Urteil des SozG Düsseldorf vom 05.11.2007

SozG Düsseldorf: tinnitus, frequenz, schwerhörigkeit, berufskrankheit, lärm, hörschaden, auflage, beendigung, merkblatt, arbeitsunfall

Sozialgericht Düsseldorf, S 16 U 261/05
Datum:
05.11.2007
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
16. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 16 U 261/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 17 U 261/07
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 17.01.2005 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2005 verurteilt,
dem Kläger Rente wegen einer BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV
nach einer MdE von 20 vom Hundert zu gewähren. Die Beklagte trägt
die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
1
Umstritten ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger wegen der bei ihm als
Berufskrankheit anerkannten Lärmschwerhörigkeit Rente beanspruchen kann.
2
Nach den Feststellungen der Präventionsabteilung der Beklagten war der 1944
geborene Kläger in der Zeit vom 01.04.1958 bis zum 30.04.2004 bei Lärmpegeln von
mindestens 85 dB(A) beschäftigt. Unter dem 03.05.2004 erstattete der HNO-Arzt Q
Anzeige wegen des Verdachts auf eine Lärmschwerhörigkeit. Die Beklagte zog
daraufhin über den Kläger vorliegende Audiogramme sowie die Leistungsnachweise
der BKK futur bei. Den Leistungsnachweisen ist zu entnehmen, dass der Kläger, der seit
dem 01.05.2004 Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht zuvor, in
der Zeit vom 28.02. bis zum 30.04.2004 wegen einer Fraktur des linken Unterarms
arbeitsunfähig krankgeschrieben war. Nach Auswertung der beigezogenen
Audiogramme erkannte die Beklagte auf der Grundlage einer Stellungnahme von Privat-
Dozent K, Landesanstalt für Arbeitsschutz NRW, eine BK nach Nr. 2301 der
Berufskrankheiten-Liste (BKV) an, lehnte jedoch die Bewilligung von Rente wegen
fehlender rentenberechtigender MdE ab (Bescheid vom 17.01.2005). Im
Widerspruchsverfahren äußerte der HNO-Arzt I in seinem auf Veranlassung der
Beklagten erstatteten Gutachten vom 25.06.2005, der sprachaudiometrische Hörverlust
nach dem gewichteten Gesamtwortverstehen betrage rechts 20 und links 40 Prozent.
Ein relativ hoher tonaudiometrischer Hörverlust bestehe beiderseits im Tieftonbereich,
der allerdings nicht als berufsbedingt angesehen werden könne, wohingegen der sehr
störende beiderseits bestehende Tinnitus seine Ursache in berufsbedingtem Lärm habe.
Es sei von einer knapp geringgradigen Schwerhörigkeit rechts und einer gering- bis
3
mittelgradigen Schwerhörigkeit links auszugehen, ein geringer Abzug müsse wegen der
Tieftonschwerhörigkeit beiderseits angenommen werden. Die MdE für den
berufsbedingten Hörverlust betrage 15 vom Hundert unter Berücksichtigung der MdE
von 5 vom Hundert, die für den Tinnitus angesetzt werden müsse. Die
Widerspruchsstelle bei der Beklagten wies daraufhin den Widerspruch des Klägers
zurück (Widerspruchsbescheid vom 20.09.2005). Mit seiner am 10.10.2005 bei Gericht
eingegangenen Klage macht der Kläger geltend, die Hörbeeinträchtigung mit Tinnitus
sei für sein Leben so stark beeinträchtigend, dass ihm Rente zugestanden werden
müsse. Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 17.01.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20.09.2005 zu verurteilen, ihm Rente wegen der
anerkannten Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV nach Maßgabe der
gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
4
Die Beklagte beantragt,
5
die Klage abzuweisen.
6
Das Gericht hat zur Feststellung der berufskrankheitsbedingten MdE C gehört, der zu
dem Ergebnis gekommen ist, dass die berufskrankheitsbedingte MdE unter
Mitberücksichtigung der Vier-Frequenz-Tabelle seit Ende der beruflichen Tätigkeit auf
20 vom Hundert zu schätzen ist.
7
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme im Einzelnen sowie wegen des
sonstigen Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Akten der
Beklagten Bezug genommen.
