Urteil des SozG Düsseldorf vom 20.10.2006

SozG Düsseldorf: aufschiebende wirkung, vollziehung, aufrechnung, rückforderung, anfechtungsklage, rücknahme, verwaltungsakt, rechtsschutz, niedersachsen, ausschluss

Sozialgericht Düsseldorf, S 28 AS 235/06 ER
Datum:
20.10.2006
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
28. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 28 AS 235/06 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen den
Bescheid vom 30.5.2006 unter Einbeziehung des Bescheides vom
14.7.2006 aufschiebende Wirkung hat. Es wird angeordnet, dass die seit
dem 1.7.2006 aufgerechneten Leistungen dem Antragsteller ausgekehrt
werden. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des
Antragstellers dem Grunde nach.
Gründe:
1
I.
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Die Beteiligten streiten über die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs, den der
Antragsteller gegen einen Aufhebungs- Rückforderungs- und Aufrechnungsbescheid
der Antragsgegnerin erhoben hat.
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Der Antragsteller bezieht seit dem 1.1.2005 von der Antragsgegnerin für sich und seine
drei im Haushalt lebenden minderjährigen Kinder laufende Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für
Arbeitssuchende - (SGB II). Nachdem die Antragsgegnerin im Oktober 2005 Kenntnis
von dem Studium des Antragstellers an der I1- I2- Universität E erhielt und ihn mit
Schreiben vom 10.5.2006 angehört hatte, nahm sie mit Bescheid vom 30.5.2006 die
Bewilligung von Arbeitslosengeld II an den Antragsteller für die Zeiten Januar 2005 bis
April 2006 unter Aufhebung der Bescheide vom 24.11.2004, 30.5.2005 und 14.11.2005
teilweise zurück. Der Antragsteller sei seiner Mitteilungspflicht nicht nachgekommen, so
dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch
- Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) erfüllt seien. In dem von
der Aufhebung erfassten Zeitraum seien dem Antragsteller Leistungen in Höhe von
8216,94 Euro zu Unrecht gezahlt worden. Die bereits erbrachten Leistungen seien nach
§ 40 Abs. 2 SGB II in Verbindung mit § 50 SGB X zu erstatten. Ab dem 1.7.2006 ordnete
die Antragsgegnerin mit Hinweis auf § 43 SGB II eine Verrechnung mit dem laufenden
Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach dem SGB II in monatlichen Raten von
jeweils 124,00 Euro an. Die Antragsgegnerin wies abschließend den Antragsteller
darauf hin, ein Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid habe
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gemäß § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung.
Gegen den Bescheid vom 30.5.2006 erhob der Antragsteller am 3.7.2006 Widerspruch.
Er wendete sich gegen die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeiten Januar
2005 bis April 2006 und die Rückforderung der gewährten Leistungen. Ergänzend
beantragte er, die Vollziehung des Rücknahmebescheides vom 30.5.2006, hilfsweise
die Vollziehung der Aufrechnung auszusetzen. Er machte im wesentlichen geltend, sein
Studium sei ein Freizeitstudium gewesen. Er habe dem Arbeitsmarkt, soweit es ihm
aufgrund der Kinderbetreuung möglich gewesen sei, zur Verfügung gestanden. Die
Aufrechnung nach § 43 SGB II in zulässiger Höhe von 30% dürften nur seine, nicht aber
die Leistungen seiner Kinder betreffen. Die Aussetzung der Vollziehung sei geboten,
weil sich ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides bzw.
Folgebescheides ergäben.
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Mit Bescheid vom 14.7.2006 half die Antragsgegnerin dem Widerspruch insoweit ab, als
die Aufrechnung gemäß Bescheid vom 30.5.2006 auf 104,00 Euro monatlich reduziert
wurde. Dies entspreche 30% der dem Antragsteller zustehenden Regelleistung.
