Urteil des SozG Düsseldorf vom 21.12.2006

SozG Düsseldorf: arglistige täuschung, grobe fahrlässigkeit, sozialhilfe, verwaltungsakt, datum, rechtswidrigkeit, rücknahme, arbeitsamt, eintrag, akte

Sozialgericht Düsseldorf, S 35 SO 236/05
Datum:
21.12.2006
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
35. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 35 SO 236/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 20 SO 7/07
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Bescheide vom 02.09.2003 und 09.11.2003 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der
Klägerin.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Rückzahlung von überzahlter Sozialhilfe nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG).
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Die Klägerin hat von 1976 bis Ende 2004 - mit Unterbrechungen - für sich und ihren
Sohn N Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz erhalten. Für den Sohn N wurde
vom Arbeitsamt X bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres Kindergeld gezahlt, das auf
die Sozialhilfe als Einkommen angerechnet wurde. Im Jahr 2000 richtete die Beklagte
eine Anfrage an die Kindergeldkasse des damaligen Arbeitsamtes, worauf diese
mitteilte, der Klägerin sei auch seit Januar 1996 Kindergeld gezahlt worden. Grund für
die Anfrage war ein Antrag der Klägerin auf einen Vorschuss. Mit dem Antrag legte die
Klägerin einen Kontoauszug vor, aus dem hervorging, dass diese Kindergeld bezog. Ein
entsprechender Auszug befand sich auch bereits seit 1994 in der Akte der Beklagten.
Auf eine Anfrage der Beklagten an die Kindergeldkasse, für welchen Zeitraum
Kindergeld bezogen worden sei, teilte diese mit Schreiben vom 16.10.00 mit,
"durchgehend bis 10/00". Dieses Schreiben ist mit einem handschriftlichen Vermerk mit
Datum vom 19.03.2001 versehen, wonach die schriftliche Auskunft des Arbeitsamtes
unrichtig sein soll und statt dessen nur Leistungen ab 1996 bezogen worden seien.
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Mit Bescheid vom 07.03.2002 wurden daraufhin die entsprechenden
Sozialhilfebescheide zurückgenommen und von der Klägerin zu Unrecht geforderte
Sozialhilfe in Höhe von 6.703,04 Euro zurückgefordert. Dieser Bescheid ist rechtskräftig.
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Nach Aussage der Beklagten wurde dieser dann im Februar 2003 bekannt, dass die
Klägerin auch schon vor 1996 Kindergeld und Kinderzuschlag für N bezogen habe, der
nicht auf die Sozialhilfe angerechnet worden sei. Die Beklagte erteilte daraufhin unter
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dem 02.09.2003 einen Bescheid, nach dem auch die Bescheide über Sozialhilfe für den
Zeitraum vom 05.02.1993 bis zum 31.12.1995 zurückgenommen werden,
"soweit es die Berücksichtigung des gewährten Kindergeldes und des
Kinderzuschlages betrifft und hierdurch Überzahlungen entstanden sind".
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Gleichzeitig wurde mit dem Bescheid zu Unrecht erhaltene Sozialhilfe in Höhe von
4.705,71 DM (= 2.405,99 Euro) zurückgefordert.
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Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie vortrug, der
Rückforderungsanspruch sei verjährt.
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Mit Bescheid vom 9. November 2005 wies die Beklagte den Widerspruch als sachlich
unbegründet zurück. Sie führte aus, die Klägerin habe im fraglichen Zeitraum
Kindergeld und Kinderzuschlag vom Arbeitsamt erhalten, worüber sie den
Sozialhilfeträger nicht informiert habe. Sie sei damit ihren Mitwirkungspflichten nach §
60 SGB I nicht nachgekommen. Die Klägerin habe grob fahrlässig gehandelt, so dass
nach § 45 SGB X die begünstigenden Bescheide aufgehoben werden könnten und der
überzahlte Betrag zurückgefordert werden könnte. Dem Bescheid ist eine Aufstellung
beigefügt, aus der hervorgeht, wann Bescheide zwischen dem 11.02.1993 und dem
27.09.1995 erteilt wurden und wann "konkludente" Zahlungen an die Klägerin im
Zeitraum von August 1993 bis Dezember 1995 erfolgten.
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Gegen den am 14. November 2005 beim Bevollmächtigten der Klägerin eingegangenen
Widerspruchsbescheid ist unter dem 14. Dezember 2005 Klage erhoben worden.
