Urteil des SozG Düsseldorf vom 01.09.2006

SozG Düsseldorf: aufschiebende wirkung, anfechtungsklage, verwaltungsakt, stadt, leistungsanspruch, rechtsschutz, vollziehung, jugendamt, inhaber, realisierung

Sozialgericht Düsseldorf, S 28 AS 209/06 ER
Datum:
01.09.2006
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
28. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 28 AS 209/06 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Anfechtungsklage vom 20.06.2006 (S 00
AS 000/00 SG Düsseldorf) gegen den Bescheid vom 22.03.2006 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.05.2006 aufschiebende
Wirkung hat. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Antragstellers
dem Grunde nach.
Gründe:
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Der von dem Antragsteller am 20.06.2006 gestellte Antrag,
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die Abzweigung des monatlichen Betrages in Höhe von 98,00 Euro bis zur
rechtskräftigen Entscheidung in der Sache auszusetzen,
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hat insoweit Erfolg, als die aufschiebende Wirkung der gegen die
Abzweigungsentscheidung vom 22.03.2006 erhobenen Anfechtungsklage (S 00 AS
000/00 SG Düsseldorf) festzustellen ist.
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Der Antragsteller, die bei der Antragsgegnerin im laufenden Bezug von (ergänzenden)
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites
Buch -Grundsicherung für Arbeitssuchende- (SGB II) steht, wendet sich gegen die
monatliche Abzweigung (§ 48 Sozialgesetzbuch Erstes Buch -Allgemeiner Teil- SGB I)
des befristeten Zuschlages nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 SGB II), welcher
zugunsten seines unterhaltsberechtigten Sohnes L M von der Antragsgegnerin
einbehalten und an das Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG)
zahlende Jugendamt der Stadt N überwiesen wird.
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Das sinngemäße Begehren des Antragstellers ist darauf gerichtet, dass die
Abzweigungsentscheidung vom 22.03.2006 nach Einlegung der hiergegen erhobenen
Anfechtungsklage vom 20.06.2006 (S 00 AS 000/00 SG Düsseldorf) vorerst von der
Antragsgegnerin nicht mehr vollzogen werden darf. Es ist letztlich auf die Feststellung
gerichtet, dass der Anfechtungsklage gegen die Abzweigungsentscheidung
aufschiebende Wirkung zukommt. Wird die aufschiebende Wirkung der
Anfechtungsklage festgestellt, ist die Antragsgegnerin an einer sofortigen Vollziehung
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ihrer Abzweigungsentscheidung gehindert und der Antragsteller erreicht sein Ziel der
vorläufige Auszahlung der ihm bewilligten Leistungen nach dem SGB II in ungekürzter
Höhe (zuletzt ausweislich des Bescheides vom 27.06.2006 in Höhe von 282,33 Euro)
bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache. Verfahrensrechtlich handelt
es sich um einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gemäß § 86 b Abs. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG). Obgleich in § 86 b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGG nicht
ausdrücklich benannt, beinhaltet der einstweilige Rechtsschutz nach dieser Regelung
auch die Möglichkeit, die bereits Kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung
von Widerspruch und Anfechtungsklage ausdrücklich festzustellen, wenn eine Behörde
die aufschiebende Wirkung nicht beachtet (Meyer-Ladewig/Leitherer/Keller, SGG, 8.
Auflage 2005, § 86 b Rdn. 15). So liegt es hier. Die Antragsgegnerin hält ihre
Abzweigungsentscheidung vom 22.03.2006 für sofort vollziehbar und hat daher bereits
in der Vergangenheit die Abzweigung vorgenommen bzw. nimmt diese auch weiterhin
vor, obgleich die dagegen von dem Antragsteller erhobenen Rechtsbehelfe in Form von
Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben.
§ 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG ordnet als Grundsatz die aufschiebende Wirkung von
Widerspruch und Anfechtungsklage an. Der angefochtene belastende, d.h. in eine
Rechtsposition eingreifende Verwaltungsakt kann nicht vollzogen werden, es tritt ein
Schwebezustand ein, währenddessen vollendete Tatsachen nicht geschaffen werden
dürfen. Die aufschiebende Wirkung entfällt in den Fällen des § 86 a Abs. 2 Nr. 1-5 SGG.
Einer dieser Fälle liegt vorliegend nicht vor, insbesondere wird die sofortige Vollziehung
der Abzweigungsentscheidung nicht durch ein Bundesgesetz angeordnet (§ 86 a Abs. 2
Nr. 4 SGG).
