Urteil des SozG Duisburg vom 16.03.2006

SozG Duisburg: örtliche zuständigkeit, sozialhilfe, form, sachliche zuständigkeit, wechsel, erlass, umzug, behinderung, aufenthalt, mietwohnung

Sozialgericht Duisburg, S 10 SO 6/06 ER
Datum:
16.03.2006
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 10 SO 6/06 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 01.02.
2006 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens Leistungen der
Eingliederungshilfe in Gestalt von Hilfen zu selbst bestimmtem Leben in
betreuten Wohnmöglichkeiten in den im Rahmen des individuellen
Hilfeplanes vom 21.12.2005 beantragten Umfang zu gewähren. Die
Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
1
I.
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Die am 24.09.1962 geborene Antragstellerin leidet an einer Persönlichkeitsstörung und
einer Angststörung und lebte bis Juli 2005 in einer Mietwohnung in H ...
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Die Antragsgegnerin bewilligte aufgrund der psychiatrischen Erkrankung der
Antragstellerin bis zum 14.07.2004 neben laufender Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe
zur Weiterführung des Haushaltes Leistungen in Gestalt der Übernahme der Kosten von
häuslicher fachpsychiatrischer Krankenpflege. Für die Zeit ab dem 15.07.2004 gewährte
die Antragsgegnerin Leistungen der Eingliederungshilfe in Gestalt von
personenbezogenen Leistungen für psychisch kranke Menschen. Die Bewilligung
erfolgte jeweils für 6 Monate, zuletzt mit Bescheid vom 01.07.2005 für den Zeitraum vom
01.08.2005 bis zum 31.01.2006 im Umfang von 4 Stunden pro Woche individueller
Betreuung nach § 54 SGB XII. In dem der Leistung zugrunde liegenden Sozialbericht
wird ausgeführt, dass sich die Antragstellerin mit Hilfe der ambulanten Betreuung die
Möglichkeit erhoffe, eine freie und selbstständige Haushalts- und Lebensführung zu
erlangen sowie für sich eine positive Lebensperspektive mit ihren Erkrankungen
erarbeiten zu können. Dem Entwicklungsbericht vom 10.06.2005 ist zu entnehmen, dass
die Antragstellerin nach der von ihrem Partner vollzogenen Trennung und einem
kurzzeitigen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik zu dem Entschluss
gekommen sei, ihr Leben neu zu ordnen durch einen Umzug nach D. in die Nähe ihrer
Kinder und Enkelkinder.
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Die Antragstellerin zog Ende Juli 2005 mit ihrem Lebensgefährten nach D. in eine
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Mietwohnung um. Sie wurde seitdem durch das Betreute Wohnen der Psychiatrischen
Hilfsgemeinschaft D. gGmbH betreut. Mit Schreiben vom 08.08.2005 wandte sich die
Psychiatrische Hilfsgemeinschaft D. gGmbH an die Antragsgegnerin und beantragte für
die Antragstellerin die Übernahme der Kosten für 4 Fachleistungsstunden im Rahmen
der bereits bewilligten personenbezogenen Leistungen für psychisch Kranke.
Gleichzeitig wurde vorgeschlagen, für die Zeit nach Ablauf der bewilligten Leistungen
einen neuen Hilfeplan im Rahmen einer Hilfeplankonferenz zu erarbeiten, in der der
Landschaftsverband Rheinland als überörtlicher Träger der Sozialhilfe vertreten sei.
Mit Bescheid vom 14.12.2005 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme von Kosten
für ambulant betreutes Wohnen mit der Begründung ab, sie sei insoweit nicht der örtlich
zuständige Leistungsträger. Vielmehr sei der Sozialhilfeträger örtlich zuständig, in
dessen Bereich sich die Antragstellerin tatsächlich aufhalte. Die Zuständigkeitsregelung
des § 98 Abs. 5 SGB XII gelte nur für den Fall, dass dem Eintritt in die ambulant betreute
Wohnform ein vollstationärer Aufenthalt vorausgegangen sei. Nur in diesem Fall solle
nach § 98 Abs. 5 SGB XII der vorher zuständige Sozialhilfeträger örtlich zuständig
bleiben, da durch diese Vorschrift bewirkt werden solle, dass sich der bisher zuständige
Sozialhilfeträger nicht durch einen Wechsel in eine ambulante betreute Wohnform
seiner Leistungspflicht entziehe. Gleichzeitig wurde der Antragstellerin empfohlen, sich
unter Vorlage dieses Bescheides erneut an den örtlich zuständigen Sozialhilfeträger zu
wenden. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 10.01.2006 Widerspruch.
