Urteil des SozG Düsseldorf vom 17.05.2002

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Sozialgericht Düsseldorf, S 4 KR 160/99
Datum:
17.05.2002
Gericht:
Sozialgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 4 KR 160/99
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 172/02
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
1. Die Beklagte wird verurteilt, für die stationäre Behandlung des
Versicherten C vom 05.12.1997 bis 09.12.1997 noch den Betrag von
2.931,32 DM bzw. 1.498,76 Euro sowie 2 % Zinsen über dem jeweiligen
Diskontsatz der Deutschen Bundesbank bezogen auf 2.931,32 DM für
die Zeit vom 20.07.1999 bis 30.04.2000 und von 2 % über dem
Basissatz ab 01.05.2000 bezogen auf 2.931,32 DM bzw. 1.498,76 Euro
zu zahlen. 2. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außer-
gerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
1
Streitig ist die Zahlung von 2.931,32 DM plus Zinsen für die stationäre Behandlung des
in der HNO-Klinik des Städt. Krankenhauses des Städt. Klinikums L.
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Der am 00.00.0000 geborene Versicherte war bereits 1995 in der dortigen Klinik wegen
Tinnitus und Hochtonschwerhörigkeit und otitis externa behandelt worden. Eine erneute
stationäre Behandlung im Klinikum L fand statt vom 29.11. bis 09.12.1997. Er wurde als
Notfallpatient wegen Tinnitus und Otalgien eingewiesen. In der Aufnahmeanzeige des
Krankenhauses heißt es: Tinnitus und otitis externa. Die Aufnahmeanzeige wurde am
08. Dezember 1997 an die Beklagte gesandt. Die Kostenübernahmeerklärung bis
05.12.1997 erfolgte dann vor dem 15.12.1997, ohne dass sich eine entsprechende
Unterlage in den Akten befindet.
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In einem Schriftsatz vom 15.12.1997 hat die Beklagte der Klägerin gegenüber
zugestanden, dass für die Zeit vom 29.11. bis 05.12.1997 die Kosten übernommen
würden. Eine Berechnung befindet sich nicht in den Akten. Die Beklagte hat am
05.01.1998 der Klägerin mitgeteilt, dass um Übersendung eines ausführlichen
Krankenhausberichtes, und zwar direkt an den MDK gebeten würde. Die bisherigen
Angaben reichten nicht aus um beurteilen zu können, ob die Dauer der Behandlung
notwendig gewesen wäre. Die Beklagte hat dann weiter mit Schreiben vom 27.02.1998
der Klägerin mitgeteilt, dass aufgrund der inzwischen vorgelegten Aufnahmeanzeige
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und des Entlassungsberichtes die Notwendigkeit einer stationären Behandlung nicht
erkennbar wäre. Die Leistungspflicht würde jedoch bis 05.12.1997 anerkannt. Mit
weiterem Schreiben vom 01. September 1998 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass
aufgrund des Verlängerungsantrages die Beklagte sich bereit erklärte, die stationäre
Behandlung bis zum 05.12.1997 zu übernehmen. Der von der Beklagten eingeschaltete
MDK hat dann durch den Hals-Nasen-Ohren-Arzt V vom 29.10.1998 in einer
Stellungnahme vorgetragen, dass eine stationäre Behandlung nicht zwingend
erforderlich gewesen wäre, die hier durchgeführte rheologische Infusionstherapie hätte
auch ambulant durchgeführt werden können. Die Beklagte weigerte sich daraufhin, die
Kosten der stationären Behandlung für die restlichen Tage vom 05.12. bis 09.12.1997
zu zahlen.
Dagegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage. Zur Begründung wird
vorgetragen: Die stationäre Behandlung hätte den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft
für HNO Heilkunde entsprochen. Insbesondere sei für einen Heilerfolg es wichtig
gewesen, den Patienten aus dem häuslichen Umfeld zu isolieren, um die mit dieser
Krankheit verbundenen Stresskomponenten abzubauen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zur Zahlung von 2931,32 DM und 2 % über den Diskontsatz bezogen auf
die Summe von 2931,32 DM für den Zeitraum vom 22.07.1999 bis 30.04.2000 und 2 %
über den Basissatz bezogen auf 2931,32 DM für die Zeit ab 01.05.2000 zu verurteilen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte schließt sich der Auffassung des MDK an: Die Beklagte hat während des
Gerichtsverfahrens mehrfach den MDK eingeschaltet. Zusammenfassend kommt der
MDK zu der Beurteilung, dass das hier verabreichte Medikament Trental auch enteral
resorbierbar wäre, die Infusionstherapie wäre darüber hinaus auch ambulant möglich
gewesen, außerdem sei die Wirksamkeit der hier durchgeführten medikamentösen
Infusionstherapie nicht nachgewiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der
Beteiligten und den übrigen Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Verwaltungsakten
der Beklagten und die Krankenakte der Klägerin haben vorgelegen und sind
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die erhobene allgemeine Leistungsklage ist zulässig und begründet.