Ansonsten halte sie ihren Bescheid vom 30.5.2006 aufrecht. Die Aussetzung der
Vollziehung sei gemäß § 39 SGB II nicht möglich. Es werde angefragt, ob sich der
Widerspruch damit erledigt habe. Mit Änderungsbescheid vom 14.7.2006 stellte die
Antragsgegnerin die Leistungen für die Zeit 1.5.2006 bis 30.9.2006 neu fest unter
Berücksichtigung der Aufrechnung in Höhe von 104,00 Euro monatlich. Mit Schreiben
vom 25.7.2006 bat der Antragsteller um Bescheidung seines Widerspruchs.
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Am 17.8.2006 hat der Antragsteller vor dem Gericht Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz erhoben. Er erstrebt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines
Widerspruchs gegen die Aufhebungsentscheidung vom 30.5.2006 bzw. die
Feststellung, dass sein Widerspruch gegen die Erstattungsanordnung aufschiebende
Wirkung entfaltet. Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
Aufhebungsentscheidung. Der Antragsteller wiederholt insoweit im wesentlichen seinen
Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren. Ergänzend trägt er vor, soweit der Bescheid
vom 30.5.2006 eine Rückforderung anordne, habe der Widerspruch gegen den
betreffenden Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung sei
nicht nach § 39 Nr. 1 SGB II im Sinne von § 86 a Abs. 2 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) ausgeschlossen. Zwar werde in der Kommentarliteratur überwiegend die
Gegenauffassung vertreten. Nach der neuesten sozialgerichtlichen Rechtsprechung
werde aber die Rückforderung gemäß § 50 SGB X von überzahlten Leistungen nach
dem SGB II vom Tatbestand des § 39 Nr. 1 SGB II nicht erfasst. Dafür spreche bereits
der Wortlaut der Vorschrift, wonach nur bei Verwaltungsakten, die über "Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende" entscheiden, die aufschiebende Wirkung entfalle.
Bei einer Rückforderung überzahlter Leistungen nach § 50 SGB X fehle aber der
rechtliche Bezug zu den im SGB II normierten Leistungen. Mit der Aufhebung der
Bewilligung verlören die ausgezahlten Geldleistungen ihre rechtliche Zuordnung zu
einem bestimmten Rechtsgrund, sie würden zur rechtsgrundlosen Bereicherung und
stellten keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende mehr dar. Eine
erweiternde Auslegung des Wortlautes des § 39 Nr. 1 SGB II sei nicht gerechtfertigt,
dies im Hinblick auf den Zweck der Existenzsicherung der Leistungen und den
Grundsatz der Garantie des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz
(GG), welcher eine enge Auslegung der Ausnahmen zu dem Grundsatz, dass
Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung entfalten, gebiete.
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Der Antragsteller beantragt,
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1.die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 3.7.2006 gegen die
Aufhebungsverfügung der Antragsgegnerin vom 30.5.2006 unter Einbeziehung des
Bescheides vom 14.7.2006 anzuordnen und 2.festzustellen, dass der Widerspruch
gegen den Bescheid vom 30.5.2006 unter Einbeziehung des Bescheides vom
14.7.2006, soweit darin die Erstattung von Arbeitslosengeld II in Höhe von 8216,94 Euro
verlangt wird, aufschiebende Wirkung entfaltet.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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An der Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 14.11.2005 betreffend den
Zeitraum 1.1.2005 bis 30.4.2006 halte sie nicht fest, weil ihr zum Zeitpunkt des
Bescheiderlasses das Betreiben des Studiums bereits bekannt gewesen sei. Dies
ändere aber nichts an der Möglichkeit zur Rücknahme der Leistungen für den Zeitraum
1.1.2005 bis 31.10.2005 im Umfang von 5136,00 Euro. Hinsichtlich der in Frage
stehenden aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen Rücknahme- bzw.
Rückforderungsentscheidungen unter analoger Anwendung des § 39 Nr. 1 SGB II in
Verbindung mit § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG ergebe sich bislang keine als bindend zu
wertende Einschätzung. Diese Frage werde in der Kommentarliteratur als auch in der
Rechtsprechung kontrovers diskutiert.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten und die
Verwaltungsakten Bezug genommen.
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II.
