Urteil des SozG Düsseldorf vom 03.05.2007

SozG Düsseldorf: untätigkeitsklage, behörde, einverständnis, widerspruchsverfahren, ermessen, zukunft, druck, muster, vorsicht, kauf

Sozialgericht Düsseldorf, S 29 AS 251/06
Datum:
03.05.2007
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
29. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 29 AS 251/06
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Gründe:
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Auf den Antrag der Klägerin waren ihre außergerichtlichen Kosten der Beklagten
aufzuerlegen.
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Gemäß § 193 Abs. 1, 2. Halbsatz Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht
auf Antrag durch Beschluss darüber, ob und in welchem Umfang die Beteiligten
einander Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren anders als durch Urteil
beendet wird.
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Das Gericht entscheidet über die Kosten nach sachgemäßem richterlichen Ermessen,
wobei in erster Linie der vermutliche Verfahrensausgang maßgebend ist. In der Regel
ist es billig, dass der Unterlegene die Kosten trägt.
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Vgl. Bundessozialgericht (BSG), BSGE 17, 124 (128); SozR Nr. 4 zu § 193;
Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Urteil vom
15.09.1999 – L 6 B 24/99 SB –; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., 2005, §
193 Rn. 12 f.
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Das Gericht muss jedoch alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Es kann
insbesondere darauf abstellen, welcher Beteiligte Anlass für die Klageerhebung
gegeben hat.
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Vgl. LSG NRW, a. a. O.; Beschlüsse vom 30.11.2004 – L 16 B 152/04 KR ER – und – L
16 B 99/04 KR ER –; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 11.03.2003 – L 13
B 34/02 SB – und vom 26.05.2003 – L 13 B 13/03 SB –; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
a. a. O., Rn. 12 b.
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Nachdem die Beklagte über den Widerspruch der Klägerin vom 28.06.2005 gegen den
Bescheid vom 31.05.2005 mit Widerspruchsbescheid vom 23.01.2007 entschieden hat,
hat die Klägerin den Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 29.01.2007 für erledigt erklärt. Die
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Beklagte hat sich dem mit Schriftsatz vom 02.03.2007 angeschlossen.
Es entspricht billigem Ermessen, die außergerichtlichen Kosten der Klägerin der
Beklagten aufzuerlegen. Die am 24.08.2006 bei Gericht eingegangene
Untätigkeitsklage auf Bescheidung des Widerspruchs der Klägerin vom 28.06.2005
gegen den Bescheid vom 31.05.2005 war zulässig und begründet.
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Die Sperrfrist von drei Monaten nach § 88 Abs. 2 SGG für die Erhebung einer
Untätigkeitsklage auf Bescheidung eines Widerspruchs war lange abgelaufen, da über
den Widerspruch vom 28.06.2005, der am 01.07.2005 bei der Beklagten eingegangen
war (Beiakte 1 zu S 29 AS 90/05, Bl. 70), bis zur Klageerhebung über einen Zeitraum
von fast 14 Monaten keine Entscheidung ergangen war.
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Dies ist auch ohne zureichenden Grund im Sinne von § 88 Abs. 1 SGG erfolgt.
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Das Abwarten eines "Musterprozesses" oder eines anderweitig für die ausstehende
Entscheidung beachtlichen Verfahrens ist kein zureichender Grund für ein
Hinausschieben der Entscheidung durch die Behörde, es sei denn der Antragsteller ist
damit einverstanden oder die Entscheidung ist in naher Zukunft zu erwarten,
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vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., 2005, § 88, Rn. 7b m. w. N.
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Hier hält die Beklagte ein Zuwarten auf die Entscheidungen des Sozialgerichts
Düsseldorf in den Sachen S 25 (3) AL 116/05 und S 29 AS 90/05 für angezeigt. In dem
Klageverfahren bei der 25. Kammer sieht die Klägerin eine gewisse Chance, dass ein
längerer Zeitraum des Bezuges von Arbeitslosengeld I (ALG I) für sie herauskommt, was
die in Bezug auf den angegriffenen Bescheid vom 31.05.2005 streitige Frage des
Zuschlags nach § 24 Zweites Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für
Arbeitssuchende – (SGB II) beeinflussen mag. Im Klageverfahren S 29 AS 90/05 geht es
auch um den Zuschlag nach § 24 SGB II, jedoch für einen früheren Zeitraum und andere
Bescheide. Im Verfahren der 25. Kammer ist nicht absehbar, wann entschieden wird.
Dies gilt auch für das Verfahren S 29 AS 90/05, weil dies im Hinblick auf das Verfahren
bei der 25. Kammer mit dem Einverständnis der Beteiligten ruhend gestellt wurde. Somit
sind Entscheidungen in diesen Verfahren "in naher Zukunft" nicht zu erwarten.
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Die Klägerin bzw. ihr Prozessbevollmächtigter haben sich mit dem Ruhen des
Widerspruchsverfahrens bezüglich des Widerspruchs vom 28.06.2005 im Hinblick auf
die Klageverfahren S 25 (3) AL 116/05 und S 29 AS 90/05 nicht ausdrücklich
einverstanden erklärt.
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Dies ist auch nicht konkludent erfolgt. Die Erklärung des Prozessbevollmächtigten der
Klägerin vom 30.11.2005, er sei mit einem Ruhen des Verfahrens S 29 AS 90/05 im
Hinblick auf das Verfahren S 25 (3) AL 116/05 einverstanden, ist nicht zugleich als
Einverständnis mit einem (faktischen) Ruhen des Widerspruchsverfahrens gegen den
Bescheid vom 31.05.2005 auszulegen. Damit durfte die Beklagte nicht davon ausgehen,
die Klägerin sei mit einem Hinausschieben einer Entscheidung über ihren Widerspruch
vom 28.06.2005 einverstanden.