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Unter Zugrundelegung der vom Bundessozialgericht dem Urteil vom 13.12.2001 - B 3
KR 1101 R - dargelegten Rechtsauffassung ergibt sich der Vergütungsanspruch des
Vertragskrankenhauses gegenüber der Krankenkasse unmittelbar aus der
Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten: "Die Krankenkasse ist bei
einem zugelassenen Krankenhaus im Sinne des § 108 SGB V als Korrelat zu dessen
Behandlungspflicht auch ohne zusätzliche vertragliche Vereinbarung verpflichtet, die
normativ festgelegten Entgelte zu zahlen, sofern die Versorgung im Krankenhaus
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erforderlich ist. Über die Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung entscheidet
zunächst der Krankenhausarzt. Eine Zahlungspflicht der Krankenkasse für die
stationäre Versorgung eines Versicherten entfällt nur dann, wenn sich die Entscheidung
des Krankenhausarztes nach seinen jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten als
nichtvertretbar herausstellt".
Für die Frage, ob Einwendungen der Beklagten gegen die Notwendigkeit und gegen die
Dauer der Krankenhausbehandlung rechtlich beachtlich sind, kommt es zunächst auf
die Einhaltung des im Vertrag zwischen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-
Westfalens einerseits und den Landesverbänden der primär und Ersatzkassen
Nordrhein-Westfalen andererseits gemäß § 102 Abs. 2 Nr. 2 SGB V betreffend die
Überprüfung die Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung vorgesehenen
Überprüfungsverfahrens an. Nach diesen am 06.03.1991 geschlossenen Vertrag (im
Folgenden KÜV bezeichnet) ergibt sich grundsätzlich ein zweiteiliges
Prüfungsverfahren. Danach hat die Krankenkasse zunächst über die "Plausibilität der
Notwendigkeit und Dauer der stationären Behandlung durch Sachbearbeiter der Kasse
zu entscheiden. Im Rahmen der Plausibilitätskontrolle darf die Kasse gemäß § 2 Abs. 1
Satz 2 und 3 KÜVNW "vor Beauftragung des MdK unter Angabe des
Überprüfungsanlasses" eine Stellungnahme des Krankenhauses anfordern. Bleiben die
Zweifel bestehen, so ist die Kasse zur selbständigen weiteren Prüfung nicht mehr
berechtigt und muß - falls sie den Vergütungsanspruch nicht anerkennen will - für die
weitere Überprüfung den MdK beauftragen, womit der 2. Teil des
Überprüfungsverfahrens eingeleitet wird. Bei der Überprüfung durch den Mdk ist zu
unterscheiden: Befindet sich der Patient zur Zeit der Beauftragung des MdK noch im
Krankenhaus, so "sollte" die Überprüfung im Krankenhaus stattfinden (siehe § 2 Abs. 2
KÜVNW). Ist die stationäre Behandlung bereits beendet, so können die Ärzte des MdK
eine Übersendung der Krankenunterlagen in Kopie verlangen (siehe § 2 Abs. 2
KÜVNW). Verstöße gegen dieses Verfahrens oder Verzögerungen oder verspätete
Anträge können - nach Auffassung des BSG - zum Verlust von Einwendungen oder zur
Umkehr der Beweislast führen. Das BSG geht im Urteil vom 13.12.2001 (aao) von dem
Grundsatz aus, daß die Überprüfung im frühest möglichen Zeitpunkt unter Beachtung
des im KÜV geregelten Verfahrens durchgeführt werden soll.
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Daraus ergeben sich im vorliegenden Fall folgende Konsequenzen. Da die
Aufnahmeanzeige einen Tag vor Entlassung bei der Beklagten einging, war eine
Überprüfung im Krankenhaus nicht mehr möglich. Die mit Schreiben vom 05.01.1998
von der Beklagten erhobene Bitte, dem MDK einen ausführlichen Bericht zukommen zu
lassen, stellt einerseits den Abschluß der oben genannten Plausibilitätsprüfung insofern
dar, als der Sachbearbeiter der Beklagten Zweifel an der notwendigen Dauer der
Krankenhausbehandlung hatte und leitet andererseits den zweiten Teil des
Überprüfungsverfahrens durch eine selbständige Überprüfung durch den MDK ein. Mit
Schreiben vom 27.02.1998 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass aufgrund der
Aufnahme und Entlassungsanzeige und des Entlassungsberichtes die Notwendigkeit
einer stationären Behandlung über den 05.12.1997 hinaus nicht nachgewiesen sei. Die
Beklagte hat eventuelle Einwendungen gegen die Notwendigkeit und Dauer der
Behandlung durch die Fortführung des Überprüfungsverfahrens durch Einholung
weiterer MDK-Stellungnahmen nicht verloren. Das im KÜV vorgesehene
Überprüfungsverfahren wurde somit eingehalten.
