Urteil des SozG Düsseldorf vom 22.12.2004

SozG Düsseldorf: meldepflicht, kaufmännischer angestellter, meldung, unverzüglich, minderung, obliegenheit, arbeitslosigkeit, kündigung, hinweispflicht, angehöriger

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Düsseldorf, S 7 AL 169/04
22.12.2004
Sozialgericht Düsseldorf
7. Kammer
Urteil
S 7 AL 169/04
Landessozialgericht NRW, L 12 AL 10/05
Arbeitslosenversicherung
nicht rechtskräftig
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 2.3.2004 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.3.2004 verurteilt, dem Kläger
Arbeitslosengeld ohne Minderung des Anspruchs wegen verspäteter
Arbeitslosmeldung zu bewilligen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Minderung des Arbeitslosengeldanspruchs.
Der 1950 geborene Kläger hatte erstmals im Jahr 2001 Arbeitslosengeld bezogen. Danach
hatte er ab dem 1.12.2001 eine Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter bei der O
OHG in E angenommen.
Am 23.12.2003 wurde dem Kläger bei der O OHG das Kündigungsschreiben zum
31.1.2004 persönlich übergeben. Eine Belehrung des Klägers über die vorzeitige
Meldeverpflichtung nach dem SGB III (Drittes Buch Sozialgesetzbuch) erfolgte seitens des
Arbeitgebers nicht.
Der Kläger meldete sich am 3.2.2004 (Montag) arbeitslos und beantragte die Gewährung
von Arbeitslosengeld.
Mit Bescheid vom 2.3.2004 bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld unter Minderung des
Arbeitslosengeldanspruchs um einmalig 1.500,00 Euro. Der Kläger habe sich 40 Tage zu
spät arbeitssuchend gemeldet. Nach § 37 b SGB III sei eine Person, deren
Versicherungspflichtverhältnis ende, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des
Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Beklagten arbeitssuchend zu melden. Die
Meldepflicht beginne mit dem Tag nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts des
Beschäftigungsverhältnisses und habe an dem nächsten dienstbereiten Tag der Beklagten
zu erfolgen. Das Arbeitslosengeld sei nach § 140 SGB III um 50,00 Euro pro Tag der
verspäteten Meldung zu kürzen. Daraus ergebe sich ein Minderungsbetrag in Höhe von
insgesamt 1.500,00 Euro.
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Dem widersprach der Kläger am 5.3.2004. Er sei über die Pflicht zur vorzeitigen Meldung
weder durch seinen Arbeitgeber noch durch die Beklagte informiert worden. Daher könne
ihm weder Vorsatz von Fahrlässigkeit vorgeworfen und sein Verhalten nicht sanktioniert
werden.
Bei seiner Vorarbeitslosigkeit habe man ihn dahingehend belehrt, dass eine Meldung erst
zum Zeitpunkt der Arbeitslosigkeit erfolgen könne, nämlich am ersten Tag der
Arbeitslosigkeit. Da sich die Gesetzgebung im sozialen Bereich ständig verändere hätten
selbst Experten Schwierigkeiten zu folgen. Daher könne man ihm als Laien nicht den
Vorwurf machen, dass er nicht ständig auf dem Laufenden sei. Eine Bestrafung nach
strafrechtlichen Maßstäben verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Da die
Minderungsbeträge nicht linear aufgebaut seien, werde auch das Gleichheitsprinzip
verletzt. Ein gleiches Vergehen werde je nach Höhe des Bemessungsentgelts
unterschiedlich geahndet.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.3.2004 als unbegründet
zurückgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 16.4.2004 Klage erhoben und auf seine Ausführungen im
Widerspruchsverfahren Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
ihm unter Abänderung des Bescheids vom 2.3.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 17.3.2004 Arbeitslosengeld ohne Minderung des Anspruchs wegen verspäteter
Arbeitslosmeldung zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen. § 37 b und § 140 SBB III dienten der frühzeitigen Eingliederung des
Arbeitssuchenden. Daher bestehe die Verpflichtung zur persönlichen
Arbeitssuchendmeldung bei Kenntnis der Beendigung des
Versicherungspflichtverhältnisses.