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Die Klägerin trägt vor, sie habe auf den entsprechenden Antragsvordrucken in der
Verwaltungsakte die Eintragungen im Feld Einkommen nicht selbst gemacht. Der
Vordruck sei im Wesentlichen von der Sachbearbeiterin Frau S ausgefüllt worden. Die
Klägerin vermutet, Frau S habe entsprechende Vermerke erst später eingetragen und
nicht im Beisein der Klägerin. Der Klägerin sei nicht bewusst gewesen, dass sie das
Kindergeld hätte angeben müssen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid vom 02.09.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
09.11.2005 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den
Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Ihre Inhalte
waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die form- und fristgerecht erhobene und daher zulässige Klage ist begründet. Die
Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.
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Das Gericht hat bereits Bedenken, ob die angegriffenen Verwaltungsakte im Sinne des
§ 33 Abs. 1 SGB X ausreichend inhaltlich hinreichend bestimmt sind. Das Erfordernis
der inhaltlichen Bestimmtheit bezieht sich ausschließlich auf den Verfügungssatz des
Verwaltungsaktes
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BSG, SozR 1500, § 35 Nr. 35, Seite 39; von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. § 33Anm. 3;
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Vorliegend werden in den Verfügungssätzen der angefochtenen Bescheide eine
Vielzahl von nicht näher bezeichneten Verwaltungsakten soweit aufgehoben, "als es die
Berücksichtigung von Kindergeld und Kinderzuschlag betrifft". Bei dieser Formulierung
bleibt unklar, in welcher Höhe welcher Bescheid im Einzelnen unrichtig war und
aufgehoben wird.
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Das Gericht unterstellt aber im Folgenden – zugunsten der Beklagten - dass die
Klägerin im fraglichen Zeitraum tatsächlich in Höhe von 2.405,99 Euro zu Unrecht
Leistungen bezogen hat, weil Kindergeld und Kinderzuschlag nicht als Einkommen auf
die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet wurden.
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Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide und die Rückforderung dieser Summe ist
jedoch nicht gerechtfertigt, weil die Voraussetzungen für eine Rückforderung nicht
vorliegen.
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Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich
erheblichen Vorteil begründet, nur zurückgenommen werden, wenn die
Voraussetzungen der Absätze 2 bis 4 des § 45 SGB X vorliegen. Nach § 45 Abs. 2 SGB
X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen
werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und
sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme
schutzwürdig ist. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht
berufen, wenn er:
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1.den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt
hat,
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2.der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob
fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder
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3.er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die
erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
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Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen in der Person der Klägerin nicht vor.
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Das Gericht geht zunächst davon aus, dass die Klägerin die Verwaltungsakte nicht
durch arglistige Täuschung (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X) erwirkt hat. Die Klägerin
hat nämlich mehrfach - aus freien Stücken - Kontoauszüge vorgelegt, aus denen
eindeutig hervorging, dass sie Kindergeld bezog. Das Gericht geht davon aus, dass die
Klägerin diese Kontoauszüge nicht ungeschwärzt vorgelegt hätte, wenn sie sich
bewusst gewesen wäre, dass sie zu Unrecht Leistungen unter Nichtanrechnung von
Kindergeld oder Kinderzuschlag erhält.
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Das Gericht geht weiter davon aus, dass die Klägerin auch nicht vorsätzlich oder
mindestens grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige
Angaben gemacht hat. Ein Vergleich der Schriftproben in der Verwaltungsakte ergibt,
dass der Eintrag "kein Einkommen" in dem Antrag auf Sozialhilfe vom 05.02.1993 nicht
von der Klägerin stammt. Offenbar hat die Klägerin diesen Antrag gemeinsam mit ihrer
Sachbearbeiterin ausgefüllt. Ob die Sachbearbeiterin der Beklagten seinerzeit die
Tatbestandsmerkmale unter den Schlüsselzahlen auf Bl. 913 der Verwaltungsakte mit
der Klägerin durchgegangen ist, und ob die Sachbearbeiterin dabei tatsächlich
abgefragt hat, ob die Klägerin Kindergeld bezieht (Nr. 13 der Schlüsselzahlen) kann
heute nicht mehr aufgeklärt werden. Nach Auffassung der Kammer ist es aber gut
möglich, dass die Sachbearbeiterin der Beklagten eben nicht danach gefragt hat, ob die
Klägerin Kindergeld bezieht. Für diese Auffassung spricht auch der offenbar ebenfalls
von der Sachbearbeiterin vorgenommene Eintrag unter "Antragsbegründung" auf Bl.
914 Rückseite der Verwaltungsakte, wonach offenbar nur diskutiert worden ist, ob die
Klägerin Leistungen vom Arbeitsamt erhält.