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Die Beklagte hat jedoch für die Beurteilung der Notwendigkeit und Dauer der
stationären Behandlung einen falschen Maßstab zugrundegelegt. Die Beklagte beurteilt
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die Notwendigkeit und Dauer der stationären Behandlung nach dem Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse im Beurteilungszeitpunkt unter Zugrundelegung eines
möglichst neutralen objektiven Bewertungsmaßstabes. Wie das BSG im Urteil vom
13.12.2001 (aao) ausführt, kommt es jedoch nur darauf an, ob die Entscheidung des
Krankenhausarztes nach seinen jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten sich als nicht
vertretbar herausstellt. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen: 1. Maßgeblicher
Zeitpunkt für die Beurteilung ist ausschließlich der Zeitpunkt der Aufnahme bzw. der
Zeitraum der Dauer der stationären Behandlung. Wissenschaftliche Erkenntnisse über
die grundsätzliche Wirksamkeit der angewandten Therapien, die erst nach
Durchführung der jeweils streitigen Behandlung bekannt geworden sind, dürfen für die
Beurteilung nicht zugrundegelegt werden. 2. Für die Beurteilung der Notwendigkeit und
Dauer der stationären Behandlung sind die Kenntnisse über das Krankheitsbild
zugrundezulegen, die der behandelnde Krankenhausarzt im Zeitpunkt der Aufnahme
bzw. bei Streit über eine Verlängerung des Aufenthaltes im Zeitpunkt des
Verlängerungsantrages hat davon abweichende Erkenntnisse über das Krankheitsbild,
die sich im Verlaufe der Behandlung herausstellen und bei Entlassung feststehen,
dürfen für die Beurteilung ebenfalls nicht herangezogen werden. 3. Für die Frage, ob die
angewandten Therapien auch ambulant hätten durchgeführt werden können oder eine
stationäre Behandlung erforderlich war, kommt es nur darauf an, daß die stationäre
Behandlung aus Sicht des Krankenhausarztes "vertretbar" war. Herrscht in der
medizinischen Wissenschaft im Zeitpunkt der Behandlung ein wissenschaftlicher Streit
darüber, ob die Therapien ambulant durchgeführt werden dürfen oder stationär
durchgeführt werden müssen, so ist nicht die neutral objektive Sicht eine Gutachters
maßgebend, sondern nur die wissenschaftlich vertretbare Auffassung des
Krankenhausarztes.
Die in den Stellungnahmen des MDK erwähnten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus
den Jahren seit 1998 dürfen daher hier für die Beurteilung des Falles nicht
herangezogen werden. Die Beklagten bzw. der MDK räumt selber ein, daß nach der aus
dem Jahr 1996 stammenden Leitlinie eine stationäre Infusionsbehandlung empfohlen
wird. Soweit der MDK rügt, daß die Empfehlungen der deutschen Gesellschaft für HNO-
Heilkunde sich nicht auf evidenzbasierte Erkenntnisse stütze, reicht dies nicht aus, um
eine aus wissenschaftlicher Sicht vertretbare Ansicht der notwendigen stationären
Behandlungen zu verneinen. Im stationären Bereich steht die Anwendung von
Therapien nicht unter dem Genehmigungsvorbehalt durch den Bundesausschuss der
Ärzte und Krankenkasse wie im ambulanten Bereich. Die grundsätzliche
Abrechenbarkeit während der stationären Behandlung angewandter Therapien muss
zwar auch gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt
berücksichtigen; der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse
konkretisiert sich jedoch nicht in den vom Bundesausschuss erlassenen Richtlinien,
sondern beurteilt sich nach medizinischen Standard und auch nach den Auffassungen
der medizinischen Fachgesellschaften. Vertritt eine medizinische Fachgesellschaft eine
bestimmte Auffassung über die Wirksamkeit bestimmter Therapien, so muß diese
Auffassung als zumindest vertretbar beurteilt werden. Es kann dem gegenüber nicht
eingewandt werden, daß sich unter Berücksichtigung von wissenschaftlichen Studien
die Wirksamkeit dieser Therapie anders darstellt. Dies ver- deutlicht, daß es für die
"Vertretbarkeit" der Ansicht des Krankenhausarztes über die Notwendigkeit der
stationären Behandlung ausreicht, wenn dessen Auffassung zumindest von
wesentlichen Teilen der medizinischen Wissenschaft als zutreffend dargestellt wird. Die
Auffassung der Klägerin wird hier durch die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für
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HNO-Heilkunde zumindest im Zeitpunkt der Behandlung noch als zutreffend bewertet.
Damit ist die Auffassung des Krankenhausarztes über die Notwendigkeit der stationären
Behandlung bis zum Ende der Behandlung am 09.12.1997 wissenschaftlich vertretbar.
Die Notwendigkeit der stationären Behandlung bis zu diesem Zeitpunkt ist somit
nachgewiesen.
Der Klage war daher statt zu geben. Die Klägerin erhält außerdem Anspruch auf
Zahlung der gesetzlichen Zinsen, wie sie sich aus dem Tenor ergeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 198 in der hier noch maßgeblichen bis zum
31.12.2001 geltenden Fassung.
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