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Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat Erfolg.
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Das Begehren des Antragstellers ist darauf gerichtet, dass die von ihm angefochtene
Entscheidung vom 30.5.20006 unter Einbeziehung des Bescheides vom 14.7.2006
vorerst von Seiten der Antragsgegnerin nicht vollzogen werden darf. Der Bescheid vom
30.5.2006 enthält drei Verwaltungsakte, nämlich den über die Aufhebung der
Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 45 SGB X, den über die
Rückforderung/Erstattung überzahlter Leistungen gemäß § 50 SGB X sowie den über
die Aufrechnung mit Rückforderungen gegen laufende Leistungen der Grundsicherung
gemäß § 43 SGB II. In dem Bescheid vom 14.7.2006 wurde bestimmt, dass der
monatliche Aufrechnungsbetrag sich ab dem 1.7.2006 auf 104,00 Euro beläuft. Der
Antragsteller erstrebt die Feststellung, dass sein Widerspruch gegen diese Bescheide
aufschiebende Wirkung zukommt. Wird die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
festgestellt, dürfen Vollzugsmaßnahmen zur Durchsetzung des Verwaltungsaktes nicht
durchgeführt werden. Der Antragsteller erreicht damit sein vorrangiges Ziel, dass
vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache keine Rückforderungen im Wege der
Aufrechnung gegen ihn vorgenommen werden können. Verfahrensrechtlich handelt es
sich um einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gemäß § 86 b Abs. 1 SGG.
Obgleich in § 86 b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGG nicht ausdrücklich benannt, beinhaltet der
einstweilige Rechtsschutz nach dieser Regelung auch die Möglichkeit, die bereits kraft
Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage
ausdrücklich festzustellen, wenn eine Behörde die aufschiebende Wirkung nicht
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beachtet bzw. der Verwaltungsakt faktisch vollzogen wird (vgl. Meyer-
Ladewig/Leitherer/Keller, SGG, 8. Auflage 2005, § 86 b Rdn. 15). So liegt es hier. Die
Antragsgegnerin hält ihre Aufhebungs- Rückforderungs- und
Aufrechnungsentscheidungen für sofort vollziehbar und rechnet seit dem 1.7.2006 mit
Rückforderungsansprüchen in Höhe von 104,00 Euro monatlich gegen die laufenden
Leistungen des Antragstellers auf (vgl. Änderungsbescheid vom 14.7.2006 und aktueller
Leistungsbescheid vom 4.10.2006), obgleich der vom Antragsteller erhobene
Widerspruch jedenfalls gegen die Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung vom
30.5.2006 aufschiebende Wirkung hat.
§ 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG ordnet als Grundsatz die aufschiebende Wirkung von
Widerspruch und Anfechtungsklage an. Der angefochtene belastende, d.h. in eine
Rechtsposition eingreifende Verwaltungsakt kann nicht vollzogen werden, es tritt ein
Schwebezustand ein, währenddessen vollendete Tatsachen nicht geschaffen werden
dürfen. Die aufschiebende Wirkung entfällt in den Fällen des § 86 a Abs. 2 Nr. 1-5 SGG.
Einer dieser Fälle liegt hier nicht vor, insbesondere liegt kein durch Bundesgesetz
vorgeschriebener Fall vor (§ 86a Abs. 1 Nr. 4 SGG).
