Urteil des SozG Dresden vom 18.08.2005

SozG Dresden: lege artis, verwertung, grundstück, beleihung, rechtsschutz, pflege, wohnfläche, verkehrswert, erfahrung, wahrscheinlichkeit

Sozialgericht Dresden
Beschluss vom 18.08.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 21 AS 700/05 ER
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 09.08.2005
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für
Arbeitssuchende – in Höhe von monatlich 80% der gesetzlichen Höhe, zuzüglich der an die
Sozialversicherungssysteme (gesetzliche Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) für Empfänger von Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhaltes abzuführenden Pflichtbeiträge, bis zum Abschluß des Widerspruchsverfahrens
zu zahlen. II. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhaltes nach dem SGB II und des damit verbundenen Versicherungsschutzes in der gesetzlichen
Sozialversicherung.
Der am ... geborene Antragsteller (Ast.) ist zur Hälfte Miteigentümer an dem Mehrfamilienhausgrundstück ... in N.,
welches eine Gesamtwohnfläche von 235 qm (vom Ast. selbst bewohnt: 53 qm) sowie eine Grundstücksgröße von
1070 qm aufweist und mit einer Grundschuld in Höhe von 112.000,00 DM belastet ist. Am 28.09.2004 beantragte er
unter Beireichung der erforderlichen Unterlagen beim Antragsgegner (Agg.) Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem SGB II.
Daraufhin bewilligte der Agg. dem Ast. mit Bescheid vom 07.12.2004 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes für den Zeitraum 01.01.2005 bis 30.04.2005 in Höhe von 297,90 Euro monatlich und für den
Zeitraum 01.05.2005 bis 30.06.2005 in Höhe von monatlich 242,92 Euro.
Am 25.04.2005 beantragte der Ast. die Fortzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem
01.07.2005.
Mit Bescheid vom 03.08.2005 lehnte der Agg. den Antrag des Ast. mit der Begründung ab, daß der Ast. wegen
verwertbaren Vermögens nicht hilfsbedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II sei. Da die Wohnfläche des Grundstücks
in N. die maßgebliche Grenze von 70 qm erheblich überschreite, sei daß Grundstück grundsätzlich durch Verkauf
oder Beleihung zu verwerten. Die abgeschlossenen Wohneinheiten könnten eigentumsrechtlich verselbständigt
werden, wodurch die Wohnfläche durch Verkauf der nicht selbst genutzten Wohneinheiten zurückgeführt werden
könnte. Es sei eine Verwertung der eigentumsrechtlich teilbaren Gebäudebestand-teile vorzunehmen.
Hierzu trug der Ast. vor, umgehend dagegen Widerspruch einzulegen.
Am 09.08.2005 erhob der Ast. beim Sozialgericht Dresden einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Er ist im
wesentlichen der Ansicht, keinen Nutzen aus seinem Wohneigentum ziehen zu können. Die vermietete Wohnung sei
nicht veräußerbar; die Mieteinnahmen würden zur Abzahlung der Kreditzinsen verwendet werden und würden nicht
zum Lebensunterhalt bereitstehen.
Der Antragsteller beantragt,
"1. mir vor dem Sozialgericht Dresden einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. 2. Außergerichtliche Kosten sind zu
erstatten. 3. Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes."
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er begründet seinen Antrag unter Bezugnahme auf die §§ 19, 12 SGB II und ergänzt, daß entsprechend des
Miteigentumsanteils die Hälfte der Gesamtwohnfläche die nach der Unterkunftsrichtlinie angemessenen 70 qm
beträchtlich übersteige. Da das Grundstück mit einer Grundschuld in Höhe von 112.000 DM belastet ist, könne von
einem Grundstückswert von mindestens in dieser Höhe ausgegangen werden. Die Hälfte dieses Wertes übersteige
den Vermögensfreibetrag nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II. Der Vermögensgegenstand sei auch grundsätzlich
verwertbar. Ein Vorrang der Verwertung durch Vermietung könne nicht geltend gemacht werden, weil durch die
Mieteinnahmen nicht der Bedarf des Antragstellers gedeckt würde. Im übrigen obläge es dem Ast. die
Verwertungsbemühungen bzw. deren Scheitern darzulegen.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Agg. unter der Nummer der Bedarfsgemeinschaft ... beigezogen und zum
Gegenstand des Verfahrens gemacht. Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Leistungsakte des
Agg. sowie die Gerichtsakte mit den gewechselten Schriftsätzen nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Verpflichtung des Agg. dem Ast. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren, ist als Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b
Abs. 2 SGG und § 131 Abs. 5 S. 2 SGG analog statthaft und auch begründet.
Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der eine Verpflichtung der in Anspruch genommenen Behörde oder eine
Leistung begehrt wird, setzt das Bestehen eines durch die Anordnung zu schützenden Rechts (Anordnungsanspruch)
und einen Anordnungsgrund voraus. Beides hat der Ast. glaubhaft gemacht.
1. Vorliegend konnte der Ast. glaubhaft machen, ab Eingang des Antrags bei Gericht (09.08.2005) einen Anspruch auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu haben.
Nach der verfahrensbedingt notwendigerweise nur summarischen Prüfung sind die Anspruchsgrundvoraussetzungen
der Berechtigung (§ 7 SGB II), der Erwerbsfähigkeit (§ 8 SGB II) und auch der Hilfsbedürftigkeit (§ 9 SGB II) im Falle
des Ast. dem Grunde nach gegeben.
