Urteil des SozG Düsseldorf vom 11.01.2005
SozG Düsseldorf: reaktive depression, rente, erwerbsunfähigkeit, erwerbsfähigkeit, hitze, gerichtsakte, wartezeit, aufmerksamkeit, einwirkung, rechtskraft
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Düsseldorf, S 10 RJ 11/02
11.01.2005
Sozialgericht Düsseldorf
10. Kammer
Urteil
S 10 RJ 11/02
Rentenversicherung
rechtskräftig
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.08.2001 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2001 verurteilt, der
Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall 01.12.2000 Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit.
Die am 00.00.1952 in der Türkei geborene Klägerin besuchte keine Schule und erlernte
auch keinen Beruf. Die Klägerin ist Analphabetin. Sie war bis 1982 als Messerschleiferin
tätig.
Am 13.02.2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte ließ die Klägerin daraufhin medizinisch
begutachten durch I1 der unter dem 08.06.2001 folgende Diagnosen stellte:
1. Vermehrte, vorwiegend muskelbänderbedingte Belastungsanfälligkeit der Lenden-
Becken-Hüft-Region bei hyperlordotischer Fehlstatik und degenerativen
Bandscheibenschaden L5/S1 - keine typische bandscheibenbedingte
Beschwerdesymptomatik,
2. mäßige Verschleißbeschwerden der Halswirbelsäule mit reaktiven
Muskelbänderverspannungen (Zervikalsyndrom),
3. mäßiger Verschleiß der rechten Kniescheibe (Retropatellaarthrose),
4. chronisch reaktive Depressionen mit leichteren Somatisierungsstörungen,
Anforderungen an Verantwortung und Aufmerksamkeit sowie Konzentrationsfähigkeit
verrichten. In einem weiteren psychiatrischen Sachverständigengutachten diagnostizierte H
unter dem 01.06.2001 eine chronisch reaktive Depression mit Somatisierung. Die Klägerin
könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten verrichten.
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5. Übergewicht.
Die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder
Körperhaltung oder überwiegend im Sitzen ohne schweres Heben und Tragen, ohne
Zeitdruck, ohne gehobene Anforderungen an Verantwortung und Aufmerksamkeit sowie
Konzentrationsfähigkeit verrichten. In einem weiteren psychiatrischen
Sachverständigengutachten diagnostizierte H unter dem 01.06.2001 eine chronisch
reaktive Depression mit Somatisierung. Die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich
leichte Tätigkeiten verrichten.
Dies berücksichtigend lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid
vom 23.08.2001 ab. Die Klägerin sei weder voll- noch teilweise erwerbsgemindert, weil sie
noch sechs Stunden und mehr Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten
könne. Auch sei die Klägerin nicht berufsunfähig, da sie sich als ungelernte Arbeiterin auf
alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen müsse.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 13.12.2001 zurückwies.
Die Klägerin hat am 00.00.0000 Klage erhoben.
Die Klägerin ist er Auffassung, ihre Krankheiten seien bisher nicht hinreichend gewürdigt
worden. Im Übrigen lägen bei ihr eine Vielzahl von Leistungseinschränkungen vor, ohne
dass die Beklagte ihr eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt hätte, die sie mit ihrem
Restleistungsvermögen noch verrichten könne.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.08.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.12.2001 zu verurteilen, ihr auf ihren Antrag vom
13.02.2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält die getroffene Entscheidung für zutreffend. Insbesondere läge hier - auch
unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin Analphabetin ist - keine
sogenannte Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der die Klägerin
behandelnden Ärzte K, Herrn T, Herrn B, Q1 und Q2. Es hat des Weiteren ein
orthopädisches Sachverständigengutachten von I2 vom 04.09.2003 sowie ein
psychiatrisches Sachverständigengutachten von L vom 06.08.2003 in Auftrag gegeben.
Diesbezüglich wird auf die Gerichtsakte hingewiesen.
Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakte, die
beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die beigezogene Verwaltungsakte des
Versorgungsamtes Wuppertal hingewiesen; diese Akten sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 23.08.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
13.12.2001 beschwert die Klägerin nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da diese
Bescheide rechtswidrig sind. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf
Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 Sechstes Sozialgesetzbuch
(SGB VI) in der bis zum 31.12.2000 gültigen Fassung. Zunächst ist § 44 SGB VI in der
vorgenannten Fassung anzuwenden, weil § 300 Abs. 2 SGB VI bestimmt, dass
aufgehobene Vorschriften des SGB VI und durch das SGB VI ersetzte Vorschriften auch
nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch
anzuwenden sind, wenn der Anspruch - wie von der Klägerin - bis zum Ablauf von drei
Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird.
Auch sind die Voraussetzungen des § 44 SGB VI erfüllt. Nach § 44 SGB VI haben
Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit, wenn sie
1. erwerbsunfähig sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für
eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Nach Abs. 2 dieser Vorschrift sind Versicherte erwerbsunfähig, wenn sie wegen Krankheit
oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in
gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu
erzielen, dass monatlich 630,00 DM (325,00 Euro) übersteigt.