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Zu Unrecht beruft sich die Antragsgegnerin insoweit auf § 39 SGB II. Nach § 39 Nr. 1
SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung.
Das an den Antragsteller gerichtete Schreiben vom 22.03.2006, in dem ihm von Seiten
der Antragsgegnerin die Einbehaltung des Arbeitslosengeld-Zuschlages zugunsten des
Jugendamtes der Stadt N mitgeteilt wird, ist als belastender Verwaltungsakt im Sinne
des § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -Sozialverwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz- (SGB X) zu qualifizieren. Es handelt sich hierbei aber nicht um
einen Verwaltungsakt im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II.
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Der Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II verlangt, dass durch Verwaltungsakt über Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitssuchende entschieden worden ist. Die
Abzweigungsentscheidung stellt keine Leistung der Grundsicherung für
Arbeitssuchende dar (Eicher/Spellbrink, SGB II, § 48 Rdn. 15; LSG Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 17.01.2006 -L 3 ER 128/05 AS- für den Fall der Aufrechnung gegen ein
Leistungsanspruch nach dem SGB II). Sie lässt vielmehr Anspruchsinhaber bzw.
Regelungen über Dauer/Höhe eines nach dem SGB II festgestellten
Leistungsanspruches unberührt. Mit der Abzweigungsentscheidung ergeht eine
Entscheidung des Leistungsträger über das von dritter Seite beantragte
Abzweigungsbegehren. Es wird mit ihr ein Anspruch des Abzweigungsbegünstigten,
also eine (vermeintliche) Schuld des Leistungsberechtigten gegen seinen bestehenden
Anspruch auf Leistungen zur Erfüllung gebracht. Der Leistungsanspruch selbst wird
durch die Abzweigung weder als solcher entzogen noch gemindert (Eicher/Spellbrink,
aaO § 48 Rdn. 15; LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 17.01.2006, aaO). Der
Leistungsanspruch des Leistungsberechtigten, von dem abgezweigt wird, steht damit
nicht im Streit. Die Abzweigung regelt bezogen auf die zugesprochenen Leistungen
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lediglich -wenn auch zwangsweise- eine Auszahlungsmodalität: für einen Teil der
Leistung wird ein anderer Zahlungsempfänger gesondert bestimmt (ähnlich SG
Oldenburg Beschluss vom 18.07.2005 -S 47 AS 397/05 ER-). Eine erweiternde
Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II über seinen Wortlaut hinaus dahingehend, dass auch
Abzweigungsentscheidungen in Bezug auf Leistungsansprüche nach dem SGB II unter
diese Regelung fallen, kann nicht vertreten werden. Vor dem Hintergrund, dass der
Suspensiveffekt Ausdruck des Grundsatzes der Garantie effektiven Rechtsschutzes
gemäß Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) ist, sind Ausnahmen von dem Grundsatz,
dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zukommen,
grundsätzlich eng auszulegen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.1.2006, aaO;
LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 26.04.2006 -L 3 ER 47/06 AS-). Auch eine
(analoge) Anwendung des § 39 Nr. 2 SGB II scheidet aus. Im Fall der Abzweigung nach
§ 48 SGB I handelt es sich nicht um einen "Übergang eines Anspruchs" im Sinne des §
39 Nr. 2 SGB II. Der Anspruch des Leistungsberechtigten wird nicht -auch nicht
teilweise- auf den Abzweigungsbegünstigten überführt. Inhaber des Leistungsanspruchs
nach dem SGB II bleibt allein der arbeitssuchende Leistungsberechtigte. Mit dem
Übergang eines Anspruches nach § 39 Nr. 2 SGB II dürften Ansprüche wie solche nach
§ 33 SGB II gemeint sein, nicht dagegen die Abzweigung nach § 48 SGB I, mit der eine
verwaltungstechnisch erleichterte Realisierung von Unterhaltsansprüchen gesichert
werden soll (zum Ganzen: Eicher/Spellbrink, aaO, § 39 Rdn. 17; ähnlich SG Oldenburg
Beschluss vom 18.07.2005, aaO). Eine erweiternde Auslegung des § 39 Nr. 2 SGG auf
Abzweigungsfälle verbietet sich aus den oben genannten Gründen.
Aufgrund der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage darf der
Arbeitslosengeld-Zuschlag von der Antragsgegnerin nicht einbehalten und an das
Jugendamt der Stadt N überwiesen werden. Der Betrag ist vielmehr mit den übrigen
Grundsicherungsleistungen an den Antragsteller vorläufig weiterhin auszuzahlen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
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