Urteil des SozG Düsseldorf vom 02.07.2010

SozG Düsseldorf (unechte rückwirkung, bundesrepublik deutschland, sozialhilfe, rückforderung, bezug, leistung, rückwirkung, vorschrift, verhalten, höhe)

Sozialgericht Düsseldorf, S 22 (45,25) SO 26/07
Datum:
02.07.2010
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
22. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 22 (45,25) SO 26/07
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 27.03.2007 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 03.07.2007 wird aufgehoben. Die
Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Rückforderung von 4.041,27 EUR für den Zeitraum von Februar 1999 bis
September 1999.
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Die im Jahre 1972 geborene Klägerin reiste im Jahre 1995 als Spätaussiedlerin von
Kasachstan mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 01.05.1996
beantragte sie bei der Beklagten Sozialhilfe, die ihr auch ab diesem Zeitpunkt gewährt
wurde. Ab 01.02.1999 begann die Klägerin eine vom Jugendamt der Stadt X vermittelte
und durch die Arbeitsvermittlung geförderte Umschulungsmaßnahme. Am 01.02.1999
unterrichtete das Jugendamt die Beklagte per Fax (Blatt 136 der Leistungsakte) über
den Schulungsvertrag und erklärte gleichzeitig, ein Ablehnungsbescheid über die ESF
(Europäischer Sozialfonds)-Förderung werde noch erstellt. Ein solcher Anspruch
bestehe nicht. Am 16.04.1999 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf ESF-
Leistungen. Diese wurden ihr rückwirkend durch Bescheid des Arbeitsamtes X vom
07.10.1999 (Blatt 153 b der Leistungsakte) ab 01.02.1999 bis 31.12.2000 gewährt. Dies
teilte die Klägerin der Beklagten im November 1999 mit und übersandte gleichzeitig
Kontoauszüge, auf denen eine Nachzahlung des Arbeitsamtes X am 14.10. in Höhe von
8.400,00 DM ersichtlich war. In einem Aktenvermerk der Beklagten (Blatt 153 der
Leistungsakte) heißt es, die Sozialhilfe sei ab 01.12.1999 einzustellen und es habe eine
"Rückrechnung und Rückforderung" ab 01.02.1999 zu erfolgen.
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Am 24.01.2001 beantragte die Klägerin erneut Sozialhilfe für sich und ihre Schwestern,
die durch Bescheid vom 23.07.2001 gewährt wurde. Zuletzt wurde Sozialhilfe bis zum
30.04.2002 geleistet. Unter dem 11.11.2005 (Blatt 241 der Leistungsakte) erreichte die
Beklagte eine anonyme Anzeige, in der unter anderem angezeigt wurde, die Klägerin
habe neben der Unterstützung durch das Sozialamt Auszahlungen des "Eurofonds" in
Höhe von ca. 10.000,00 DM bekommen und behalten. Unter dem 01.02.2007 (Blatt 295
der Leistungsakte) wurde die Klägerin zu einer beabsichtigten Rückforderung der für
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Februar bis September 1999 gezahlten Sozialhilfe im Rahmen von § 105 des Zwölften
Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) in Höhe von 4.041,27 EUR angehört. Durch
Bescheid vom 27.03.2007 wurde die Rückforderung in entsprechender Höhe gestützt
auf § 105 SGB XII ausgesprochen. Insoweit wird auf Blatt 298 bis 300 der Leistungsakte
Bezug genommen. Hiergegen erhob die Klägerin unter dem 05.04.2007 Widerspruch.
Insoweit wird auf Blatt 302 ff. der Leistungsakte Bezug genommen. Diesen wies die
Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 03.07.2007 (Blatt 310 ff. der Leistungsakte),
auf den inhaltlich Bezug genommen wird, zurück.
Hiergegen richtet sich die unter dem 18.07.2007 erhobene Klage.
