Urteil des SozG Düsseldorf vom 12.01.2011

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Sozialgericht Düsseldorf, S 2 KA 157/08
Datum:
12.01.2011
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 2 KA 157/08
Sachgebiet:
Vertragsarztangelegenheiten
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2008 wird die
Beklagte verurteilt, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
über den Widerspruch des Klägers erneut zu entscheiden. Die Beklagte
trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
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Streitig ist ein Anspruch auf höheres Honorar.
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Der Kläger war im streitbefangenen Quartal 1/2008 ein Medizinisches
Versorgungszentrum (MVZ) in H-E, an dem ein Facharzt für Innere Medizin, eine
Fachärztin für Chirurgie und Allgemeinmedizin sowie ein Arzt/eine Ärztin der
Fachgruppe 02 (27 02 000) beteiligt waren.
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Dem Quartalskonto/Abrechnungsbescheid 1/2008 vom 28.07.2008 war ein Nachweis
Individualbudget (IB)/Begrenzungsregelung gem. § 7 und § 13 HVV beigefügt, aus dem
hervorgeht, dass das IB (2.420.279,5 Punkte) oberhalb des Grenzwertes der
Fachgruppe lag (2.289.812 Punkte). Zur Ermittlung des individuellen
Punktzahlvolumens wurde eine Quote der Fachgruppe von 71,0840 % herangezogen.
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Diesem Abrechnungsbescheid widersprachen die Gesellschafter des Klägers. Sie seien
ein hausärztliches MVZ im ländlichen Bereich, betreuten fünf Altersheime, machten
Hausbesuche, hätten rund um die Uhr geöffnet und keinen Tag im Jahr geschlossen.
Bei den hausärztlichen Ordinationsziffern 03111 und 03112 EBM lägen sie mehr als
100 %, bei den Hausbesuchen nach Ziffer 01410 EBM sogar 425 % über dem
Vergleich. Nun würden sie abquotiert auf 71 % wie Fachärzte, obwohl solche die
hausärztlichen Leistungen nicht erbrächten. Wenn sie nicht - wie in der Vergangenheit -
wie Hausärzte honoriert würden, müssten sie umgehend Personal entlassen,
wahrscheinlich auch ärztliches Personal, und würden den Betrieb in der gewohnten
Form nicht aufrecht erhalten können.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 03.12.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück:
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Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei die IB-Regelung dem
Grunde nach rechtmäßig. Insbesondere sei es rechtmäßig, durchschnittlich und/oder
überdurchschnittlich abrechnenden Praxen bzw. MVZ Zuwachsmöglichkeiten im
Rahmen von Regelungen über IBs insgesamt zu verwehren, zumal Sondersituationen
in ausreichendem Maße über Ausnahmeentscheidungen berücksichtigt werden
könnten. Dem MVZ sei ein IB in Höhe bzw. oberhalb des durchschnittlichen
Punktzahlengrenzwertes der Fach-/Untergruppe zugeordnet worden. Eine darüber
hinaus gehende erlaubte Zuwachsmöglichkeit bestehe nicht.
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Hiergegen richtet sich die am 12.12.2008 erhobene Klage.
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Der Kläger wiederholt und vertieft sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und
trägt ergänzend trägt vor, er sei der Fachgruppe 32 (MVZ) zugeordnet worden, deren
Quote gemäß § 6 HVV 71,0840 % betrage. Die entsprechen-
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de Quote für die Fachgruppe 80 (Allgemeinärzte) betrage 77,9622 %.
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Es bestünden bereits grundsätzlich Bedenken, eine eigenständige "Fachgruppe MVZ"
zu bilden. Die möglichen Strukturen eines MVZ seien sowohl im Hinblick auf die
Rechtsformen und Organisationsstrukturen als auch medizinisch bezogen auf die
verschiedenen, an einem MVZ beteiligten Fachrichtungen (z.B. Orthopäden,
Gynäkologen, Urologen, Anästhesisten, Chirurgen etc.) vielfältig. Mitunter seien auch
Krankenhäuser, Apotheken oder Reha-Einrichtungen ebenfalls beteiligt. Hieraus ergebe
sich eine heterogene Zusammensetzung der zum Quartal 1/2008 neu eingeführten
Fachgruppe 32, die eine sachgerechte Vergleichbarkeit bzw. Zuordnung nicht zulasse.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, den Widerspruchsbescheid vom 03.12.2008 aufzuheben
und unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über seinen Widerspruch
erneut zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig.
