Urteil des SozG Düsseldorf vom 22.04.2005

SozG Düsseldorf: aufschiebende wirkung, eheähnliche lebensgemeinschaft, eheähnliche gemeinschaft, wohnung, zusammenleben, anfechtungsklage, hauptsache, verwaltungsakt, gerichtsbarkeit, vertretener

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Düsseldorf, S 35 AS 119/05 ER
22.04.2005
Sozialgericht Düsseldorf
35. Kammer
Beschluss
S 35 AS 119/05 ER
Landessozialgericht NRW, L 12 B 13/05 AS ER
Grundsicherung für Arbeitssuchende
rechtskräftig
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 4.
April 2005 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. März 2005
wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin. Der Antragstellerin wird
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C aus N
1bewilligt.
Gründe:
I. Mit Bescheid vom 20. Januar 2005 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin für
den Zeitraum von Januar 2005 bis September 2005 Leistungen nach dem SGB II in Höhe
von 558,32 Euro.
Mit Bescheid vom 10. März 2005 stellte die Antragsgegnerin die Weiterzahlung der
Leistungen mit Wirkung vom 01. März 2005 ein. Zur Begründung führte sie aus, die
Antragstellerin lebe mit Herrn O-N2 "eheähnlicher Lebensgemeinschaft". Dies habe der
Außendienst der Antragsgegnerin ermittelt. Man habe festgestellt, dass sich in der
Wohnung der Antragstellerin ein Doppelbett befinde, und dass sich männliche
Herrenpflegeartikel, u.a. ein Rasierapparat, im Badezimmer der Antragstellerin befunden
hätten und das Herr O-N2 in der Wohnung der Antragstellerin angetroffen worden sei. Alles
deute darauf hin, dass Herr O-N2 und die Antragstellerin in "eheähnlicher
Lebensgemeinschaft" zusammenlebten.
Hiergegen hat die Antragstellerin Widerspruch erhoben und ein Zusammenleben,
insbesondere in "eheähnlicher Lebensgemeinschaft" mit Herrn O-N2 bestritten. Sie hat
ausgeführt, Herr O-N2 lebe in einer eigenen Wohnung und sei bei ihr nur zu Gast gewesen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen
nach dem SGB II - nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften - zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, ihre Ermittlungen durch den Außendienst hätten ergeben, dass eine
eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den
Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.
II. Mit dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 20. Januar 2005 sind der
Antragstellerin - für den Zeitraum von Januar 2005 bis September 2005 - Leistungen nach
dem SGB II bewilligt worden. Dieser Bescheid stellt einen Dauerverwaltungsakt dar, denn
der Regelungsgehalt des Bescheides erschöpft sich nicht in einem einmaligen Gebot oder
Verbot, sondern begründet ein auf Dauer (Januar bis September) angelegtes
Rechtsverhältnis
(BSG, Urteil vom 20.09.2001, BSGE 89,13,15; von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. § 31 Anm. 48
m. w. N.).
Mit dem in der Hauptsache streitigen Bescheid vom 10. März 2005 ist dieser
Dauerverwaltungsakt zurückgenommen worden. Das Begehren der Antragstellerin richtet
sich daher in der Hauptsache gegen den widerrufenden Bescheid und ist folglich als reines
Anfechtungsbegehren zu werten. In diesem Fall kommt der Erlass einer einstweiligen
Anordnung, der darauf gerichtet ist, die Antragsgegnerin zu etwas zu verpflichten, nicht in
Betracht
(Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. § 86 b Anm. 22 m. w. N.).
Das Gericht deutet daher das Begehren der Antragstellerin dahingehend, dass diese
beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen.
Der insoweit zulässige Antrag hat in der Sache Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache ​ auf Antrag ​ in den Fällen,
in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die
aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG
entfällt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage in den durch
Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Gemäß § 39 SGB II haben Widerspruch und
Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung.
Nach Maßgabe dieser Vorschriften ist vorliegend die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs anzuordnen.
Der Antrag ist in der Sache begründet, weil der Verwaltungsakt vom 10. März 2005 - nach
der hier gebotenen summarischen Prüfung - rechtswidrig ist.