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Die Klägerin ist der Ansicht, sie dürfe den streitigen Betrag behalten, da ihr ein
Rechtsgrund für das Behaltendürfen zur Seite stehe. Insbesondere sei fraglich, ob der
hier zur Anwendung gelangte § 105 SGB XII auf Altfälle - wie vorliegend - Anwendung
finde. Diese Vorschrift sei erst im Jahre 2003 verkündet worden und 2005 in Kraft
getreten. Auf den weiteren Inhalt der Klagebegründung wird Bezug genommen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 27.03.2007 in der Form des Widerspruchsbescheides
vom 03.07.2007 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, der zum 01.01.2005 in Kraft getretene § 105 SGB XII finde auch
auf grundsätzlich nach dem BSHG zu beurteilende Fälle Anwendung. Eine
Übergangsvorschrift, der zu entnehmen wäre, dass nur Leistungen zurückgefordert
werden dürften, die nach dem 01.01.2005 erbracht worden sind, fehle. Auf die weiteren
Ausführungen in der Klageerwiderung (Blatt 21 ff. der Gerichtsakte) wird Bezug
genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen
Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Leistungsakte der Beklagten
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid vom 27.03.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
03.07.2007 war aufzuheben, denn er ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin im
Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die in diesem Bescheid
ausgesprochene Rückforderung des Betrages von 4.041,27 EUR kann nicht auf die
Vorschrift des § 105 SGB XII gestützt werden. Die erstmals zum 30.03.2005 in Kraft
getretene Vorschrift ist auf den aus dem Jahre 1999 stammenden Sachverhalt nicht
anwendbar. Eine Anwendung des § 105 SGB XII in diesem Falle wäre eine
verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung. Im Bundessozialhilfegesetz (BSHG)
war eine dem § 105 Abs. 1 SGB XII entsprechende Vorschrift nicht enthalten. Das
Zusammentreffen von zwei rechtmäßigen Leistungen wie hier zum einen die
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Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG und die erst später bewilligten Leistungen des
Europäischen Sozialfonds, löste keinen Erstattungsfall nach dem BSHG bzw. dem SGB
X aus. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 17.08.1995 (5 C 26/93)
ausdrücklich festgestellt, eine doppelte Leistung, die entstanden sei, "weil der vorrangig
verpflichtete Leistungsträger in Unkenntnis der Leistung des nachrangig verpflichteten
seinerseits befreiend an den Sozialleistungsempfänger geleistet habe", müsse solange
hingenommen werden, wie der Gesetzgeber die geltende Rechtslage nicht ändere und
eine den Doppelbezug von Sozialleistungen im Bereich des Sozialhilferechts
schlechthin vermeidende Regelungen nicht getroffen habe. Diesen Einwand aufgreifend
hat sich der Gesetzgeber mit Inkrafttreten des SGB XII zum 01.01.2005 entschlossen,
die aufgezeigte Regelungslücke zu schließen. Der Tatbestand des neu geschaffenen §
105 SGB XII knüpft allerdings lediglich an eine doppelte Leistung des einen
Leistungsträgers in Unkenntnis der Leistung des Trägers der Sozialhilfe an, ohne dass
dem zur Erstattung Verpflichteten ein vorwerfbares Verhalten an dieser Doppelleistung
angerechnet werden könnte. Genau aus diesem Grund kommt auch eine Rückwirkung
der Erstattungsnorm für die Vergangenheit nicht in Betracht. Es würde so in einen in der
Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen. Nach der im
Jahre 1999 geltenden Rechtslage war eine Rückforderung der doppelten Leistungen für
die Zeit von Februar bis September 1999 nicht möglich. Es ist der Klägerin, die
unverzüglich nach Erhalt der Leistung im Oktober 1999 die Beklagte über die
Bewilligung und auch - belegt durch Kontoauszüge - über den Eingang der Zahlung auf
ihrem Konto unterrichtet hat, kein schuldhaftes Handeln zu unterstellen, das
möglicherweise einen erst später rechtlich möglichen Zugriff auf die Klägerin
rechtfertigen würde. Eine - zulässige - unechte Rückwirkung einer Norm wird nur
angenommen, wenn sie an einen in der Vergangenheit begonnenen, aber noch nicht
endgültig abgeschlossenen Sachverhalt oder an ein in der Vergangenheit begründetes
und noch nicht beendetes Rechtsverhältnis anknüpft und mit Wirkung für die Zukunft
bestimmte Rechtsfolgen vorsieht (so auch die von der Beklagten zitierten
Entscheidungen: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 20.10.1995,