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Die Antragsgegnerin kann eine sofortige Vollziehung der von ihr nach §§ 45, 50 SGB X
getroffenen Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidungen nicht auf § 39 SGB II
stützen, denn diese sind keine Verwaltungsakte im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II. Die
Anwendbarkeit des § 39 SGB II auf Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide bei -
wie hier - rückwirkender Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach §§ 45ff SGB X ist
umstritten. Überwiegend wird in der Rechtsprechung vertreten, dass als Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Vergangenheit ausgezahlte Geldbeträge bis
zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über die
Rücknahme oder Aufhebung nicht zu erstatten seien. Hierbei wird teilweise mit
Rücksicht auf die Zweistufigkeit der Rückabwicklung zu Unrecht erbrachter Leistungen
(Rücknahme bzw. Aufhebung nach §§ 45,48 SGB X und Rückforderung nach § 50 SGB
X) zwischen der aufschiebenden Wirkung der Aufhebung von Bewilligungsbescheiden
für die Vergangenheit einerseits und der Rückforderung geleisteter Zahlungen
anderseits unterschieden und vertreten, der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung
nach § 39 Nr. 1 SGB II erfasse nicht die auf § 50 SGB X gestützte Erstattung zu Unrecht
erbrachter Leistungen (LSG Niedersachsen-Bremen Beschlüsse vom 22.2.2006 - L 9
AS 127/06 ER - und vom 23.3.2006 - L 9 AS 127/06 ER -; LSG Rheinland-Pfalz,
Beschluss vom 26.4.2006 - L 3 ER 47/06 AS -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse
vom 28.7.2006 - L 14 B 350/06 AS ER - und vom 25.8.2006 - L 5 B 549/06 AS ER -; LSG
Hamburg Beschlüsse vom 29.5.2006 - L 5 B 77/06 ER AS - und vom 6.6.2006 - L 5 B
401/05 ER AS -; SG Münster Beschluss vom 12.9.2006 - S 5 AS 115/06 ER -). Andere
Stimmen erachten § 39 SGB II sowohl auf die rückwirkende Aufhebung von
Leistungsbewilligungen als auch auf Erstattungsbescheide für nicht anwendbar (SG
Dresden Beschluss vom 23.1.2006 - S 6 AS 1393/05 ER -; LSG Sachsen-Anhalt
Beschluss vom 27.4.2006 - L 2 B 62/06 AS ER -). Nach der Gegenauffassung umfasst §
39 SGB II sämtliche belastende Entscheidungen, die sich auf Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen und damit auch auf Aufhebungs- und
Rückforderungsbescheide, ungeachtet ihrer Zukunfts- oder Vergangenheitsbezogenheit
(LSG NRW Beschlüsse vom 31.3.2006 - L 19 B 15/06 AS ER - und vom 26.7.2006 - L
20 B 144/06 AS ER -; LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 5.7.2006 - L 6 B 196/06
AS ER -, wohl auch LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 20.3.2006 - L 8 AS 369/06
ER-B -). Der Wortlaut des § 39 SGB II ist nicht eindeutig und daher umstritten. Nach § 39
Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über
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Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende
Wirkung. Die Vorschrift kann dahingehend im weiten Sinne verstanden werden, dass
alle Entscheidungen gemeint sind, die Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitssuchende in irgendeiner Weise tangieren. Dazu gehören dann auch Bescheide
über die rückwirkende Aufhebung von Leistungen nach dem SGB II und die Festsetzung
einer Erstattungssumme überzahlter Leistungen nach dem SGB II (so LSG NRW, aaO;
LSG Schleswig-Holstein, aaO). Möglich ist es auch, den Wortlaut im engeren Sinne
dahingehend zu verstehen, dass eine Aufhebung von Leistungen in der Vergangenheit
und die Festsetzung einer Erstattung nicht gemeint sind, weil sprachlich zwischen einer
Leistung und einer "Rückleistung" zu unterscheiden ist (so SG Dresden, aaO und LSG
Sachsen-Anhalt, aaO). Vertreten wird auch, als "Entscheidung über Leistungen" seien
sowohl die Bewilligung als auch deren Kehrseite die Aufhebung als actus contrarius
anzusehen, nicht jedoch die Erstattungsforderung nach § 50 SGB X (LSG
Niedersachsen-Bremen, aaO; LSG Hamburg, aaO). Nach dieser Meinung ergibt sich
eine Differenzierung im Hinblick auf die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung. Die