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Die im IB verbleibenden punktzahlbewerteten Leistungen eines MVZ seien mit einem
Punktwert von 5,11 ct. bewertet und im Anschluss mit der durchschnittlichen
Fachgruppenquote aller Fachärzte multipliziert und entsprechend vergütet worden. Dies
halte sich im Rahmen des Gestaltungsspielraums bei der Honorarverteilung. Aufgrund
der Fachübergreiflichkeit von MVZ sei in aller Regel - abgesehen von einem MVZ
gebildet aus Haus- und Kinderarzt - ein über-wiegend fachärztlicher Anteil vorhanden,
der es rechtfertige, generell von einer fachärztlichen Tätigkeit des MVZ auszugehen.
Dabei erscheine es auch vertretbar, einen Mix aus sämtlichen Facharztgruppen
vorzunehmen und nicht individualisiert auf die jeweils beteiligten Fachgruppen
abzustellen.
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Die Beklagte habe im Übrigen keinen Fachgruppentopf für MVZ gebildet und keine
neue Fachgruppe eingeführt. Alle betroffenen MVZ hätten aus abrechnungstechnischen
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Gründen eine insoweit gleichlautende 32-er Abrechnungsnummer erhalten. Dies
bedeute nicht per se die Bildung einer neuen Fachgruppe bzw. eines
Honorarkontingentes.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist im Sinne einer Verpflichtung zur Neubescheidung begründet.
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Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2
des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da diese rechtswidrig sind.
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Die Regelungen der Beklagten bzw. der Vertragspartner des
Honorarverteilungsvertrages (HVV) über das IB stellen sich grundsätzlich als
rechtmäßig dar (vgl. für die Zeit ab 01.04.2005 aber LSG NRW, Urteil vom 08.09.2010 -
L 11 KA 60/07 -). Rechtlich unbedenklich ist dabei auch die Kombination von IBs und
floatendem Element, die durch die Quotierung des für den einzelnen Arzt zulässigen
Punktzahlvolumens entsprechend dem im jeweiligen Honorartopf zur Verfügung
stehenden Honorarvolumen zur Gewährung eines Punktwerts von 10 Pf. (5,11 ct.)
vorgenommen wird (BSG, Urteile vom 10.12.2003 - B 6 KA 54/02 - u.a.; LSG NRW,
Urteil vom 30.10.2006 - L 11 KA 126/04 -). Diese "Fachgruppenquote" ist insofern als
Rechengröße das Ergebnis einer Verhältnisrechnung zwischen tatsächlich erbrachter
Gesamtleistung der Fachgruppe und dem im jeweiligen Honorartopf zur Verfügung
stehenden Honorarvolumen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 08.03.2006 - L 10 KA 22/05 -).
Die Honorartöpfe für die einzelnen Facharztgruppen sind in § 6 b Abs. 4 HVV (Rhein.
Ärzteblatt 7/2007, 58 ff.) zwischen den Gesamtvertragspartnern vereinbart und reichen
von Anästhesisten der FG 01 bis zu Humangenetikern u.a. der FG 72. Einen
Honorartopf für MVZ weist diese Regelung nicht aus.
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Die Fachgruppenquote für MVZ bestimmt sich insofern auch nicht aus einem
bestimmten Honorartopf, dessen Größe einem festgelegten prozentualen Anteil an dem
Verteilungsbetrag der Gesamtvergütung entspricht, sondern folgt einer anderen
Systematik. So werden gemäß § 6 c Abs. 1 HVV zunächst der hausärztliche
Verteilungsbetrag und die Honorartöpfe im fachärztlichen Versorgungsbereich für die
nach § 95 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)
zugelassenen MVZ quartalsweise bereinigt. Sodann werden gemäß § 7 Abs. 2 HVV
Leistungen, die über das jeweils zugeordnete maximal abrechenbare individuelle
Punktzahlvolumen hinaus abgerechnet werden, auf dieses Punktzahlvolumen gekürzt.