Az.: 6 S 2670/94 und Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom
11.07.1996, Az.: BS IV 111/96). Der vorliegende Sachverhalt war jedoch, was die Zeit
von Februar bis September 1999 betrifft, abgeschlossen, die Klägerin sogar seit dem
Jahr 2002 aus der Sozialhilfe ausgeschieden. Erst am 01.02.2007 rollte die Beklagte für
den hier streitigen Zeitraum den Sachverhalt mit Hilfe des im Jahre 2005 neu
geschaffenen § 105 SGB XII neu auf. Die von der Beklagten zitierten Urteile, die eine
zulässigen unechte Rückwirkung unter Umständen bei nicht erledigten Erstattungsfällen
annehmen, können vorliegend nicht herangezogen werden. In den Urteilen heißt es
ausdrücklich, für die, durch die neu geschaffenen Regelungen in Anspruch
genommenen Schuldner könne kein schutzwürdiges Vertrauen angenommen werden,
da sie die zu Unrecht erhaltene Sozialhilfeleistung vorsätzlich oder grob fahrlässig
verursacht hätten. Sie hätten deshalb nicht darauf vertrauen dürfen, dass sie für dieses
Verhalten nicht in Anspruch genommen würden (vgl. Hamburgisches
Oberverwaltungsgericht, Rd.Ziff. 6 aaO.). Genau dies kann aber bei der Klägerin des
vorliegenden Falles nicht angenommen werden. Allein die nochmalige Antragstellung
auf Leistungen aus dem Europäischen Sozialfonds im April 1999 ist nach Auffassung
der Kammer nicht ausreichend, vorwerfbares Verhalten zu begründen. Der Beklagten
war bei der Antragstellung von Sozialhilfeleistungen mitgeteilt worden, dass die
Klägerin mit Beginn ihres Praktikums Leistungen des Europäischen Sozialhilfefonds
beantragt hatte, die zunächst jedoch abgelehnt worden waren. Der entsprechende
Ablehnungsbescheid lag der Beklagten vor. Die Klägerin hat durch die erneute
Antragstellung von einem ihr zustehenden Recht Gebrauch gemacht, welches aus
diesem Grunde nicht zugleich ein vorwerfbares Verhalten darstellen kann. Selbst wenn
die Klägerin bereits die Antragstellung gegenüber der Beklagten angezeigt hätte, hätten
daraus keine Konsequenzen folgen können bis zur tatsächlichen Leistungsbewilligung.
Gerade diese Leistungsbewilligung hat die Klägerin aber sofort angezeigt, ebenso wie
die nachträgliche Auszahlung rückwirkend ab Februar 1999. Bis zu dieser
Leistungsbewilligung im Oktober 1999 war die Klägerin hilfebedürftig, sodass die von
der Beklagten gezahlten Sozialhilfeleistungen auch zu Recht erfolgten. Die Leistungen
für Oktober und November wurden - zu spät - zurückgefordert. Die Leistungen für
Dezember konnten rechtzeitig eingestellt werden. Dass letztendlich auch die eigentlich
noch mögliche Rückforderung der Monate Oktober und November nicht zum Erfolg
geführt hat, kann der Klägerin nicht angelastet werden Insoweit wird auf das
Sitzungsprotokoll der ebenfalls am 02.07.2010 verhandelten Parallelverfahren S 22
(45,25) SO 34/07 und S 22 (45,25) SO 36/07 verwiesen. Die Leistungen für Februar bis
September 1999 aufgrund einer sehr viel später geschaffenen Norm, deren
Rückwirkung auf abgeschlossene Sachverhalte nicht ausdrücklich vom Gesetzgeber
angeordnet wurde, zurückzufordern, würde die Klägerin in ihren Grundrechten verletzen.
Es ist hier in jedem Fall eine Verletzung von Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz zu nennen,
der die allgemeine Handlungsfreiheit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung
gewährleistet. Die Rückwirkung von Rechtsfolgen wirft generell die Frage nach dem
Schutz des Vertrauens in den Bestand der ursprünglich geltenden Rechtsfolgenlage
auf, welche nunmehr nachträglich geändert wird. Eine solche Rückbewirkung von
Rechtsfolgen muss sich damit vorrangig an den allgemeinen rechtsstaatlichen
Grundsätzen, insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit messen
lassen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.05.1986, Az.: 2 BvL 2/83, E 72,
200 ff.). In Verbindung mit diesen Grundsätzen sind auch diejenigen Grundrechte zu
berücksichtigen, deren Schutzbereich von der nachträglich geänderten Rechtsfolge in
belastender Weise betroffen ist Die Klägerin hatte im Jahre 1999 alles erforderliche
getan, um die Beklagte über die doppelt erhaltene Leistung zu unterrichten. Sie durfte
nach Ablauf von mehr als sieben Jahren darauf vertrauen, die Leistungen des
Osteuropäischen Sozialfonds behalten zu dürfen. Die aus erlaubtem Tun erhaltenen
Vorteile sind insofern geschützt und schützenswert.
Der Klage war nach alledem stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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