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Mit Bescheid vom 19.01.2006 lehnte auch der Landschaftsverband Rheinland die
Übernahme der Kosten für das Betreute Wohnen ab dem 01.02.2006 ab. In der
Begründung wurde ausgeführt, die Antragsgegnerin sei die örtlich zuständige
Leistungsträgerin, da sie zuvor bereits personenbezogene Leistungen für psychisch
kranke Menschen gewährt habe. Insoweit handele es sich um Leistungen, die den
Leistungen zum Betreuten Wohnen sehr ähnlich seien und ebenfalls eine ambulante
Leistung darstellen würden. § 98 Abs. 5 SGB XII enthalte eine Sonderregelung
hinsichtlich der Zuständigkeit für das Betreute Wohnen, wonach der Träger örtlich
zuständig sei, der bereits zuvor für eine Hilfe in Form ambulanter betreuter
Wohnmöglichkeit zuständig war.
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Am 23.01.2006 hat die Antragstellerin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung gestellt und zur Begründung ausgeführt, die Antragsgegnerin sei nach § 98
Abs. 5 SGB XII für die Übernahme der Kosten für das Betreute Wohnen zuständig und
der örtliche Leistungsanbieter habe angekündigt, die Hilfen für die Antragstellerin mit
Ablauf des Monates Januar 2006 einzustellen.
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Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten
für personenbezogene Leistungen für psychisch kranke Menschen/Einzelbetreutes
Wohnen nach § 54 SGB XII entsprechend ihres Bescheides vom 01.07.2005 und
darüber hinaus zu übernehmen.
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Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
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den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, weder bei den von ihr bewilligten personenbezogenen
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Leistungen für psychisch kranke Menschen noch bei den von der Psychiatrischen
Hilfsgemeinschaft D. gGmbH erbrachten Leistungen handele es sich um Leistungen des
ambulanten betreuten Wohnens, so dass sich die örtliche Zuständigkeit nicht aus § 98
Abs. 5 SGB XII, sondern aus der allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 98 Abs. 1
SGB XII ergebe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen
Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin
verwiesen.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für
den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Bestehen eines
Anordnungsanspruches, d.h. des materiell-rechtlichen Leistungsanspruches, sowie das
Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. der Eilbedürftigkeit der Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile und die damit verbundene Unzumutbarkeit, die
Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat
die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen
Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 SGB XII in Verbindung
mit § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6 SGB IX. Danach erhalten Personen, die durch eine
Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an
der Gesellschaft teilzuhaben eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen
Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach
der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der
Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden
kann. Der zuständige Sozialhilfeträger hat Leistungen zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft zu erbringen, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von
Pflege machen (§ 55 Abs. 1 SGB IX). Leistungen nach Abs. 1 sind insbesondere Hilfen
zu selbst bestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten (§ 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB
IX).
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Soweit die Antragsgegnerin die Auffassung vertreten hat, bei den von der
Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft D. gGmbH erbrachten Leistungen handele es sich
nicht um Hilfen im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX, da die Antragstellerin die
Leistungen nicht im Rahmen einer betreuten Wohnmöglichkeit wie z. B. einer
sozialtherapeutischen Wohngruppe erhalte, kann dem nicht gefolgt werden.
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Bei dem Wohnen in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe handelt es sich lediglich
um eine von vielen Möglichkeiten des Betreuten Wohnens, wobei es sich bei den
therapeutischen Wohngemeinschaften häufig um eine stationäre Wohnform handelt,
nämlich dann, wenn die Unterkunft der Rechts- und Organisationssphäre des
Einrichtungsträgers zuzuordnen ist, was auch bei externen Wohnungen möglich ist (vgl.
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OVG Hamburg FEVS 56, 174, 175; BVerwG Urteil v. 24.02.1994, Az.: 5 C 19/91). Die
Hilfen zu selbst bestimmtem Leben in betreuten Wohnformen im Sinne des § 55 Abs. 2
Nr. 6 SGB IX können jedoch sowohl in stationärer Form als auch in ambulanter Form
erfolgen, wobei sich aus § 19 Abs. 2 SGB IX ein Vorrang ambulanter bzw. teilstationärer
Leistungen ergibt. Im Übrigen hat der Gesetzgeber offen gelassen, wie und durch wen
die Hilfe im einzelnen geleistet wird. Das Betreute Wohnen ist eine Entwicklung der
Praxis der letzten zwei Jahrzehnte, deren Ausgangspunkt in der Jugendhilfe liegt und
das heute im gesamten Bereich der Behindertenhilfe eine wichtige Rolle spielt
(Mrozynski SGB IX § 55 Rn 39; Hauck/Noftz-Schlette § 98 SGB XII Rn 97). Dabei ist
anerkannt und in der Praxis umgesetzt, dass das Betreute Wohnen nicht etwa nur in
Wohngemeinschaften oder in Wohnheimen für behinderte Menschen erfolgt, sondern
auch in ambulanter Form als Einzelwohnen oder als Paarwohnen in einer selbst
angemieteten Wohnung (vgl. Mrozynski § 55 Rn 39; Handkommentar-Lachwitz SGB IX
§ 55 Rn 68; Volker Neumann Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen § 13
Rn 15).