Entgegen der Ansicht des Agg. ist vorliegend davon auszugehen, daß auch ab dem 01.07.2005 respektive ab dem
09.08.2005 eine Hilfsbedürftigkeit des Ast. im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II gegeben ist, da sich an dessen
wirtschaftlicher Situation im Vergleich zum Bewilligungszeitraum 01.01.2005 bis 30.06.2005 nichts verändert hat. Dem
Agg. war die Miteigentümerschaft des Ast. am Mehrfamilienhausgrundstück ... in N. schon bei der Erstbewilligung
bekannt, wurde allerdings damals nicht berücksichtigt oder anders bewertet. Nach Ansicht der Kammer ist vorliegend
mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß das Grundstück nicht innerhalb einer
angemessenen Frist einer Verwertung durch Veräußerung oder Beleihung zuzuführen ist. Die Kammer läßt sich
insoweit von ihrer im arbeitslosenhilferechtlichen Bereich gesammelten Erfahrung leiten, die in vergleichbaren
Situationen regelmäßig die nicht rechtzeitig mögliche Verwertbarkeit derartiger Grundstücke ergab. Denn es bedarf
nicht nur eines tatsächlich verwertbaren Vermögensgegenstandes, sondern es muß dem Berechtigten auch möglich
sein, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums den Vermögensgegenstand tatsächlich einer Verwertung zuzuführen.
Hier spricht – unabhängig von den entstehenden Kosten – bereits die einer Veräußerung vorangehende notwendige
Generierung von Wohnungseigentum nach dem WEG gegen eine zeitnahe Verwertung. Das im übrigen eine Beleihung
eines bereits belasteten Grundstücks durch Alg-II-Empfänger von den entsprechenden Kreditinstituten abgelehnt wird,
ist nicht nur gerichtsbekannt, sondern Allgemeinwissen, und dürfte daher auch dem Agg. nicht entgangen sein.
Nach notwendigerweise nur summarischer Prüfung der Sach- und Rechtlage ist vorliegend auch aus dem Vortrag des
Agg. nichts ersichtlich, was auf eine Verwertbarkeit des Hausgrundstücks im Sinne von § 12 SGB II schließen ließe.
Bevor der Agg. in eine Prüfung der Absätze 2 und 3 des § 12 SGB II einzusteigen hat, müßte er erst einmal ermitteln
(vgl. § 20 SGB X !), ob es sich bei dem Hausgrundstück überhaupt um einen verwertbaren Vermögensgegenstand im
Sinne von § 12 Abs. 1 SGB II handelt. Zwar wird die Verwertbarkeit vom Agg. behauptet, woher er allerdings diese
Erkenntnis nimmt, wird weder aus dem Ablehnungsbescheid noch aus der Leistungsakte ersichtlich. Soweit der Agg.
vorträgt, da das Grundstück mit einer Grundschuld in Höhe von 112.000 DM belastet sei, entsprechend auch von
einem Grundstückswert von mindestens dieser Höhe auszugehen sein müsse, hat er nicht berücksichtigt, daß
bestehende Passiva von den Aktiva des konkreten Vermögensgegenstands auch wieder abzuziehen sind. Ausgehend
von der Berechnung des Agg. wäre das Hausgrundstück des Ast. dann nämlich mit Null zu bewerten. Vorliegend hat
der Agg. auch nicht die ihm ohne weiteres zugängliche Bodenrichtwertkarte zu Rate gezogen, um den Qm-Preis in der
entsprechenden Wohnlage zu erforschen.
Vorliegend hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, so daß es dem Rechtsgedanken des § 131
Abs. 5 S. 1 und S. 2 SGG folgend aufgrund des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz bis zum Erlaß des
Widerspruchsbescheides eine einstweilige Regelung treffen kann. Der Agg. wird im durchzuführenden
Widerspruchsverfahren Gelegenheit haben, nunmehr lege artis den Verkehrswert des Grundstücks zu ermitteln
(zumindest eine Verkehrswertmitteilung des Gutachterausschusses einzuholen, Kurzgutachten), die Passiva
(Grundschulden und Kosten im Zusammenhang mit der Schaffung von Wohnungseigentum nach dem WEG)
angemessen zu berücksichtigen und festzustellen, ob zu dem ermittelten Verkehrswert respektive mit welchem
prozentualen Abschlag zu welchem Zeitpunkt eine Veräußerung tatsächlich möglich wäre (Berücksichtigung der
Kaufpreissammlung zu vergleichbaren Grundstücken). Dabei wird er den Ast. zur Sachverhaltsaufklärung
heranzuziehen haben, insbesondere zur Ermittlung dessen tatsächlicher Verwertungsbemühungen bzw. deren
Scheitern.
2. Vorliegend hat der Ast. auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da er seinen Lebensunterhalt mit den
SGB II- Leistungen bestritten hat.
3. Um der Vorläufigkeit der Regelungsanordnung Rechnung zu tragen und zur Vermeidung der Vorwegnahme der
Hauptsache hält es das Gericht für erforderlich aber auch ausreichend, den Agg. zu verpflichten dem Ast. 80% der
ihm gesetzlich zustehenden Leistungen zu zahlen. Diesen Betrag hat der Agg. dem Ast. rückwirkend ab 09.08.2005
(Eingang des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens) zu zahlen. Mit der Leistungspflicht des Agg. verbunden ist das
Abführen der Sozialversicherungsbeiträge für den Ast., so daß dieser dem gesetzlichen Versicherungssystem in der
Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung ab 09.08.2005 zugehörig ist.
Nach alledem war dem einstweiligen Rechtsschutzantrag wie tenoriert stattzugeben. III. Die Kostenentscheidung
beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutzantrag. Eine
Kostengrundentscheidung ist auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu treffen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7.
Aufl. 2002, § 86b Rn. 17 und § 193 Rn. 2; Zeihe, SGG, Stand: April 2003, § 86b Rn. 37 f.). -