Aufhebungsentscheidung unterfällt § 39 SGB II und damit der sofortigen Vollziehung,
während die Erstattungsforderung nach § 50 SGB X, die keine Entscheidung über
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende darstellt (LSG Hamburg, aaO, geht
von einem "aliud" aus; LSG Niedersachsen-Bremen, aaO, von einer "Entscheidung über
eine rechtgrundlos erbrachten Leistung"), davon ausgenommen und durch den
Widerspruch suspendiert wird. Das Gericht schließt sich der engeren Auslegung an und
geht zunächst davon aus, dass die Erstattungsentscheidung vom 30.5.2006 durch den
Widerspruch vom 3.7.2006 suspendiert ist und daher vorläufig nicht - auch nicht im
Wege der Aufrechnung (dazu weiter unten) - vollzogen werden kann. Gleiches dürfte
auch für die Aufhebungsentscheidung vom 30.5.2006 gelten. Nach der Auffassung des
Gerichtes bezieht sich der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch
und Klage im § 39 SGB II nur auf Entscheidungen über laufende Leistungen. Die
Aufhebung bewilligender Bescheide über Leistungen in der Vergangenheit dürfte von
der Anwendung des § 39 SGB II auszunehmen sein. Das ergibt sich aus einer an Sinn
und Zweck der Vorschrift orientierten Auslegung. Bei der zukunftsgerichteten
Entscheidung über bereits bewilligte, aber noch laufende bzw. noch auszuzahlende
Leistungen liegt es im Hinblick auf ggf. schwierig oder überhaupt nicht durchzusetzende
Rückforderungen im öffentlichen Interesse, Änderungs- und Aufhebungsbescheide
umsetzen zu können, ohne im Regelfall die Entscheidung über Widerspruch und Klage
abwarten zu müssen (LSG Sachsen-Anhalt, aaO) Die Interessenlage bei Aufhebungen
von bereits in der Vergangenheit zur Auszahlung gelangten Leistungen ist anders zu
beurteilen. Diese Leistungen sind vom Sozialleistungsträger bereits ausgeschüttet
worden. An dieser Sachlage kann auch eine sofortige Vollziehung nichts mehr ändern.
Auch ist vor dem Hintergrund, dass in anderen Bereichen des
Sozialversicherungsrechtes bzw. des Sozialhilferechtes Widerspruch und
Anfechtungsklage gegen Aufhebungen von Leistungen in der Vergangenheit und
daraus resultierenden Erstattungsforderungen Suspensiveffekt entfalten, wenig
nachvollziehbar, weshalb der Gesetzgeber im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitssuchende Rechtsbehelfe gegen Aufhebungsentscheidungen für die
Vergangenheit und Erstattungsforderungen von der aufschiebenden Wirkung hat
ausnehmen wollen. Sowohl im Bereich des Arbeitslosengeldes I und der früheren
Arbeitslosenhilfe (vgl. § 336 a Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - SGB
III) als auch im Bereich der Sozialhilfe (vgl. § 93 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch
- Sozialhilfe - SGB XII), welche der Grundsicherung nach SGB II in ihren Zielsetzungen
verwandt sind, fehlt es an einer dem § 39 SGB II entsprechenden Regelung.
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aufhebung von in der Vergangenheit
bewilligten und bereits ausgezahlten Sozialleistungen sowie gegen
Erstattungsforderungen haben hier entsprechend des Regelfalls nach § 86 a Abs. 1
SGG aufschiebende Wirkung. So ordnet § 336 a SGB III die sofortige Vollziehung nur
bei Herabsetzung und Entziehung laufender Leistungen an. Das Fehlen einer
entsprechenden Formulierung in § 39 SGB II zwingt nicht zu dem Schluss, dass der
Gesetzgeber im SGB II die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen anders regeln
wollte als im SGB III und auch Aufhebungsentscheidungen für die Vergangenheit und
Erstattungsforderungen mit einbezogen sehen wollte (LSG Rheinland-Pfalz 26.4.2006,
aaO), zumal bei einer solchen weiten Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II im Sinne des
Einbeziehens aller Entscheidungen, die Leistungen nach dem SGB II tangieren, die
nachfolgende Regelung (Nr. 2) überflüssig wäre, da auch Verwaltungsakte, die den
Übergang eines Anspruchs bewirken, im weiteren Sinne über Leistungen nach dem
SGB II entscheiden (LSG Hamburg 6.6.2006, aaO). Der Hinweis auf eine "klarstellende"
Funktion des § 39 Nr. 2 SGB II (so LSG NRW 31.3.2006, aaO) kann nicht überzeugen.