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie ist zunächst erwerbsunfähig, weil ihr
Leistungsvermögen aufgrund qualitativer Einschränkungen nicht mehr für eine Tätigkeit
unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausreicht und die
Beklagte keine für sie in Betracht kommende Verweisungstätigkeit benennen konnte. Zwar
bedarf es bei Versicherten, die - wie im vorliegenden Fall die Klägerin - auf das allgemeine
Arbeitsfeld verweisbar sind und noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten mit
zusätzlichen Einschränkungen verrichten können, grundsätzlich nicht der konkreten
Benennung (zumindest) einer Verweisungstätigkeit. Ausnahmsweise hat die
Rechtsprechung die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit aber in solchen
Fällen für erforderlich gehalten, in denen eine Summierung ungewöhnlicher
Leistungseinschränkungen vorliegt; kann keine Verweisungstätig keit benannt werden, ist
der Versicherte erwerbsunfähig (BSG, Urteil vom 19.12.1996 - Gs 1 - 4/95 = SozR 3-2600 §
44 Nr. 8). Eine solche Summierung hat die Rechtsprechung insbesondere bei einem
Analphabeten angenommen, der nur noch in der Lage ist, leichte körperliche Arbeiten in
wechselnder Körperhaltung, in geschlossenen Räumen ohne Zwangshaltungen oder
einseitige Körperpositionen, ohne dauerndes Arbeiten auf Gerüsten und Leitern, ohne
ständige Einwirkungen von Kälte, Hitze, Zugluft, starken Temperaturschwankungen und
Nässe regelmäßig und vollschichtig zu verrichten (BSG, Urteil vom 10.12.2003 - B 5 RJ
64/02 R -). Genau dies gilt auch im Falle der Klägerin. Die Klägerin ist zunächst
Analphabetin und kann ferner nur noch körperlich leichte Tätigkeiten ohne häufiges
Bücken und Knien, ohne langandauernde Zwangshaltungen der Wirbelsäule, ohne
Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten, ohne Witterungseinwirkung oder Einwirkung von Kälte
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und Hitze in wechselnder Körperposition oder überwiegend im Sitzen verrichten.
Die zuletzt genannten Leistungseinschränkungen stehen zur Überzeugung der Kammer
aufgrund des orthopädischen Sachverständigengutachtens von I2 vom 04.09.2003 sowie
des psychiatrischen Sachverständigengutachtens von L vom 06.08.2003 fest. I2 hat in
seinem Gutachten vom 04.09.2003 festgestellt, dass die Klägerin an chronischen
Wirbelsäulenschmerzen im Lenden- und Nackenbereich, an chronischen Knieschmerzen
beidseits und einer leichtgradigen depressiven Störung mit reaktiven Anteilen leidet. Die
Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten unter Beachtung der
vorgenannten Einschränkungen verrichten. In seinem psychiatrischen Gutachten vom
06.08.2003 hat L bei der Klägerin eine leichtgradig depressive Störung mit reaktiven
Anteilen diagnostiziert, aus psychiatrischer Sicht aber keine Einschränkungen des
Leistungsvermögens der Klägerin begründen können.
Diese Beurteilung der Sachverständigen hält die Kammer für überzeugend. Denn die
Sachverständigen können diese auf eine ausführliche und erhobene Anamnese stützen
und orientieren ihre Beurteilung an anerkannten Bewertungsmaßstäben. Die Gutachten
sind in sich schlüssig und frei von Widersprüchen. Sie werden hinsichtlich der
maßgeblichen Diagnosen und auch hinsichtlich der Leistungsbeurteilung durch die von der
Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von I2 und H bestätigt.
Auch konnte die Beklagte der Klägerin keine konkrete Verweisungstätigkeit benennen, die
ihrem Restleistungsvermögen unter Berücksichtigung der vorstehend festgestellten
Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gerecht wird. Die von der
Beklagten vorgeschlagenen Sortier- und Verpackungstätigkeiten scheiden deswegen aus,
weil diese Tätigkeiten Lese- und Schreibkenntnisse voraussetzen, wobei es sich bei der
Tätigkeit des Sortierers und Verpackers auch nur um eine leichte bis mittelschwere
körperliche Tätigkeit handelt (LSG NRW, Urteil vom 23.10.2002 - L 8 RJ 140/00; BSG,
a.a.O.).
Daneben erfüllt die Klägerin auch die weiteren Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie hat in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der
Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung und erfüllt
auch die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren.
Die Rente war hier nach § 102 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 gültigen Fassung
unbefristet zu gewähren, da nach den eingeholten Sachverständigengutachten nicht die
begründete Aussicht besteht, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit
behoben sein kann. Insbesondere die orthopädische Leistungseinbuße ist dauernder
Natur. Die degenerativen Veränderungen werden schicksalhaft fortschreiten und
orthopädische Heilmaßnahmen haben keine Aussicht auf Erfolg (Bl. 28 des
orthopädischen Gutachtens von I2 vom 04.09.2003).
Die Kammer geht ferner von einem Leistungsfall Dezember 2000 aus, weil die Klägerin
auch damals schon die vorbeschriebenen Leistungseinschränkungen aufwies, die
insbesondere durch orthopädische Erkrankungen begründet sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.