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Es lag zwar nahe, das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 31.05.2005
formal oder faktisch zum Ruhen zu bringen, solange keine Entscheidungen in den
anhängigen Klageverfahren bei der 25. und 29. Kammer des Gerichts getroffen worden
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sind. Jedoch hätte die Beklagte zur Vermeidung einer für sie kostenpflichtigen
Untätigkeitsklage im Hinblick auf den Widerspruch vom 28.06.2005 den
Prozessbevollmächtigten der Klägerin kontaktieren müssen, um sich ein ausdrückliches
oder schlüssiges Einverständnis mit einem Ruhen des Widerspruchsverfahrens geben
zu lassen. Es hätte wohl gereicht, wenn sie ihn sinngemäß angeschrieben hätte, es
werde davon ausgegangen, dass er mit einem Ruhen des Widerspruchsverfahrens bis
zur Entscheidung der anhängigen Klageverfahren einverstanden sei. Dann hätte es ihm
oblegen, dem zu widersprechen, wenn er nicht einverstanden wäre. Die Beklagte hat
jedoch in dieser Hinsicht nichts unternommen. Damit hat sie das Risiko einer
Untätigkeitsklage und der damit verbundenen Kosten in Kauf genommen.
Es kommt bei der Entscheidung nicht darauf an, ob der Beklagten das von der Klägerin
in der Klageschrift dieses Verfahrens vom 24.08.2006 erwähnte Schreiben an die
Beklagte vom 10.08.2006, in dem die Klägerin auf § 88 SGG hingewiesen haben will,
tatsächlich zugegangen ist. Denn die Klägerin war nicht verpflichtet, vor Erhebung einer
Untätigkeitsklage bei der Beklagten eine Entscheidung über ihren Widerspruch vom
28.06.2005 "anzumahnen". Grundsätzlich ist es gerade Zweck der Sperrfristen nach §
88 SGG, dass die Antragsteller Untätigkeitsklage nach Ablauf der Fristen erheben
dürfen, ohne sich über das Vorliegen eines zureichenden Grundes Gedanken machen
und hierzu bei den Behörden vorsorglich nachfragen zu müssen. Zugleich können die
Behörden sich darauf verlassen, dass sie bei Anträgen nach § 88 Abs. 1 SGG sechs
Monate und bei Widersprüchen nach § 88 Abs. 2 SGG drei Monate Zeit für eine
Bescheidung ohne den Druck einer Untätigkeitsklage haben,
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vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., Rn. 5a m. w. N.
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Eine Verpflichtung zur Nachfrage zur Vermeidung der Kostentragung vor Erhebung
einer Untätigkeitsklage kann sich aus anderen Umständen, insbesondere
Sachstandsmitteilungen oder Zwischenbescheiden ergeben. Aus den hier vorliegenden
Umständen ergab sich eine solche Pflicht der Klägerin, vor Erhebung einer
Untätigkeitsklage mit der untätigen Behörde Kontakt aufzunehmen, nicht. Die Klägerin
und ihr Prozessbevollmächtigter haben der Beklagten im Hinblick auf das
Widerspruchsverfahren zum Bescheid vom 31.05.2005 überhaupt keinen Anlass
gegeben, berechtigterweise davon auszugehen, dass sie mit einem Hinausschieben
einer Entscheidung im Hinblick auf die anhängigen Klageverfahren einverstanden
wären. Hätte die Beklagte das Schreiben vom 10.08.2006 seitens des
Prozessbevollmächtigten der Klägerin tatsächlich erhalten, hätte sie die Kosten erst
recht zu tragen.
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Der Beklagten wird – insoweit informationshalber - darin zugestimmt, dass es sinnvoll
ist, Widerspruchsverfahren ruhend zu stellen, wenn die identische Rechts- oder
Tatsachenfrage für andere Bewilligungszeiträume und andere Bescheide bereits
Gegenstand von anderen (Gerichts-)Verfahren ist. Dann hat die Behörde es in der Hand,
den Betroffenen um sein Einverständnis mit einem Ruhen des Verfahrens bis zu einer
Entscheidung in einem vorgreiflichen oder Muster-Verfahren zu bitten. So wissen dann
beide Seiten, woran sie sind, und die Behörde kann sich darauf verlassen, dass sie bis
zu einer gegenteiligen Mitteilung des Betroffenen keine Untätigkeitsklagen zu
gewärtigen hat. Nicht zugestimmt werden kann der Beklagten hingegen, soweit sie dem
Prozessbevollmächtigten der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 26.09.2006 vorhält, dass
er bei bereits anhängigen Widerspruchs- oder Klageverfahren weitere Widersprüche
gegen Bescheide für Folgezeiträume erhebe. Dies ist aus Gründen anwaltlicher
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Vorsicht notwendig, um die Bestandskraft von Bescheiden zu verhindern. Das gilt
jedenfalls solange, bis eine Behörde dem Antragsteller oder seinem
Prozessbevollmächtigten gegenüber verbindlich zusichert, sie werde Folgezeiträume
trotz Bestandskraft entsprechend dem Ergebnis eines anhängigen
Rechtsbehelfsverfahrens in Bezug auf die identische Rechts- oder Tatsachenfrage
nachträglich regeln und gegebenenfalls nachbewilligen und nachzahlen. Dies ist hier
nicht erfolgt.
Die Kostentragung durch die Beklagte ist nach den vorstehenden Ausführungen auch
nicht unter Berücksichtigung des Gesichtspunkts der Veranlassung der Klageerhebung
unbillig.
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