Der Sinn und Zweck des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe
gegen Entscheidungen über laufende Leistungen liegt im Wesentlichen darin, dass der
Leistungsträger dem Versicherten bzw. Hilfebedürftigen als Leistungsempfänger im
Streitfall bereits bewilligte Leistungen nicht weiter auszahlen muss, weil deren
Rückforderung ggf. nicht oder nur schwerlich durchsetzbar ist. Diese Gesichtspunkte
greifen bei Rückleistungen nicht, da der Hilfebedürftige über die in der Vergangenheit
erhaltenen Leistungen bereits verfügen konnte und in aller Regel auch verfügt hat (LSG
Rheinland Pfalz 26.4.2006, aaO; ähnlich LSG Sachsen-Anhalt, aaO). Auch ist es zur
Sicherung der Funktionsfähigkeit der Sozialleistungsträger in der Regel nicht
erforderlich, dass diese bereits erbrachte Leistungen sofort zurückfordern können, ohne
dass zuvor geklärt ist, ob der Leistungsempfänger tatsächlich einen Anspruch hatte oder
nicht (LSG Berlin Brandenburg, 25.8.2006, aaO). Im Ergebnis ist daher die sprachlich
unklare Regelung des § 39 SGB II keine geeignete Grundlage für eine Ausnahme von
der allgemeinen Regelung im § 86 a Abs. 1 SGG, wonach Widerspruch und
Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben. Aus den
Gesetzesmaterialen ergibt sich ebenfalls kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber
auch die Fälle der Leistungsaufhebung für die Vergangenheit und die
Erstattungsbescheide mit erfassen wollte (LSG Sachen-Anhalt, aaO, mit Hinweis auf
BT-Drucksache 15/1561 zu § 39, S. 63). Dementsprechend hat der Widerspruch gegen
den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 30.5.2006 aufschiebende Wirkung,
so dass analog § 86 b Abs. 1 Satz 1 SGG eine entsprechende Feststellung
auszusprechen war.
Im weiteren kann es dahin stehen, ob auch der Widerspruch gegen die
Aufrechnungsentscheidungen der Antragsgegnerin vom 30.5.2006 und 14.7.2006
aufschiebende Wirkung entfaltet (bejahend LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom
17.1.2006, - L 3 ER 128/05 AS -; Eicher/Spellbrink, SGB II, § 43 Rdn. 34, verneinend
LSG Schleswig-Holstein, aaO). Die seit dem 1.7.2006 und fortlaufend durchgeführte
Aufrechnung gegen die laufenden Leistungen des Antragstellers ist bereits deshalb
rechtswidrig und von der Antragsgegnerin zu unterlassen bzw. rückgängig zu machen,
weil der gegen die Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung vom 30.5.2006
erhobene Widerspruch vom 3.7.2006 - wie oben festgestellt - aufschiebende Wirkung
hat und infolgedessen die Vollziehbarkeit der Erstattung bis zum bestands- bzw.
rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens gehemmt ist. Maßnahmen zur
Durchsetzung der Rückforderungen von Seiten der Antragsgegnerin verbieten sich
daher. Das gilt auch für eine Aufrechnung der Rückforderungsansprüche gegen die
laufenden Leistungen des Antragstellers nach § 43 Satz 1 SGB II, denn eine solche
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dürfte einen vollziehbaren Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X voraussetzen (str.,
a.A. Eicher/Spellbrink, aaO, § 43 Rdn. 9 m.w.N.). Nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGG kann
das Gericht die Aufhebung bzw. Rückgängigmachung der Vollziehung anordnen. Das
Gericht hat insoweit im Rahmen seines Ermessens die Auskehrung der aufgerechneten
Leistungen ab dem 1.7.2006 an den Antragsteller angeordnet.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
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