Somit ist bei der Frage, ob Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten
Wohnmöglichkeiten im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX vorliegen, weniger auf die
Wohnform abzustellen, sondern auf Art und Zielsetzung der Betreuungsleistungen. Eine
betreute Wohnmöglichkeit liegt nur dann vor, wenn fachlich geschulte Personen
Betreuungsleistungen erbringen, die darauf gerichtet sind, dem Leistungsberechtigten
Fähigkeiten und Kenntnisse zum selbstbestimmten Leben zu vermitteln (HK-Lachwitz
SGB IX § 55 Rn 66). Dabei darf es sich nicht nur um sporadische, situativ bedingte
Betreuungsleistungen handeln, sondern diese müssen in einer regelmäßigen Form
erbracht werden und in eine Gesamtkonzeption eingebunden sein, die auf die
Verwirklichung einer möglichst selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung
ausgerichtet sein muss (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX). Unter diesen Voraussetzungen
liegt eine betreute Wohnmöglichkeit im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX auch dann
vor, wenn eine Einzelperson oder – wie im Falle der Antragstellerin – ein Paar in einer
selbst angemieteten Wohnung lebt.
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Dabei umfassen die möglichen Hilfeleistungen insbesondere die Vermittlung der
Fähigkeiten, sich selbstständig in der Wohnung zurecht zu finden, die Wohnung
eigenverantwortlich sauber zu halten, den sozialen Umgang mit dem Mitbewohner und
anderen Mietern im Haus zu erlernen einschließlich der Fähigkeit, eigene Interessen zu
artikulieren und adäquat zu vertreten. Auch die Begleitung in die nähere Umgebung zu
Einkäufen, notwendigen Arztbesuchen oder in der Nähe wohnenden
Familienangehörigen kann beispielsweise der Hilfe nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX
zugeordnet werden, wenn sie das Ziel verfolgen, den behinderten Menschen so an
seine Umgebung zu gewöhnen, dass er sich nach einer Orientierungs- oder
Trainingsphase möglichst selbstständig innerhalb und außerhalb der Wohnung
bewegen kann (vgl. HK-Lachwitz SGB IX § 55 Rn 65).
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Unter Heranziehung dieser Grundsätze ist glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin
seit ihrem Umzug nach D. Hilfen zum selbstbestimmten Leben in einer betreuten
Wohnmöglichkeit im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX erhält. In dem für den Antrag
auf Eingliederungshilfe mit der Antragstellerin erarbeiteten individuellen Hilfeplan der
Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft D. gGmbH wurden die Notwendigkeit von
Hilfemaßnahmen im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX festgestellt, entsprechende
Betreuungsleistungen und Orientierungshilfen systematisch erfasst und in eine
Gesamtkonzeption eingebunden, die darauf ausgerichtet ist, der Antragstellerin
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Fähigkeiten und Kenntnisse zu einem selbstständigen und selbstbestimmten Leben in
ihrer Wohnung zu vermitteln. Der insoweit erforderliche Hilfebedarf muss zur Zeit
regelmäßig in einem zeitlichen Umfang von 4 Fachleistungsstunden wöchentlich
erbracht werden, so dass es sich nicht nur um sporadische, situativ bedingte
Betreuungsleistungen handelt.
Die Antragsgegnerin ist die für die Hilfen nach § 53 SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs.
2 Nr. 6 SGB IX zuständige Leistungsträgerin. Nach § 97 Abs. 1 SGB XII ist der örtliche
Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig, soweit nicht der überörtliche Träger sachlich
zuständig ist. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 98 Abs. 5 SGB XII. Danach
bleibt für Leistungen an Personen, die Leistungen in Form ambulanter betreuter
Wohnmöglichkeiten erhalten, der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, der vor Eintritt
in diese Wohnform zuletzt örtlich zuständig war. Insoweit handelt es sich um eine
spezielle Regelung, die der allgemeinen Zuständigkeitsregelung des § 98 Abs. 1 SGB
XII vorgeht, wonach der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig ist, in dessen Bereich
sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten.
