihm in
Bedarfsgemeinschaft lebenden Angehörigen jeweils zu zahlende Regelleistung getilgt
werden soll, so würde der Kläger alleine 42 Monate oder 3 ½ Jahre allein für die Tilgung
der Fahrtkosten eines knappen Jahres benötigen. Sonstige Kosten, die mit dem
Aufenthalt der Kinder beim Kläger verbunden sind, wären hiervon noch nicht umfasst.
Eine derartig lange Einbehaltung von 10 v.H. der Regelleistung würde beim Kläger
zwangsläufig zu einer Bedarfsunterdeckung an anderen Stellen führen. So dürfte ihm in
diesem Zeitraum die Bildung ausreichender Rücklagen für die Anschaffung von
Haushaltsgegenständen oder witterungsgemäßer Bekleidung nicht oder in nicht
ausreichendem Maße möglich sein.
Soweit vereinzelt die Auffassung vertreten wird, Leistungsempfänger nach dem SGB II
könnten die Kosten der Ausübung des Umgangsrechts nach § 73 SGB XII als
ergänzende Leistungen erhalten, weil bei der Annahme einer sonstigen Lebenslage der
Vorrang des SGB II vor dem SGB XII nicht gelte, vermag sich die Kammer auch dieser
Auffassung nicht anzuschliessen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Kosten des
Umgangsrechts vom Regelbedarf nach § 28 umfasst werden und deshalb keine
sonstige Lebenslage im Sinne des § 73 SGB XII vorliegen kann.
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Ist also zur Schliessung der Regelungslücke eine Anwendung des Rechtsgedankens
des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII im Rahmen des § 20 SGB II vorzunehmen, so ist ein
Anspruch auf eine höhere Regelleistung gegeben, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz
oder teilweise seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf
abweicht. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Bedarf des Klägers
hinsichtlich der Kosten für die Ausübung des Umgangsrechts mit seinen Töchtern liegt
seiner Höhe nach erheblich über dem durchschnittlichen Bedarf und ist auch
unabweisbar. Unabweisbar ist ein Bedarf, wenn er in zeitlicher Hinsicht nicht
aufgeschoben werden und inhaltlich nicht auf anderweitige Weise gedeckt werden kann
(LSG Thüringen, Beschluss vom 15.06.2005, Az.: L 7 AS 261/05 ER). Die Ausübung
des Umgangsrechts duldet keinen zeitlichen Aufschub, da die Eltern-Kind-Beziehung
von der Kontinuität geprägt ist und von dieser lebt. Eine Unterbrechung durch
Versäumung von Besuchswochenenden ist nicht aufholbar. Auch sind die Kosten
alleine für die Hin- und Rückfahrt in Höhe von regelmässig 118,- Euro in vier Wochen
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derart hoch, dass der Kläger auch nicht durch eine Mittelumschichtigung innerhalt der
Regelleistung diese auffangen könnte. Darüber hinaus fallen dem Antragsteller die
sonstigen Kosten für die Verpflegung seiner Töchter und die sonstigen
Lebenshaltungskosten zu Last. Hinsichtlich dieser Kosten ist die Kammer in
Abweichung zu dem Beschluss des SG Duisburg vom 11.07.2005 von einem Umfang
von 70 v.H. des jeweils geltenden Satzes nach § 3 Abs. 2 der Regelsatzverordnung pro
Tag und Kind ausgegangen. Danach setzen sich die Regelsätze zu 38% aus den
Kosten für Nahrung und Getränken, aus 8% aus den Kosten für Strom, aus 4% an
Kosten der Gesundheitspflege, aus 6% an Kosten für den Verkehr, aus 11% an Kosten
für Kultur und Freizeit und aus 3% Kosten für Beherbergungs- und Gaststättenbetriebe
zusammen. Die Kammer geht insoweit davon aus, dass die aufgezählten Kostenpunkte
insoweit auch bei den Besuchen der Töchter des Klägers anfallen und zu gewähren
sind. Auch insoweit ist es dem Kläger nicht möglich, diese Kosten über seine
Regelleistung zu finanzieren. Die Regelleistung deckt insoweit ausschliesslich das
Existenzminimum des Klägers und erlaubt es nicht, weitere Personen hiervon
entsprechend zu versorgen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Vorliegend war gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 die
Sprungrevision aufgrund des übereinstimmenden Antrags der Beteiligten zuzulassen,
da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
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