Urteil des SozG Dresden vom 28.07.2006

SozG Dresden: unterbringung, erlass, aufenthalt, eingliederung, begriff, pflege, rechtsschutz, hauptsache, behandlung, entstehungsgeschichte

Sozialgericht Dresden
Beschluss vom 28.07.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 34 AS 1134/06 ER
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt Leistungen nach dem SGB II.
Der Antragsteller befand sich vom 07.03.2005 bis 11.04.2006 in Strafhaft in der JVA C ... Am 11.04.2006 wurde er
aus der Haft entlassen und begann am selben Tag eine Langzeitentwöhnungstherapie in der Fachklinik H. in W ...
Diese soll 16 Wochen bis zum 01.08.2006 andauern.
Am 27.04.2006 beantragte der Antragsteller Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner.
Mit Bescheid vom 11.05.2006 wurden ihm Leistungen nach dem SGB II bewilligt und zwar für Mai 2006 in Höhe von
132,40 EUR, für Juni 2006 132,40 EUR und für Juli 2006 138,00 EUR. Für April 2006 wurde das Haftentlassungsgeld
in Höhe von 330,55 EUR als Einkommen angerechnet, so dass sich kein übersteigender Bedarf ergab. Zudem wurden
Bestandteile der Regelleistung in Höhe von 132,40 EUR im Mai und Juni 2006 und in Höhe von 207,00 EUR im Juli
2006 vom Regelsatz abgezogen, da sie nicht benötigt würden.
Mit Schreiben vom 19.05.2006 legte der Antragsteller Widerspruch gegen die Kürzung der Regelleistung ein. Die
Kürzung sei rechtswidrig. Ihm stünde der volle Regelsatz zu. Zudem sei die Anrechnung des Haftentlassungsgeldes
nicht statthaft. Er habe das Geld angespart.
Mit Änderungsbescheid vom 07.06.2006 bewilligte der Antragsgegner ihm für April 2006 weitere 88,27 EUR
Leistungen nach dem SGB II, weil das angesparte Haftentlassungsgeld als Vermögen zu behandeln sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28.06.2006 wies der Antragsgegner den Widerspruch des Antragstellers als im
Übrigen unbegründet zurück. Dem Antragsteller stünde nicht der volle Regelsatz zu. Er spare aufgrund der stationären
Unterbringung Kosten für Nahrung, Getränke und Tabakwaren (38%), für die Wohnung ohne Mietkosten und Strom
(8%), für Möbel, Apparate und Haushaltsgeräte (8%) und für Verkehr (6%). Diese Kosten würden von der
Krankenkasse übernommen. Daher stünden ihm nur die verbleibenden 60% der Regelleistung zu.
Mit Schreiben, eingegangen bei Gericht am 17.07.2006, beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen
Anordnung, mit der er die Nachzahlung von 198,00 EUR für April 2006, von 198,00 EUR für Mai 2006, von 198,00
EUR für Juni 2006 und von 207,00 EUR für Juli 2006, insgesamt also 801,00 EUR, begehrt.
Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm für die Monate April bis Juni 2006
jeweils 198,00 EUR und für Juli 2006 207,00 EUR, insgesamt also 801,00 EUR nachzuzahlen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Der Antragsgegner führt in seiner Antragserwiderung aus, dem Antragsteller stünden gar keine Leistungen zu. Er sei
länger als sechs Monate stationär untergebracht, so dass er keine Leistungen nach dem SGB II erhalte (§ 7 Abs. 4
SGB II). Man müsse die Zeit der Strafhaft mitberücksichtigen. Denn die Durchführung der Therapie sei Voraussetzung
für die Haftentlassung gewesen. Zudem sei dem Antragsteller auch zu viel bewilligt worden. Der Bedarf des
Antragstellers sei im Wesentlichen seitens der Einrichtung gedeckt. Darüber hinaus bestünde nur noch Bedarf für
Bekleidung und Gesundheitspflege sowie für Kommunikation und Genussmittel. Dieser Bedarf liege nach persönlicher
Einschätzung unter 20% der Regelleistung, jedenfalls nicht bei den bewilligten 40%. Für die Vergangenheit fehle es
sowieso am Anordnungsgrund. Für die Zeit ab dem 17.07.2006 sei der Bedarf des Antragstellers durch die
Unterbringung gedeckt. Abzuwendende Nachteile entstünden dem Antragsteller nicht.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Antragsgegners mit der Nummer. beigezogen und zum Gegenstand des
Verfahrens gemacht. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene
Akte, die Gerichtsakte und die gewechselten Schriftsätze ergänzend Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war abzulehnen, da er unbegründet ist.