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Die Antragstellerin hat vor ihrem Umzug nach D. in einer Mietwohnung in H. gewohnt
und von der Antragsgegnerin personenbezogene Leistungen für psychisch kranke
Menschen erhalten. Auch insoweit handelte es sich um Leistungen im Sinne des § 55
Abs. 2 Nr. 6 SGB IX, da sie maßgeblich darauf ausgerichtet waren, der Antragstellerin
ein selbstständiges Leben in ihrer eigenen Wohnung zu ermöglichen (vgl. die von der
Antragsgegnerin vorgelegten Globalrichtlinien zu § 54 Abs. 1 SGB XII). Auch diese
Betreuungsleistungen wurden durch fachlich geschulte Personen in regelmäßiger Form
wöchentlich 5 Stunden im Rahmen einer zugrunde liegenden Gesamtkonzeption
erbracht. Vor Eintritt in diese ambulant betreute Wohnform lebte die Antragstellerin
ebenfalls in H. und bezog von der Antragsgegnerin Sozialhilfeleistungen, so dass ihre
Zuständigkeit trotz des Umzuges der Antragstellerin nach D. nach § 98 Abs. 5 SGB XII
erhalten blieb.
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Soweit die Antragsgegnerin den Anwendungsbereich der Vorschrift des § 98 Abs. 5
SGB XII auf die Fälle beschränken will, bei denen dem Eintritt in die ambulant betreute
Wohnform ein vollstationärer Aufenthalt vorausgegangen ist, da durch die Vorschrift des
§ 98 Abs. 5 SGB XII bewirkt werden solle, dass sich der bisher zuständige
Sozialhilfeträger nicht durch einen Wechsel in eine ambulant betreute Wohnform seiner
Leistungspflicht entziehe, ergeben sich hierfür weder aus dem Wortlaut der Vorschrift
noch aus der Gesetzesbegründung irgendwelche Anhaltspunkte.
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Nach der Gesetzesbegründung stellt der neue § 98 Abs. 5 SGB XII die Zuständigkeit
desjenigen Trägers der Sozialhilfe sicher, der vor Eintritt der Person in Formen betreuter
ambulanter Wohnmöglichkeiten zuletzt zuständig war ( BT-Drucksache 15/ 1514 Seite
67 zu § 93). Welchen Zweck der Gesetzgeber mit dieser Sonderregelung verfolgt, bleibt
unklar (ebenso Hauck/Noftz-Schlette § 98 Rn 94). Es kann allenfalls vermutet werden,
dass durch diese Vorschrift mittelbar der Auf- und Ausbau ambulanter Strukturen
gefördert werden soll, indem vermieden wird, den Ort der ambulanten Wohnform mit den
Kosten der Hilfe zu belasten. Der Aufbau und die Nutzung ambulanter Strukturen, die
regelmäßig ortsnah erfolgen, würde gehemmt, wenn sich im Rahmen der zu
erbringenden Betreuungsleistungen jeweils die Finanzzuständigkeit des örtlich
zuständigen Trägers ergeben würde (Fichtner/Wenzel SGB XII § 98 Rn 36). Legt man
diesen Sinn und Zweck der Vorschrift zugrunde, ergibt sich kein Anhaltspunkt für eine
teleologische Reduktion der Vorschrift in dem von der Antragsgegnerin geltend
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gemachten Sinn, wonach weil der Aufbau und die Nutzung ambulanter Strukturen nicht
nur dann gehemmt wird, wenn eine Kostenbelastung bei einem Wechsel von einer
stationären Einrichtung in eine ambulante Betreuungsform stattfindet, sondern auch bei
einem Wechsel aus der Häuslichkeit in eine ambulante Betreuungsform (vgl. für die
Anwendbarkeit des § 98 Abs. 5 auch in diesen Fällen: Fichtner/Wenzel SGB XII § 98 Rn
36) bzw. von einem ambulanten Betreuungsort zu einem anderem ambulanten
Betreuungsort wechselt (für die Anwendbarkeit des § 98 Abs. 5 auch in diesen Fällen:
Hauck/ Noftz-Schlette SGB IX § 98 Rn 95).
Im Übrigen bestehen auch aus einem anderen Grund ganz erhebliche Bedenken gegen
die von der Antragsgegnerin vorgenommene Auslegung des § 98 Abs. 5 SGB XII.