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Die Kammer sieht sich auch nicht in der Lage, der Klägerin zu unterstellen, sie habe
grob fahrlässig nicht erkannt, dass die Nichtanrechnung von Kindergeld rechtswidrig
erfolgte. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn die in
der jeweiligen Personengruppe (hier Sozialhilfeempfänger) herrschende Sorgfaltspflicht
in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist, wenn also außer Acht gelassen
worden ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen.
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von Wulffen, a.a.O. § 45 Anm 24 mit Hinweis auf BGHZ 10,16.
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Insoweit ist vorliegend zu berücksichtigen, dass aus den aufgehobenen Bescheiden
nicht ausdrücklich hervorgeht, dass Kindergeld nicht angerechnet wird, so dass aus
dem Bescheid selbst auf dessen Rechtswidrigkeit nur über die Höhe des Zahlbetrages
geschlossen werden kann. Nach Auffassung der Kammer ist es einem
Sozialhilfeempfänger in der Regel nicht möglich, die komplizierten
Anrechnungsvorschriften der Sozialhilfe zu durchschauen. Insbesondere ist es nicht
offensichtlich, dass Kindergeld, welches ausnahmsweise hier auch für einen
volljährigen Behinderten gezahlt wird, auf die Sozialhilfe anzurechnen ist. Schließlich
berücksichtigt die Kammer auch bzgl. des Tatbestandsmerkmals "grob fahrlässig"
zugunsten der Klägerin, dass diese im gesamten Verwaltungsverfahren den Erhalt von
Kindergeld nie ausdrücklich bestritten hat und mehrfach Kontoauszüge vorgelegt hat,
aus denen eben diese Zahlungen hervorgeht. All dies spricht dafür, dass sich die
Klägerin der Rechtswidrigkeit der Verwaltungsakte gar nicht bewusst war.
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Unabhängig davon kann nach der Vorschrift des § 45 Abs. 3 Satz 3 der rechtswidrige
Verwaltungsakt nur bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe
zurückgenommen werden. Da die Rücknahme mit Bescheid vom 30.09.2003 erfolgte,
können demnach allenfalls Leistungen ab September 1993 und nicht - wie hier - seit
März 1993 zurückgenommen werden. Zwar gilt die Vorschrift des § 45 Abs. 3 Nr. 3SGB
X nur für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung und bei den streitbefangenen Bescheiden
handelt es sich - jedenfalls nach der früheren Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts - nicht um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, die Kammer
ist aber der Auffassung, dass die Vorschrift des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X erst Recht für
Verwaltungsakte gilt, die keine Dauerverwaltungsakte sind, denn es ist nicht ersichtlich,
dass der Gesetzgeber ausgerechnet Verwaltungsakte, die keine Dauerverwaltungsakte
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sind, von der Schutzvorschrift des § 45 Abs. 3 Nr. 3 SGB X ausnehmen wollte.
So wohl auch von Wulffen a.a.O. § 45 Anm. 25.
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Das Gericht hat schließlich auch Bedenken, ob eine Rücknahme nicht an der Vorschrift
des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X scheitert. In der Verwaltungsakte befand sich bereits im
Jahre 1994 (Seite 1008) ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Klägerin Kindergeld
erhielt. Dies hätte der zuständigen Sachbearbeiterin geradezu ins Auge springen
müssen, denn auf dem entsprechenden Kontoauszug ist ausdrücklich vermerkt, dass es
sich bei der Zahlung von 270,00 DM um "Kindergeld" handelt. Spätestens seit der
Mitteilung des Arbeitsamtes X (Seite 1197 der Verwaltungsakte) vom 16.10.2000 hin
hätte der Sachbearbeiter der Beklagten erkennen müssen, dass die Klägerin Kindergeld
bezogen hat. Dort ist nämlich ausdrücklich aufgeführt "bis 10/00 durchgehend". Warum
diese völlig zutreffende Mitteilung des Arbeitsamtes X von der Sachbearbeiterin der
Beklagten ein halbes Jahr nach ihrem Eingang mit dem Vermerk versehen wurde, die
Mitteilung sei unrichtig, erschließt sich dem Gericht nicht. Seltsam ist an dem Vermerk
auch, dass er – entgegen sonstiger Geflogenheiten in der Akte – mit einem Datum
versehen wurde. Dagegen wurde der Aufbereitungsvermerk auf Blatt 1248 f
Verwaltungsakte ohne Datum erstellt, so dass nicht ersichtlich ist, ob ab dem Zeitpunkt
dieses Vermerks die Handlungsfrist eingehalten wurde.
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Nach alledem spricht allerdings vieles dafür, dass die einjährige Handlungsfrist des §
45 Abs. 4 Satz 2 nicht eingehalten wurde.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
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