Die Ermittlungen der Antragsgegnerin haben nämlich keine verwertbaren Hinweise darauf
erbracht, dass die Antragstellerin und Herr O-N2 in "eheähnlicher Lebensgemeinschaft"
zusammenleben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine "eheähnliche
Lebensgemeinschaft" eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, die
auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt
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und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner
füreinander begründen, also über die Beziehungen in einer reinen Haushalts- und
Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen
(vgl. z. B. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 2. September 2004, Az.: 1 BvR
1962/04, www.juris.de; Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 17. November 1992, Az.: 1
BvL 8/87, www.juris.de; Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 17. Juli 2002, Az.: 1 BvF
1/01, 1 BvF 2/01, www.juris.de, mit zahlreichen weiteren Nachweisen; LPK-BSHG, 6. Aufl.§
122 Anm. 5; BverwG NDV-RD 1996,38 =NJW 1995,2802; Zöller ZFSH 1996,302ff; SG
Düsseldorf, Beschluss vom 16.02.2005, Az.: S 35 SO 28/05, www.sozialgerichtsbarkeit.de).
Aus den Ermittlungen der Antragsgegnerin geht aber allenfalls hervor, dass zwischen der
Antragstellerin und Herr O-N2 eine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht. So
meint die Antragsgegnerin ermittelt zu haben, dass die Vorgenannten in einer
gemeinsamen Wohnung zusammenleben. Weiter vermutet die Antragsgegnerin offenbar,
dass zwischen den Vorgenannten auch eine sexuelle Beziehung besteht. Dies sind aber -
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - keine Kriterien einer
eheähnlichen Lebensgemeinschaft.
(BVerfG a.a.O.; BverwG a. a. O.).
Dagegen finden sich in der Akte keine Hinweise darauf, dass die Partnerschaft so eng ist,
dass von den Partnern ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des
Lebens erwartet werden kann. Nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr für
einander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt
sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse
verwenden, ist ihre Lage mit denjenigen nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten
vergleichbar
(BVerfG a.a.O.; BverwG a. a. O.; LPK ​ Kommentar a. a. O. Anm. 6 ff).
Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich bei dem Begriff der "Eheähnlichkeit" an den
Rechtsbegriff der Ehe angeknüpft. Aus den Bestimmungen des BGB über die Ehe ergeben
sich zwei zentrale Elemente: Nach § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB sind die Ehegatten zur
ehelichen Gemeinschaft (personales Element) und nach § 1360 BGB einander zum
Unterhalt verpflichtet (materielles Element).
a) Auf personale Ebene liegt die Eheähnlichkeit in der besonderen auf den jeweiligen
Partner bezogenen, auf längere Zeit, bzw. auf Dauer angelegten Bindung
(vgl. LPK zum BSHG, 6. Auflage, § 122 Anm. 7; BVerfG a.a.O.; BverwG a. a. O.).
Schon diese Voraussetzungen liegen nach Aktenlage nicht vor, weil die Antragstellerin mit
ihrem vermeintlichen Partner nicht schon längere Zeit ​ das ist nach Auffassung der Kammer
in der Regel ein Zeitraum von mindestens 3 Jahren ​ zusammenlebt.
(so auch BSG, Urteil vom 17.10.2002, Az.: B 7 AL 72/00 R, www.sozial-gerichtsbarkeit.de;
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.06.2000, Az.: L 1 AL 15/00;
ebenso Durchführungsanweisungen der BA zu § 193 SGB III, 21 Erg. Lief. 02/2002, 2. Abs.
3).
b) Zusätzlich zu den Personalmoment muss, unter dem Aspekt der Eheähnlichkeit, auf
materieller Ebene eine tatsächliche Unterstützung und eine tatsächliche
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Leistungserbringung durch den Partner stattfinden (materielles Element)
(ausführlich hierzu Münder in ZfSH/SGB 1986, 198 ff -. Lehr- und Praxiskommentar a.a.O.
Anmerkung 8 -. Bundesverwaltungsgericht NDV-RD 1996, Seite 38 = NJW 1995, Seite
2802; BSG, Urteil vom 17.10.2002, Az.: B 7 AL 72/00 R, www.sozialgerichtsbarkeit.de;
BSG, Urteil vom 17.10.2002, Az.: B 7 AL 96/00 R, m.w.N, www.sozialgerichtsbarkeit.de;
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.06.2000, Az.: L 1 AL 15/00;
Dienstanweisungen der BA zu § 193 SGB III, 21 Erg. Lief. 02/2002, 2. Abs. 3).