8
Entscheidungsgründe:
9
Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 17.01.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20.09.2005 ist insoweit rechtswidrig als dem Kläger
Rente wegen der bei ihm anerkannten Berufskrankheit zusteht. Mit dem
Sachverständigen C geht die Kammer davon aus, dass die berufskrankheitsbedingte
MdE nach Aufgabe der beruflichen Tätigkeit des Klägers ab 01.03.2004 mit 20 vom
Hundert zu veranschlagen ist. C hat darauf hingewiesen, dass die bereits von dem
HNO-Arzt I als lärmbedingt beschriebenen Hörbefunde eine rentenberechtigende MdE
von 20 vom Hundert rechtfertigen: Nach der Korrelationstabelle ist nämlich eine
geringgradige Schwerhörigkeit (Hörverlust 30 %) eine MdE von 15 vom Hundert
zuzuordnen. Unter integrierender Berücksichtigung des von den Gutachtern als sehr
störend beschriebenen beiderseitigen Tinnitus lässt sich daraus eine BK-bedingte
Gesamt MdE von 20 vom Hundert rechtfertigen. Auch eine Bewertung des Tinnitus mit
nur 5 % - wie sie der HNO-Arzt I vorgenommen hat - schließt die Bewertung der BK-
bedingten Gesamt MdE mit 20 vom Hundert nicht aus. Die Gesamtbewertung des
lärmbedingten Schadens am Innenohr kann nämlich auch auf eine Addition der Einzel-
MdE-Werte für die Gehörschäden hinauslaufen. So ist etwa anerkannt, dass aus einer
MdE von 15 % für den Hörschaden und einer Einzel-MdE von 10 % für den Tinnitus eine
Gesamt-MdE von 20 % wie auch eine MdE-Einschätzung von 25 % angemessen
erscheinen kann (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und
Berufskrankheit, 7. Auflage, Seite 442). Auch die von C ermittelten etwas günstigeren
Hörbefunde rechtfertigen eine MdE von 20 vom Hundert. Dabei ist zu berücksichtigen,
10
dass der Bewertungsrahmen des als sehr störend beschriebenen Tinnitus mit 5 bis 10
% anzunehmen ist. Weiter ist mit C davon auszugehen, dass auch der Hörverlust in den
tieferen Frequenzen der lärmbedingten Hörschädigung zuzurechnen ist. Zwar betrifft
eine Lärmschwerhörigkeit typischerweise nur die höheren Frequenzen, in Einzelfällen
ist unter den von C beschriebenen Voraussetzungen jedoch auch eine Schädigung der
tieferen Frequenzen wahrscheinlich. Im Hinblick darauf, dass eine Schädigung in den
tieferen Frequenzen bereits Jahre zuvor festgestellt worden ist, lässt sich im Falle des
Klägers die Tieftonhörminderung nicht vom Lärmschaden abgrenzen. Der dadurch
bedingte Hörverlust muss in die MdE-Bewertung einfließen. Da die 3-Frequenz-Tabelle
nur die typischerweise von der Lärmschwerhörigkeit erfassten höheren Frequenzen
berücksichtigt, ist im vorliegenden Fall ausnahmsweise die 4-Frequenz-Tabelle, die
auch die tieferen Frequenzen erfasst, anzuwenden. Eine solche Abweichung vom
Königsteiner Merkblatt ist in wissenschaftlich begründeten Fällen zulässig. Ein solcher
Fall liegt - wie bereits dargestellt - hier vor. Nach der 4-Frequenz-Tabelle (Röger 1973)
ist der beiderseitige Hörverlust mit mehr als 30 % zu veranschlagen. Damit ist von einer
geringgradigen Schwerhörigkeit (MdE 15 %) auszugehen, so dass die BK-bedingte
Gesamt-MdE unter Berücksichtigung der belästigenden Ohrgeräusche (-
Bewertungsbreite 5 - 10) vom Hundert auf insgesamt 20 vom Hundert zu schätzen ist.
Diese (rentenberechtigende) MdE ist ab dem 01.03.2004 anzunehmen. Seitdem ist der
Kläger keinem gehörgefährdenem Lärm mehr ausgesetzt. Da sich ein Lärmschaden
nach Beendigung der Lärmtätigkeit nicht mehr verschlimmert, muss eine
rentenberechtigende MdE bereits ab 01.03.2004 vorgelegen haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
11