Schließlich werden die nach der Kürzung verbleibenden punktzahlbewerteten
Leistungen eines MVZ mit einem Punktwert von 5,11 ct. bewertet, danach mit der
durchschnittlichen Fachgruppenquote aller Fachärzte multipliziert und entsprechend
vergütet.
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Dieses Vorgehen ist für das Quartal 1/2008, in dem - soweit ersichtlich - erstmals diese
Regelung angewandt wurde, im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden. Dabei kann die
Kammer allerdings den Vortrag der Beklagten, der Kläger hätte wie alle anderen MVZ
aus abrechnungstechnischen Gründen eine 32-er Abrechnungsnummer erhalten, nicht
nachvollziehen. Sowohl der Abrechnungsbescheid 1/2008 nebst allen Anlagen als auch
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der Widerspruchsbescheid vom 03.12.2008 tragen die Abrechnungsnummer 27 19 000;
die Fachgruppe 19 ist diejenige der Internisten.
Der Beklagten bzw. den Vertragspartnern des HVV als Normgeber steht bei der
Neuregelung komplexer Materien ein besonders weiter Spielraum in Form von
Ermittlungs-, Erprobungs- und Umsetzungsspielräumen zu. Dieser rechtfertigt sich
daraus, dass sich häufig bei Erlass der maßgeblichen Vorschriften deren Auswirkungen
nicht in allen Einzelheiten übersehen lassen und deshalb auch gröbere Typisierungen
und geringere Differenzierungen zunächst hingenommen werden müssen. Mit dieser
relativ weiten Gestaltungsfreiheit bei Anfangs- und Erprobungsregelungen
korrespondiert eine Beobachtungs- und ggf. Nachbesserungspflicht des Normgebers,
wenn sich im Vollzug von ursprünglich gerechtfertigten Regelungen herausstellt, dass
die die Norm legitimierenden Gründe weggefallen oder die Auswirkungen für einzelne
Normadressaten unzumutbar geworden sind (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.2010 - B 6 KA
1/09 R - m.w.N.).
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Die Beklagte geht davon aus, dass aufgrund der Fachübergreiflichkeit von MVZ in aller
Regel ein überwiegend fachärztlicher Anteil vorhanden sei, der es rechtfertige, generell
von einer fachärztlichen Tätigkeit des MVZ auszugehen. Diese generalisierende
Betrachtung hält sich zumindest in der Anfangsphase der Regelung noch im Rahmen
des Gestaltungsspielraums.
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Medizinische Versorgungszentren sind gemäß § 95 Abs. 1 SGB V in der Fassung des
Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes (VÄndG) fachübergreifende ärztlich geleitete
Einrichtungen, in denen Ärzte, die in das Arztregister eingetragen sind, als Angestellte
oder Vertragsärzte tätig sind. Ein MVZ ist dann fachübergreifend, wenn in ihr Ärzte mit
verschiedenen Facharzt- oder Schwer- punktbezeichnungen tätig sind; es ist nicht
fachübergreifend, wenn die Ärzte der hausärztlichen Arztgruppe nach § 101 Abs. 5 SGB
V angehören und wenn die Ärzte oder Psychotherapeuten der psychotherapeutischen
Arztgruppe nach § 101 Abs. 4 SGB V angehören. Sind in einem MVZ ein fachärztlicher
und ein hausärztlicher Internist tätig, so ist die Einrichtung fachübergreifend. Der
Gesetzgeber geht dabei davon aus, dass alle möglichen Kombinationen verschiedener
Facharzt- oder Schwerpunktbezeichnungen das Tatbestandsmerkmal
"fachübergreifend" im o.g. Sinne erfüllen (BT-Drucks. 16/2474, S. 21, zu Nr. 5(§ 95)
Buchst. a). Insofern durften die Vertragspartner des HVV in ihrer ersten Einschätzung
durchaus davon ausgehen, dass angesichts des gesetzgeberischen Ziels der MVZ, den
Versicherten eine fachübergreifende Versorgung aus einer Hand anzubieten,
überwiegend fachärztliche Anteile vorhanden sind, die pauschalierend und typisierend
die Zuordnung zu einer generell fachärztlichen Tätigkeit des MVZ rechtfertigen.
