Urteil des SozG Düsseldorf vom 02.09.2008

SozG Düsseldorf: satzung, lfg, beschlussfähigkeit, unfallversicherung, arbeitsunfall, vorverfahren, sozialversicherung, erlass, zusammensetzung, minderung

Sozialgericht Düsseldorf, S 6 U 191/05
Datum:
02.09.2008
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Teilurteil
Aktenzeichen:
S 6 U 191/05
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
1. Der Widerspruchbescheid vom 07.11.2005 wird aufgehoben.
2. Im Übrigen wird das Verfahren bis zum Abschluss des Vorverfahrens
ausgesetzt.
3. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schluss-Urteil vorbehalten.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt in erster Linie die Zahlung einer Verletztenrente wegen der Folgen
eines anerkannten Arbeitsunfalls. Er beanstandet darüber hinaus, dass der bei der
Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss bei der Entscheidung über den
Widerspruch nicht ordnungsgemäß besetzt war.
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Der am 00.00.1945 geborene Kläger erlitt am 13.04.1963 einen Arbeitsunfall infolge
dessen die vordere Hälfte des linken Kleinfingerendgliedes amputiert wurde. Die MdE
hierfür (Minderung der Erwerbsfähigkeit) wurde mit 10 v.H. (vom Hundert) eingeschätzt
(Gutachten vom 18.10.1963 und Bescheid vom 06.03.1964). Am 23.04.2002 erlitt er
einen weiteren Arbeitsunfall (Wegeunfall - Sturz mit dem Fahrrad) und zog sich dabei
einen handgelenksnahen Speichenbruch links zu, die Folgen wurden (nur) mit einer
MdE von unter 10 v.H. bewertet (Gutachten vom 04.01.07 und Bescheid vom 06.02.07).
Im Oktober 2004 beantragte der Kläger außerdem die Anerkennung einer BK
(Berufskrankheit) "Lärmschwerhörigkeit" (Nr. 2301 der Anlage zur BKV
(Berufskrankheiten-Verordnung)). Insoweit wurde die bei ihm bestehende "Beginnende
Lärmschwerhörigkeit beiderseits" als BK anerkannt, die Zahlung einer Rente aber
abgelehnt, der beim Kläger vorliegende "Tinnitus rechts" wurde dabei als
unfallunabhängig angesehen (Bescheid vom 09.08.2005).
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Nach einer - nach Auswahl durch den Kläger (§ 200 Abs. 2 SGB VII (Sozialgesetzbuch -
Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung)) - von der Beklagten veranlassten
Untersuchung durch T (Leitender Arzt der Klinik für Handchirurgie) - dieser nahm für die
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Unfallfolgen eine MdE von unter 10 v.H. an (Gutachten vom 28.01.2005) - lehnte die
Beklagte weiterhin einen Rentenanspruch für die Folgen des Arbeitsunfalls vom
13.04.1963 ab (Bescheid vom 28.06.2005).
Der Widerspruch (Schriftsatz vom 20.07.05) blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom
07.11.2005).
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Der Widerspruchsbescheid wurde nicht von allen vier - sondern nur von drei -
Mitgliedern des Widerspruchsausschusses unterzeichnet. Ein Vertreter der Arbeitgeber
hatte am 03.11.2005 (Donnerstag) mitgeteilt, dass er an der Sitzung am 07.11.2005
(Montag) nicht werde teilnehmen können. Ein Vertreter wurde nicht bestellt. Die
Beklagte ging - unter Berufung auf ein Schreiben des BMA vom 19.02.1982 und § 21
ihrer Satzung - davon aus, dass die Beschlussfähigkeit des Widerspruchsausschusses
davon unberührt bleibe (siehe dazu den undatierten Aktenvermerk der Beklagten (Bl. 72
der Verwaltungsakten)).
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Mit seiner Klage verlangt der Kläger die Zahlung einer Verletztenrente aus Anlass des
Arbeitsunfalls vom 13.04.1963 (Schriftsatz vom 20.07.05). Hilfsweise begehrt er die -
isolierte - Aufhebung des Widerspruchsbescheides.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 28.06.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07.11.2005 zu verurteilen, ihm aus Anlass des
Arbeitsunfalls vom 13.04.1963 Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H.,
hilfsweise bei Stützsituation, zu gewähren,
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hilfsweise den Widerspruchsbescheid vom 07.11.2005 wegen formeller Mängel
aufzuheben,
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äußerst hilfsweise das Verfahren nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG auszusetzen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält ihre Entscheidung in der Sache für zutreffend (Schriftsätze vom 03.01. und
12.12.06).
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Auch in förmlicher Hinsicht sieht sie keinen Grund zur Beanstandung des
Widerspruchsbescheides. Sie ist der Auffassung, dem Widerspruchsausschuss als
besonderem Ausschuss nach § 36a SGB IV (Sozialgesetzbuch - Viertes Buch -
Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung) komme rechtlich
Organeigenschaft zu, weshalb § 64 Abs. 1 SGB IV auf seine Beschlussfähigkeit
anwendbar sei (Schriftsatz vom 12.12.06).