Der Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Regelung. Das Gericht kann auf Antrag nach § 86b Abs. 2 S.
2 SGG eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.
Neben dem Anordnungsgrund (Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet) setzt die Gewährung
von einstweiligem Rechtsschutz nach herrschender Meinung den Anordnungsanspruch (materiell-rechtlicher Anspruch
auf die Leistung) voraus, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden
soll (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Auflage, Rdnr. 26c zu § 86b). Anordnungsanspruch
und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System gegenseitiger
Wechselbeziehung. Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag
auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein
schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so
vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund (wie vor Rdnr. 29). Bei offenem Ausgang des
Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
berührt sind, weil sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen müssen
(BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 ).
Alle Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes sind - unter Beachtung der Grundsätze der objektiven
Beweislast - glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Die
richterliche Überzeugungsgewissheit in Bezug auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und
des Anordnungsgrundes erfordert insoweit eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig, a. a. O.,
Rdnr. 16b).
Im vorliegenden Fall fehlt es bereits am Anordnungsanspruch. Dem Antragsteller stehen keine Leistungen nach dem
SGB II zu, weil er für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist (§ 7 Abs. 4 SGB II).
Der Antragsteller war vom 07.03.2005 bis 11.04.2006 in Strafhaft in der JVA C. und ist seit dem 11.04.2006 bis zum
01.08.2006 in der Fachklinik H. zwecks Unterziehung einer Drogenentzugstherapie.
Sowohl bei der Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt als auch bei der Unterbringung in der Klinik handelt es sich
um Unterbringungen in einer stationären Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II.
Ob die Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt eine Unterbringung in einer stationären Einrichtung im Sinne von §
7 Abs. 4 SGB II ist, ist sehr umstritten. So bejahen dies unter anderen LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom
27.03.2006, Az. L 8 AS 1171/06 ER-B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31. August 2005, Az. L 19 B 48/05
AS ER; Bayer. LSG, Beschluss vom 27. Oktober 2005, Az. L 11 B 596/05 AS ER; SG Reutlingen, Beschluss vom
01.03.2006, Az. S 3 KR 330/06 ER; SG Würzburg, Beschluss vom 29.03.2005, Az. S 10 AS 27/05 ER; vgl. auch
Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, München 2005, § 7 Rdnr. 34; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, Kommentar zum
SGB II Loseblattsammlung, § 9 Rdnr. 69). Dagegen verfechten unter anderen das LSG Schleswig Holstein,
Beschluss vom 14.11.2005, Az. L 9 B 260/05 SO ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.09.2005, Az.
L 8 AS 196/05 ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2006, Az. L 7 AS 423/05 ER; LSG Baden-
Württemberg, Beschluss vom 21.03.2006, Az. L 7 AS 1128/06 ER; SG Nürnberg, Beschluss vom 09.05.2005, Az. S
20 SO 106/05 ER; Peters in: Estelmann, SGB II, § 7 Rn. 39, die Auffassung, dass eine Justizvollzugsanstalt keine
stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II sei.
Der Begriff "stationäre Einrichtung" ist im SGB II nicht näher definiert. Daher wird zum Teil auf die Legaldefinition in §
13 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 SGB XII zurückgegriffen (siehe Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 21.03.2006, Az.
L 7 AS 1128/06 ER-B, mit weiteren Nachweisen). Danach sind stationäre Einrichtungen Einrichtungen, in denen
Leistungsberechtigte leben und die erforderlichen Hilfen erhalten. Sie dienen der Pflege, der Behandlung oder
sonstigen nach dem SGB XII zu deckenden Bedarfe oder der Erziehung. Demnach würde zwar der Aufenthalt in der
Fachklinik zwecks Unterziehung einer Drogenentzugstherapie als Unterbringung in einer stationären Einrichtung
zählen, nicht jedoch die Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt. Denn letztere dient nicht der Pflege, der
Behandlung oder sonstigen nach SGB XII zu deckenden Bedarfen oder der Erziehung.
Dem folgt das Gericht nicht. Nach Auffassung des Gerichts ist der Begriff "stationäre Einrichtung" auszulegen. Die
Auslegung ergibt, dass auch die Justizvollzugsanstalt eine stationäre Einrichtung ist.