Würde man den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Fälle beschränken, in denen
sich ein bisher zuständiger Sozialhilfeträger seiner Leistungspflicht durch einen
Wechsel in eine ambulant betreute Wohnform entziehen will, müsste im Einzelfall
geprüft werden, welche Motive der Änderung der Betreuungsform zugrunde liegen und
ob ein missbräuchliches Verhalten des bisherigen Leistungs-trägers vorliegt. Insoweit
handelt es sich um Umstände, die im Einzelfall kaum aufzuklären sein werden, was
ebenfalls dafür spricht, die Zuständigkeit allein von dem objektiven Umstand abhängig
zu machen, wer vor Eintritt in die ambulant betreute Wohnform der zuständige
Sozialhilfeträger war.
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Aufgrund der Anwendbarkeit der Vorschrift des § 98 Abs. 5 SGB XII kann von
vornherein keine Berücksichtigung finden, welcher Leistungsträger sachlich und örtlich
zuständig gewesen wäre, wenn nicht eine Perpetuierung der Zuständigkeit des bisher
zuständigen Leistungsträgers eingetreten wäre. In diesem Zusammen-hang ist
insbesondere unerheblich, dass dann – wie im vorliegenden Fall – nach Landesrecht
ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe zuständig geworden wäre (vergleiche § 2 Abs. 1
Nr. 2 Ausführungsverordnung SGB XII NRW). Eine Vorschrift, die die örtliche
Zuständigkeit regelt, knüpft zwangsläufig an die zuvor festzustellende sachliche
Zuständigkeit an. Somit kann § 98 Abs. 5 SGB XII nur der Sinngehalt zukommen, dass
für die Leistungen an Personen, die Leistungen in Form ambu-lanter betreuter
Wohnmöglichkeiten erhalten, der bisher sachlich zuständige Träger der Sozialhilfe
örtlich zuständig bleibt, der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt örtlich zuständig war
(ebenso mit anderer Begründung: Fichtner/Wenzel SGB IX § 98 Rn 36). Nur dann
kommt der in der Gesetzesbegründung dargelegte Grundsatz zum Tragen, wonach die
Zuständigkeit desjenigen Trägers der Sozialhilfe sichergestellt werden soll, der vor
Eintritt der Person in Formen betreuter ambulanter Wohnmöglichkeiten zuletzt zuständig
war (vergleiche BT-Drucksache 15/1514 zu § 93).
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Aufgrund der nach § 98 Abs. 5 SGB XII gegebenen Zuständigkeit der Antragsgegnerin
kann dahingestellt bleiben, ob sich eine Leistungspflicht darüber hinaus auch aus § 14
Abs. 2 SGB IX ergibt, weil die Antragsgegnerin den am 12.09.2005 bei ihr
eingegangenen Antrag auf Kostenübernahme nicht innerhalb von 2 Wochen an den
nach ihrer Auffassung zuständigen Leistungsträger weitergeleitet hat (für eine
Anwendbarkeit des § 14 Abs. 2 SGB IX bei streitiger örtlicher Zuständigkeit zwischen
mehreren Sozialhilfeträgern: SG Bayreuth Beschluss vom 29.07.2005 Az.: S 4 SO 45/05
ER mwN).
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Die Antragstellerin hat zudem einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Aus dem
vorgelegten, von der Psychiatrischen Hilfsgemeinschaft D. gGmbH erarbeiteten
individuellen Hilfeplan ergibt sich die Dringlichkeit der Betreuungsleistungen für die
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Antragstellerin. Nach den Angaben der Antragstellerin hat die Psychiatrische
Hilfsgemeinschaft D. gGmbH die Einstellung der bisher durchgeführten
Betreuungsleistungen mit Ablauf des Monats Januar 2006 angekündigt, da bisher keine
Kostenerstattung erfolgt ist. Somit liegt für die Zeit ab dem 1. Februar 2006 ein
Anordnungsgrund vor, da bei fehlender Betreuung der Antragstellerin ganz wesentliche
Nachteile für die Antragstellerin drohen. Von der Durchführung der
Betreuungsleistungen hängt die Sicherung der Erhaltung der eigenen Wohnung der
Antragstellerin und damit die Verwirklichung eines wesentlichen Bestandteiles einer
möglichst selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung ab, so dass die im
Rahmen des § 86 b Abs. 2 SGG vorzunehmende Interessenabwägung die
Notwendigkeit der Übernahme der Kosten für die im Hilfeplan festgestellten
Fachleistungsstunden für die Dauer des Widerspruchsverfahrens durch die
Antragsgegnerin ergibt. Für die Zeit vor Februar 2006 liegt dagegen kein
Anordnungsgrund vor, weil die Durchführung der Betreuung bis dahin gesichert war.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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