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Das Gericht hat die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die
Schwerbehindertenakten nebst den diesbezüglichen Prozessakten (S 18 SB 131/03
und S 30 SB 254/05) beigezogen. Es hat außerdem das von der Beklagten genannte
Schreiben des BMA angefordert und den Spitzenverbänden der gesetzlichen
Unfallversicherung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben (Richterbrief vom
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02.04.2007). Der HVBG (Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaften) hat
hiervon Gebrauch gemacht. Auf den Inhalt seiner Stellungnahme(n) vom 20.04.2007
wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den
restlichen Inhalt der Akten verwiesen. Auch dieser ist Gegenstand der ausführlichen
mündlichen Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist zulässig. Sie erweist sich - zumindest -
insoweit als begründet, als - zunächst nur - der Widerspruchsbescheid aufzuheben ist.
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Der angefochtene Widerspruchsbescheid ist nicht nichtig, da er nicht offensichtlich ist,
dass er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet (§ 40 SGB X). Er ist aber
rechtwidrig, weil er nicht rechtmäßig zustande gekommen, da nicht alle zur
Entscheidung berufenen Mitglieder des Widerspruchsausschusses mitgewirkt haben.
Die Beklagte hat das Vorverfahren daher erneut - und nunmehr ordnungsgemäß -
durchzuführen.
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Nach § 95 SGG (Sozialgerichtsgesetz) ist - sofern (wie hier) ein Vorverfahren
stattgefunden hat - Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der
Gestalt, den er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Hieraus ergibt sich -
jedenfalls im Grundsatz - die Unzulässigkeit einer - isolierten - Anfechtung (nur) des
Widerspruchsbescheides. Da das (eigentliche) Klageziel (hier die Zahlung einer Rente
wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls) nur durch Beseitigung sowohl des ablehnenden
Bescheides als auch des Widerspruchsbescheides erreicht werden kann, fehlt in der
Regel das Rechtsschutzinteresse für eine isolierte Anfechtungsklage gegen den
Widerspruchsbescheid.
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Ausnahmsweise kann aber die alleinige (isolierte) Anfechtung des
Widerspruchsbescheides zulässig sein, wenn - und nur insoweit - dieser eine eigene
Beschwer enthält (Urteil des BSG (Bundessozialgericht) - 9 RV 10/95 - vom 15.08.1996
- jurisRn. 14 - SozR 3-1300 § 24 Nr. 13 = HVBG-INFO 1997, 1562; Urteil des BSG - 9
SB 14/97 R - vom 25.03.1999 - jurisRn. 18 - SozR 3-1300 § 24 Nr. 14 = HVBG-INFO
1999, 2694; Urteil des LSG (Landessozialgericht) Bremen - L 3 Vs 48/97 - vom
15.07.1998 - jurisRn. 24 - HVBG-INFO 1999, 252; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/
Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 95 Rn. 3a).
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Die (zusätzliche) eigene Beschwer kann dabei (auch) allein formeller Art sein (Urteil des
BSG - 9 SB 14/97 R - vom 25.03.1999 - jurisRn. 20 - SozR 3-1300 § 24 Nr. 14 = HVBG-
INFO 1999, 2694; Urteil des Bayerischen LSG - L 19 R 96/05 - vom 26.10.2005 -
jurisRn. 22; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 95 Rn.
3c; Binder in: Hk-SGG, 2. Aufl. 2006, § 95 Rn. 7; Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl., 83.
Lfg., 4/2004, § 95 Rn. 6).
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In einem solchen Fall ist die isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides durch ein
Teilurteil möglich (Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen - L 7 SB 97/99 - vom 04.11.1999
- jurisRn. 22; Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen - L 6 SB 238/99 - vom 22.02.2000 -
jurisRn. 17; Binder in: Hk-SGG, 2. Aufl. 2006, § 95 Rn. 12).
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Im Übrigen ist dann das sozialgerichtliche Verfahren bis zur - ordnungsgemäßen -
Nachholung des Vorverfahrens auszusetzen (Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen - L 6
SB 238/99 - vom 22.02.2000 - jurisRn. 18; Binder in: Hk-SGG, 2. Aufl. 2006, § 95 Rn.
12).
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Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IV kann der Erlass von Widerspruchsbescheiden
durch Satzung besonderen Ausschüssen übertragen werden, wobei dann die Satzung
nach § 36a Abs. 2 Satz 1 SGB IV das Nähere regelt, insbesondere die
Zusammensetzung der besonderen Ausschüsse und die Bestellung ihrer Mitglieder.
Hiervon hat die Beklagte Gebrauch gemacht - § 21 ihrer Satzung - vom 01.01.1997 in
der Fassung vom 17.05.2004 - lautet: Widerspruchs- und Einspruchsausschüsse (1) Die
Vertreterversammlung bildet gemäß § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG, § 36a Abs. 1 Nr. 1 SGB IV, §
112 Abs. 2 SGB IV und § 13 Nr. 13 der Satzung Widerspruchs- und
Einspruchsausschüsse. (2) Die Widerspruchs- und Einspruchsausschüsse setzen sich
aus je zwei Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber zusammen. Für die
Ausschußmitglieder ist jeweils mindestens ein Stellvertreter zu bestellen. Mitglieder der
Widerspruchs- und Einspruchsausschüsse können nur Personen sein, die die
Voraussetzungen der Wählbarkeit als Organmitglied erfüllen. (3)Die §§ 12, 18 und 20
Abs. 2 und Abs. 3 der Satzung gelten entsprechend.