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Inwieweit diese Annahme hinsichtlich der Fachgruppenquote zu einem Mix aus
sämtlichen Facharztgruppen berechtigt, lässt die Kammer offen. Zutreffend weist der
Kläger jedenfalls darauf hin, dass MVZ außerordentlich heterogen besetzt sein können,
was die Angaben in der online-Arztsuche der Beklagten auch belegen. Die
Fachgruppenquoten für Fachärzte im Quartal 1/2008 bewegen sich zwischen minimal
64,8132 % (FG 63 - Ärzte für physikalische und rehabilitative Medizin) und maximal
78,1924 % (FG 26 - Laborärzte). In welcher Weise die Beklagte die Fachgruppenquote
für MVZ (FG 32) mit 71,0840 % aus der durchschnittlichen Fachgruppenquote aller
Fachärzte berechnet hat, lässt sich den Verwaltungsakten nicht entnehmen; auch der
HVV enthält insofern keine konkreten Vorgaben z.B. zur Gewichtung der einzelnen
Fachgruppen etwa anhand der jeweiligen Anteile an der zu verteilenden
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Gesamtvergütung (vgl. § 6 Abs. 4 HVV).
Darauf kommt es vorliegend letztlich auch nicht entscheidend an. Die Gesellschafter
des Klägers haben in ihrem Widerspruch dargelegt, sie seien ein hausärztliches MVZ im
ländlichen Bereich, betreuten fünf Altersheime, machten Hausbesuche und wichen bei
den entsprechenden hausärztlichen Ordinationsziffern und der Hausbesuchsziffer
deutlich von der Vergleichsgruppe der Fachärzte ab. Wenn sie nicht - wie in der
Vergangenheit - wie Hausärzte honoriert würden, bedrohe dies den Bestand ihres
Betriebes in der gewohnten Form. Dies hätte die Beklagte zum Anlass nehmen müssen,
eine Entscheidung über eine Ausnahmeregelung gemäß § 12 Abs. 1 HVV
herbeizuführen. Da die Auswirkungen des HVV nicht in allen Einzelheiten vorherbar
sind, wird nach dieser Bestimmung der Vorstand der Beklagten im Falle erheblicher
Fehleinschätzung beauftragt, Korrekturmaßnahmen zu beschließen, um
überproportionale, die Kalkulationssicherheit gefährdende Honorarauswirkungen im
Einzelfall zu verhindern oder abzuschwächen. Hierauf weist der Widerspruchsbescheid
auf Seite 3 von 4 auch zutreffend hin, indem er ausführt, Sondersituationen könnten in
ausreichendem Maße über Ausnahmeentscheidungen berücksichtigt werden. Indes
macht der Bescheid keinen Gebrauch von dieser Regelung. Die Aussage, für den
Kläger bestehe eine weitere Zuwachsmöglichkeit nicht, weil dessen IB bereits den
Fachgruppendurchschnitt erreicht oder überschritten habe, trifft sein Begehren nicht. Es
geht ihm nicht um eine Erhöhung seines maximal abrechenbaren Punktzahlvolumens,
sondern um eine Gleichstellung mit der Fachgruppe der Allgemeinärzte und damit auch
mit deren Quote (FG 80), da er ein allgemeinärztliches Leistungsspektrum behandele.
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Die Beklagte wird daher über den Widerspruch des Klägers unter Anwendung der
Regelung des § 12 HVV neu zu entscheiden haben. Die Kompetenz ihres Vorstandes,
Ausnahmen für atypische Versorgungssituationen vorzusehen, ist insoweit
höchstrichterlich anerkannt (zuletzt BSG, Urteil vom 03.02.2010 - B 6 KA 1/09 R -
m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1,
162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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