Auf Nachfrage des Gerichts hat die O OHG angegeben, dass eine Belehrung über die
vorzeitige Meldepflicht ab dem 1.7.2003 nicht erfolgt sei, da diese bisher nicht
bekanntgewesen sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akte der
Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen
sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 2.3.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.3.2004 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Minderung des Arbeitslosengeldanspruchs ist zu Unrecht erfolgt.
§ 37 Satz 1 SGB III schreibt vor, dass Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis
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endet, verpflichtet sind, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts
persönlich bei der Beklagten arbeitssuchend zu melden. Im Falle eines befristeten
Arbeitsverhältnisses hat die Meldung frühestens 3 Monate vor dessen Beendigung zu
erfolgen (§ 37 b Satz 2 SGB III). Die Pflicht zur Meldung besteht unabhängig davon, ob der
Fortbestand des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht wird.
Hat sich der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitssuchend
gemeldet, so mindert sich das Arbeitslosengeld, das dem Arbeitslosen aufgrund des
Anspruchs zusteht, der nach der Pflichtverletzung entstanden ist, nach den Maßgaben des
§ 140 SGB III.
Ob § 37 b und § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB III verfassungsmäßig sind (siehe dazu den
Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Frankfurt an das Bundesverfassungsgericht vom
1.4.2004, Az.: S 7 AL 42/04) kann dahinstehen, da die Voraussetzungen der beiden
Normen bereits tatbestandlich nicht erfüllt sind.
§ 37 b Satz 1 i. V. m. § 140 Satz 1 SGB III greift nur ein, wenn die Arbeitssuchendmeldung
nicht unverzüglich erfolgt ist. Der Begriff der Unverzüglichkeit ist im BGB (Bürgerliches
Gesetzbuch) legal definiert. Nach § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB bedeutet unverzüglich ohne
schuldhaftes Verzögern. Diese Definition gilt über § 216 Abs. 2 ZPO (Zivilprozessordnung)
und § 23 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) nach allgemeiner
Meinung im gesamten öffentlichen Recht (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
3.2.1992, Az.: 18 A 226/92.A; LSG Baden-Württemberg, Az.: L 3 AL 1267/04, Urteil v.
9.6.2004; Palandt-Heinrichs, § 121 BGB, Rn. 3, 62. Auflage 2003). Schuldhaft handelt nach
§ 276 Satz 2 BGB, wer vorsätzlich oder fahrlässig vorgeht. Auch § 276 BGB gilt für das
gesamte öffentliche Recht (LSG Baden-Württemberg, Az.: L 3 AL 1267/04, Urteil vom
9.6.2004; Gagel § 37 b SGB III, Rn. 15, Palandt/Heinrichs, § 276 BGB Rn. 4).
Der Kläger hat nicht vorsätzlich gegen die Meldepflicht des § 37 b Satz 1 SGB III verstoßen.
Er hat vorgetragen, von der gesetzlichen Meldepflicht keine Kenntnis gehabt zu haben.
Dies ist glaubhaft. Zum einen hat der Arbeitgeber des Klägers auf Nachfrage des Gerichts
angegeben, selbst zum Zeitpunkt der Kündigung nichts von dieser Meldepflicht gewusst
und den Kläger auch nicht darüber belehrt zu haben. Zum anderen hat der Kläger
vorgetragen, er habe ausgehend von der Belehrung der Beklagten bei seiner ersten
Arbeitslosigkeit geglaubt korrekt vorzugehen, wenn er sich am ersten Werktag nach Eintritt
der Arbeitslosigkeit arbeitssuchend melde.
Auch ein fahrlässiger Verstoß gegen die unverzügliche Meldepflicht kann dem Kläger nicht
angelastet werden. Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Betroffene die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt; wenn er den möglichen Eintritt des schädlichen
Erfolgs nicht erkannt, aber bei gehöriger Sorgfalt hätte vorhersehen und verhindern können
(Palandt/Heinrichs, § 276 Rn. 3 ff.). Der anzuwendende Sorgfaltsmaßstab ist ein auf die
allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteter objektiver Sorgfaltsmaßstab.