Würde man nämlich eine "eheähnliche Gemeinschaft" ohne das Element der tatsächlichen
materiellen Unterstützung annehmen und allein aus einem Zusammenleben auf ein
gegenseitiges Unterstützen schließen, so würde dies zu einer Rechtlosstellung der
vermeintlich unterstützten Person führen. Zu beachten ist nämlich, dass die Antragstellerin
im vorliegenden Fall aus dem Verhältnis mit ihrem Partner selbst dann keinen Anspruch
gegen diesen auf Unterstützung erwirbt, wenn die Partnerschaft ansonsten die Kriterien für
eine "eheähnliche Lebensgemeinschaft" erfüllt, denn das BGB sieht
Unterstützungspflichten nur bei einer Ehe vor. Die Antragstellerin hätte dann keinen
Anspruch auf Leistungen von der Antragsgegnerin und gleichzeitig aber auch keinen
Anspruch auf materielle Unterstützung durch ihren Partner. Es liegt auf der Hand, dass die
Rechtsordnung derartiges nicht dulden kann. Deswegen kann ​ nach hier vertretener
Auffassung ​ von einer "eheähnlichen Lebensgemeinschaft" nur ausgegangen werden,
wenn die tatsächliche gegenseitige Unterstützung nachgewiesen ist. Diese Auffassung
entspricht ausdrücklich auch der bisherigen Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts
und des Bundessozialgerichts
(BVerwG, NJW 1995, 2802; Münder ZfSH/SGB 1986, 198ff; LPK- BSHG a. a. O.; BSG,
Urteil vom 17.10.2002, Az.: B 7 AL 96/00 R, www.sozial-gerichtsbarkeit.de; BSG, Urteil vom
17.10.2002, Az.: B 7 AL 72/00 R, www.sozialgerichtsbarkeit.de ).
Das Gericht sieht keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
Eine solche tatsächliche materielle Unterstützung ist aber von der Antragsgegnerin weder
ermittelt (vergl. § 20 SGB X) noch mit aussagekräftigen Indizien untermauert worden. Statt
dessen hat die Antragsgegnerin ​ in diesem wie in zahlreichen anderen hier anhängigen
Verfahren ​ ihre Ermittlungen auf nicht aussagefähige Kriterien - wie sexuelle Beziehung
und Zusammenwohnen - beschränkt. Die Kammer hatte folglich bei der hier gebotenen
Abwägung der Interessen der Antragstellerin einerseits und der Antragsgegnerin
andererseits zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin kein gewichtiges Indiz für eine
"eheähnliche Lebensgemeinschaft" beigebracht hat, andererseits aber von der
Antragsgegnerin das Bestehen einer "eheähnlichen Lebensgemeinschaft" vehement
bestritten wird, was zusätzlich mit einer eidesstattlichen Versicherung untermauert wird.
Darüber hinaus hat Herr O-N2 schriftlich bescheinigt die Antragstellerin nicht zu
unterhalten. Bei dieser Sachlage spricht schon mehr für die Richtigkeit des Vortrages der
Antragstellerin.
Im Übrigen geht der fehlende Nachweis hier zu Lasten der Antragsgegnerin, denn sie trägt
die objektive Beweislast für das Bestehen einer "eheähnlichen Lebensgemeinschaft", weil
es sich um einen die Bedürftigkeit ausschließenden Umstand handelt.
(Niesel, SGB II, 2. Aufl. § 193 Anm. 26 und 32)
Unabhängig davon meldet das Gericht erhebliche Bedenken gegen die Verfahrensweise
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der Antragsgegnerin an, den Sachverhalt durch überraschende Hausbesuche von
Außendienstmitarbeitern, mit anschließender Durchsuchung der Wohnung, ermitteln zu
wollen. § 35 Abs. 2 SGB I sieht vor, dass die Erhebung von Sozialdaten nur unter den
Voraussetzungen des zweiten Kapitels des SGB X zulässig ist. § 67 a Abs. 3 SGB X
schreibt vor, dass der Betroffene vor der Datenerhebung über die Zweckbestimmung zu
unterrichten ist. Auch ist der Betroffene ​ nach dieser Vorschrift - über die Freiwilligkeit von
Angaben vorher aufzuklären. Aus diesem Grund sehen auch die Dienstanweisungen der
Bundesagentur für Arbeit
(DA der BA zu § 193 SGB III, 21 Erg. Lief. 02/2002, 2. Abs. 3).
ausdrücklich vor, dass zur Ermittlung ob eine "eheähnliche Lebensgemeinschaft" besteht
"von der Beauftragung des Außendienstes abzusehen ist"
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.