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Weder in einer der ausdrücklich für entsprechend anwendbar erklärten noch in einer
anderen Satzungsbestimmung sind Regelungen zur Ladung der Ausschussmitglieder
oder zur Beschlussfähigkeit der besonderen Ausschüsse zu finden.
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Soweit die Beklagten - unter Verweis auf die Mitteilung des BMA (Bundesminister für
Arbeit und Sozialordnung) vom 19.02.1982 (unter dem Geschäftszeichen IV a 6 -
40537/3) - annimmt, § 64 SGB IV - wonach für die Beschlussfähigkeit die
ordnungsgemäße Ladung der Mitglieder und die Anwesenheit der Mehrheit der
stimmberechtigten Mitglieder genügt - sei auch auf die Beschlussfassung der
besonderen Ausschüsse anwendbar, unterliegt sie nach Auffassung des Gerichts einem
- vermeidbaren - Irrtum. Diese Vorschrift gilt gerade nicht für Widerspruchsausschüsse
nach § 36a SGB IV, sondern - wie bereits der Wortlaut eindeutig offenbart - nur für die
Selbstverwaltungsorgane. Welche dies sind ist - ebenso klar - in § 31 SGB IV gesetzlich
geregelt. Die besonderen Ausschüsse sind dort (aber) nicht aufgeführt.
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Anders als vom Gesetzgeber bei den Erledigungsausschüssen nach § 66 SGB IV in
Abs. 2 angeordnet, ist für die besonderen Ausschüsse in § 36a SGB IV auch keine
entsprechende Anwendbarkeit der für die Selbstverwaltungsorgane geltenden Norm
des § 64 SGB IV gesetzlich vorgesehen. Ob die Beklagte dies - im Hinblick auf die in §
36a Abs. 2 Satz 1 SGB IV ausgesprochene Ermächtigung - in ihrer Satzung hätte regeln
können (hiervon ist nach Auffassung des Gerichts auszugehen), kann hier dahingestellt
bleiben. Die Beklagte hat eine solche Regelung jedenfalls nicht in ihrer Satzung
getroffen.
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Soweit die Kommentarliteratur von einem "Organcharakter" (Schneider-Danwitz in:
jurisPK-SGB IV, § 36a Rn. 12) bzw. einer "organähnlichen Stellung" der besonderen
Ausschüsse ausgeht (Maier in: Kasseler Kommentar, § 36a SGB IV Rn. 2; Bereiter-
Hahn/ Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Lfg. 2/07, SGB IV § 36a Rn.1) bzw.
ihnen eine "rechtliche Organeigenschaft" zuspricht (Hauck in Hauck/Noftz, SGB IV, 22.
Lfg. II.97, § 36a Rn. 6; Becher, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, 15. Lfg.
VI.98, § 36a SGB IV Erl. 1 S. 2; a.A. Jansen in Jahn: Sozialgesetzbuch für die Praxis,
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SGB IV (Stand 15.10.2000), § 36a Rn. 3; kritisch auch Vömel, Zweifelsfragen zu den
besonderen Ausschüssen nach § 36a SGB IV, DRV 1982, 339 (346/347)), folgt daraus
allein ohnehin nicht bereits die - entsprechende oder analoge - Anwendbarkeit des § 64
SGB IV. Die entsprechende Geltung ist vom Gesetzgeber gerade nicht angeordnet
worden und für eine Analogie ist mangels erkennbarer Gesetzeslücke - sowohl in Abs. 1
Satz 2 als auch in Abs. 3 des § 36a SGB IV sind detaillierte Regelungen hinsichtlich
entsprechend anwendbarer Normen getroffen und im Übrigen ist eine Regelung durch
Satzung möglich (Abs. 2 Satz 1) - auch kein Raum. Soweit sich die Rechtsprechung -
sofern dieses Problem überhaupt angesprochen worden ist - bislang der Auffassung der
beklagten Berufsgenossenschaft angeschlossen hat, ist - soweit hier ersichtlich - eine
inhaltliche Auseinandersetzung mit der vorliegenden Problematik überhaupt nicht
erfolgt. Die Kammer folgt dem ausdrücklich nicht (mehr) und hebt daher den -
rechtswidrigen - Widerspruchsbescheid auf und setzt das Verfahren im Übrigen bis zur
ordnungsgemäßen Nachholung des Vorverfahrens aus, da es nicht anstelle des
Widerspruchsausschusses entscheiden kann, weil dieser neben der Rechtmäßigkeit -
anders als das Gericht - (auch) über die Zweckmäßigkeit zu befinden hat (§ 78 Abs. 1
Satz 1 SGG).
Zumal eine höchstrichterliche Entscheidung fehlt, wird die Revision wegen
grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 161 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 160 Abs. 2
Nr. 1 SGG).
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