Entscheidend ist, dass im Rechtsverkehr grundsätzlich jeder darauf vertrauen können soll,
dass der andere die für die Erfüllung seiner Pflichten erforderlichen Kenntnisse und
Fähigkeiten besitzt (Palandt/Heinrichs § 276, Rn. 15; LSG Baden Württemberg a. a. O.).
Der Fahrlässigkeitsvorwurf kann grundsätzlich nicht dadurch entkräftet werden, dass sich
der Betroffene auf fehlende Kenntnis beruft. Er setzt voraus, dass der Betroffene außer Acht
lässt, was ein gewissenhafter Angehöriger des in Betracht kommenden Verkehrskreises in
derselben Situation gewusst und beachtet hätte.
Das BSG hat im Zusammenhang mit Mitwirkungspflichten einerseits und Beratungs- und
Hinweispflichten andererseits in anderem Zusammenhang bereits den Schluss gezogen,
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dass eine dem Sozialrechtsverhältnis vorgelagerte Obliegenheit bzw.
Obliegenheitsverletzung dem Betroffenen nur zugerechnet werden kann, wenn er entweder
eine offensichtliche und allgemein bekannte Verhaltenserwartung der
Versichertengemeinschaft missachtet oder eine ihm tatsächlich bekannte Obliegenheit
verletzt (BSG, B 7 AL 4/02 R vom 27.5.2003, Udo Geiger "Frühzeitige
Arbeitssuchendmeldung nach § 37 b SGB III - auch ohne Kenntnis und um ihrer selbst
Willen?" SGB 6/4000, S. 342 bis 344, 343).
Das Gericht geht im Einvernehmen mit dem LSG Baden-Württemberg (a.a.O.) davon aus,
dass der Betroffene mit dem Einwand, von der Obliegenheitspflicht nichts gewusst zu
haben, nicht gehört werden kann. Die tatsächliche oder angebliche Unkenntnis dieser
Rechtspflicht stellt jedoch keinen automatischen Verstoß gegen eigene Interessen dar.
Wenn das LSG Baden-Württemberg auf die Definition von § 121 Abs. 1 Satz 1 und § 276
BGB abstellt, muss geprüft werden, ob der Betroffene etwas außer Acht gelassen hat, was
ein besonnener und gewissenhafter Angehöriger des in Betracht kommenden
Verkehrskreises in der gleichen Situation getan hätte. Dazu ist zu ermitteln, was ein
besonnener und gewissenhafter Angehöriger des in Betracht kommenden Verkehrskreises
zum Zeitpunkt der Kündigung gewusst hat. Hat auch dieser Vergleichspersonenkreis nichts
von der Meldepflicht gewusst, kann die fehlende Kenntnis dem Betroffenen nicht angelastet
werden.
Nach Auffassung des Gerichts hat der überwiegende Teil der gewissenhaften Angehörigen
des in Betracht kommenden Verkehrskreises zum Zeitpunkt der Kündigung des Klägers
nichts von der Meldepflicht nach § 37 b SGB III gewusst. Entgegen der Ansicht des LSG
Baden-Württemberg (Urteil vom 9.6.2004 - S 3 AL 1267/04) geht das Gericht nicht davon
aus, dass diese verschärfte Regelung im ersten Halbjahr des Jahres 2003 Gegenstand so
vieler Medienberichte war, als dass der besonnene und gewissenhafte Angehörige des in
Betracht kommenden Verkehrskreises hierauf hätte aufmerksam werden und darüber
Bescheid wissen müssen. Zum einen ist den Medien angesichts der Flut von
Gesetzesänderungen in den verschiedensten Bereichen und insbesondere im
Sozialversicherungsrecht täglich eine Vielzahl von Gesetzesänderungen zu entnehmen.