Der Wortlaut "stationäre Einrichtung" spricht dafür. Eine "stationäre Einrichtung" ist eine auf Dauer angelegte
Organisationseinheit von sächlichen und personellen Mitteln, die darauf ausgerichtet und geeignet ist, im
Aufgabenbereich des Trägers eine anstaltsmäßige Betreuung von Personen über Tag und Nacht sicherzustellen. Dies
gewährleistet die Justizvollzugsanstalt.
Auch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt diese Auffassung. Im Entwurf des SGB II vom 05.09.2003 (BT-
Drs 15/1516 S.10) war vorgesehen, dass ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger, der stationär untergebracht ist, überhaupt
keine Leistungen nach dem SGB II erhalten solle. Der Gesetzgeber hielt diesen Wortlaut für aus sich heraus
verständlich, so dass sich für diese ursprüngliche Fassung im Gesetzentwurf keine Begründung findet. Gegen diese
Regelung, wonach jeder erwerbsfähige Hilfebedürftiger bei stationärer Unterbringung von Leistungen nach dem SGB II
ausgeschlossen war, erhob sich erheblicher Widerstand mit Blickrichtung auf Personen, die sich nur vorübergehend in
Einrichtungen z.B. der Wohnungslosenhilfe, in stationärer Krankenbehandlung oder aber in Untersuchungshaft
befanden. Das führte zur Einführung der Sechsmonatsfrist in § 7 Abs. 4 SGB II, ohne dass aber der sachliche
Anwendungsbereich der Norm eine Änderung erfuhr (Bayer. LSG, Beschluss vom 27. Oktober 2005, Az. L 11 B
596/05 AS ER).
Insbesondere aber der Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II gebietet es, Justizvollzugsanstalten als stationäre
Einrichtungen anzusehen. Das SGB II regelt die Grundsicherung für Arbeitssuchende. So heißt es in § 1 SGB II: Die
Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen,
die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt
unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 Abs. 1 S. 1 SGB II). Die
Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst Leistungen
1. zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit und
2. zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die Leistungsempfänger müssen Arbeitssuchende sein. Sich in Strafhaft befindende Personen sind jedoch keine
Arbeitssuchende in diesem Sinne. Sie haben gar nicht die Möglichkeit, einer normalen Arbeit auf dem 1. Arbeitsmarkt
nachzugehen. Das SGB II setzt eine Verfügbarkeit wie im Arbeitsförderungsrecht (SGB III) nicht voraus.
Erwerbsunfähig ist gemäß § 8 Abs. 1 SGB II nur, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit
außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich
erwerbstätig zu sein. Lediglich Ausländer können noch aus rechtlichen Gründen erwerbsunfähig sein, wenn ihnen die
Aufnahme einer Beschäftigung nicht erlaubt ist oder nicht erlaubt werden könnte (§ 8 Abs. 2 SGB II). Da es aber
offensichtlich keinen Sinn macht, Personen in Strafhaft Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu gewähren, die einen
der zwei Bestandteile der Leistungen nach dem SGB II ausmacht, muss § 7 Abs. 4 SGB II dahingehend auszulegen
sein, dass stationäre Einrichtungen auch Justizvollzugsanstalten sein können.
Der Rückgriff auf § 13 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 SGB XII käme zu dem Ergebnis, dass auch diesen Personen Leistungen
nach dem SGB II zustehen. Das kann vor dem Hintergrund des Zwecks des SGB II, nämlich die Grundsicherung der
Arbeitssuchenden, nicht gewollt sein. Daher ist diese Auffassung abzulehnen.
Zeiten der Haft und ein sich direkt im Anschluss an die Haft anschließender Aufenthalt in einer Fachklinik zur
Drogenentwöhnung sind zusammenzurechnen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.03.2006, Az. L 8 AS
1171/06 ER-B; SG Reutlingen, Beschluss vom 01.03.2006, Az. S 3 KR 330/06 ER). Auch wenn es in § 7 Abs. 4 SGB
II heißt, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, erhält keine Leistungen, ist
damit nicht gemeint, dass jeder Aufenthalt in einer stationären Einrichtung für sich zu betrachten ist. Dies käme zu
dem widersinnigen Ergebnis, dass auch der sich für mehr als sechs Monate in Strafhaft Befindende, wenn er für kurze
Zeit im Krankenhaus ist, in dieser Zeit Leistungen nach dem SGB II erhält.
Für die anzustellende Prognoseentscheidung ist die gesamte bereits zurückliegende und die noch zu erwartende
Dauer der stationären Unterbringung zu berücksichtigen (SG Reutlingen, Beschluss vom 01.03.2006, Az. S 3 KR
330/06 ER).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.