Zum anderen hatte der betroffene Personenkreis, der im ersten Halbjahr des Jahres 2003
ja noch im Beruf stand und nichts von einer späteren Kündigung ahnte, sein Augenmerk
noch nicht auf diesbezügliche Gesetzesänderungen gerichtet. Darüber hinaus ist zu
beachten, dass die Berichterstattung der Medien oft zu allgemein und nicht auf den
individuellen Einzelfall bezogen erfolgt. Selbst die juristisch ausgebildete Öffentlichkeit, so
sie nicht auf Arbeitsförderungsrecht spezialisiert ist, wäre mit der präsenten Kenntnis aller
für Arbeitnehmer relevanten Neuregelungen überfordert. Es gibt auch keine Obliegenheit
eines Betroffenen, sich mittels geeigneter Medien über Gesetzesänderungen zu
informieren. Dass es keine generelle Pflicht gibt, das Recht zu kennen, zeigt die Tatsache,
dass im Strafrecht mit dem Institut des Erlaubnistatbestands und des Verbotsirrtums
gearbeitet wird.
Eine derartige Obliegenheit wäre auch mit der aus Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG)
abzuleitenden, negativen Informationsfreiheit nicht zu vereinbaren. Wäre der Gesetzgeber
davon ausgegangen, hätte er die Informationspflicht des Arbeitgebers nach § 2 Abs. 2 Satz
2 Nr. 3 SGB III nicht normieren müssen (siehe hierzu SG Freiburg S 9 AL 3989/03,
Gerichtsbescheid vom 15.4.2004).
Desweiteren ist dem Gericht auch keine groß angelegte Aufklärungskampagne der
Beklagten in Erinnerung. Auch hätte der Kläger, wenn er sich bereits frühzeitig das
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Merkblatt 1 für Arbeitslose besorgt hätte darin keinen Hinweis auf § 37 b und § 140 SGB III
entdecken können. Dieser Hinweis wurde erst im Merkblatt für Arbeitslose Stand 2004
aufgenommen.
Als weiteres Argument dafür, dass dem gewissenhaften Angehörigen des in Betracht
kommenden Verkehrskreises die vorzeitige Meldepflicht nicht bekannt war, ist anzuführen,
dass auch die Mehrzahl der Arbeitgeber zum 1.7.2003 noch nichts von der vorzeitigen
Meldepflicht und der ihnen bereits schon seit dem 1.1.2003 obliegenden Hinweispflicht
bekannt war. Nach dieser Vorschrift sollen Arbeitnehmer vor der Beendigung des
Arbeitsverhältnisses durch ihren Arbeitgeber frühzeitig über die Verpflichtung zur
unverzüglichen Meldung bei der Beklagten informiert werden. Diese Regelung soll den
nahtlosen Übergang des gekündigten Arbeitnehmers in eine neue Beschäftigung
ermöglichen. Zwar steht die Meldepflicht des Arbeitnehmers nach § 37 b SGB III nach der
Gesetzesbegründung nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahrnehmung
der Verpflichtung des Arbeitgebers.
So kann sich der Arbeitnehmer nicht durch den Hinweis exkulpieren, sein Arbeitgeber sei
der Pflicht aus § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III nicht nachgekommen. Wenn jedoch der
Arbeitgeber seiner bereits seit dem 1.1.2003 bestehenden Pflicht zur Belehrung nicht
nachkommt, ist dies ein Indiz dafür, dass dem maßgeblichen Personenkreis die
Verpflichtung zur vorzeitigen Meldung noch nicht bekannt sein musste. Zwar hat der
Gesetzgeber die Hinweispflicht des Arbeitgebers zeitlich 7 Monate vor der Verpflichtung
des Arbeitslosen, sich unverzüglich arbeitssuchend zu melden, Inkrafttreten lassen.
Dadurch sollte sichergestellt werden, dass der betroffene Personenkreis von seiner
vorzeitigen Meldepflicht Kenntnis hat. Nach Auffassung des Gerichts ist dieses Vorhaben
jedoch nicht in Erfüllung gegangen. Die Kammer hat in allen bei ihr zu dieser Rechtsfrage
anhängigen Verfahren Nachforschungen bei den Arbeitgebern angestellt. Den Antworten
ist zu entnehmen, dass der überwiegende Anteil der Arbeitgeber zum
streitgegenständlichen Zeitpunkt noch nichts von ihrer Hinweispflicht wussten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.