Urteil des SozG Dresden vom 19.04.2005
SozG Dresden: befristete rente, behinderung, bfa, unterlassen, untersuchungsgrundsatz, chirurgie, rechtsgrundlage, rehabilitation, widerspruchsverfahren, gerichtsverfahren
Sozialgericht Dresden
Gerichtsbescheid vom 19.04.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 19 SB 455/04
I. Der Widerspruchsbescheid vom 04.10.2004 wird aufgehoben. II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten
der Klägerin.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von höher als 20. Die am 1951 geborene
Klägerin beantragte am 24.10.2002 bei dem Beklagten die Feststellung von Behinderungen und des Grades der
Behinderung. Der Beklagte zog einen Reha-Entlassungsbericht der Klinik B K vom 18.11.2002, eine Epikrise des
Städtischen Klinikums G vom 19.09.2002 und Befundberichte von DM N , FA für Chirurgie, vom 17.12.2002, von Dr.
W , FA für Nuklearmedizin, vom 09.10.2002, von DM K , FÄ für Augenheilkunde, vom 19.01.2003 und von Herrn B ,
FA für Chirurgie, vom 06.03.2003 bei und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 08.07.2003 ab, weil zwar eine
Funktionsbehinderung des Schultergelenkes nach osteo-synthetisch versorgter Oberarmkopffraktur links und eine
Sehminderung beiderseits vorlie-ge, der dadurch bedingte GdB aber nicht wenigstens 20 betrage. Hiergegen erhob die
Klägerin am 28.07.2003 Widerspruch und legte eine Stellungnahme von Herrn B vom 24.06.2003 vor. Der Beklagte
holte einen Befundbericht von Herrn B vom 18.12.2003 ein und half dem Widerspruch mit Abhilfe-Bescheid vom
03.02.2004 insofern ab, als er mit Wirkung vom 24.10.2002 einen GdB in Höhe von 20 feststellte. Am 08.03.2004
teilte die Klägerin mit, dass sie diesen Bescheid als Teilabhilfebescheid be-trachte und um Weiterführung des
Widerspruchsverfahrens bitte. Sie legte von der BfA ein-geholte Befundberichte der Hausärztin Dr. R vom 13.04.2004
und des Chirurgen, Herrn B , vom 26.04.2004 vor. Der Beklagte holte Befundberichte von DM K vom 02.05.2004 und
von Herrn B vom 26.04.2004 ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.2004 zu-rück. Die
Klägerin hat am 08.10.2004 vor dem Sozialgericht Dresden Klage erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, wegen der
Folgen einer Humerustrümmerfraktur in der linken Schulter habe die BfA ihr eine befristete Rente bewilligt. Mit dem
linken Auge habe die Klägerin nicht mehr Sehkraft als 10 %. Auch die Schultererkrankung sei zu gering bewertet
worden, da erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen. Die linke Schulter sei praktisch versteift. Darüber hinaus
sei bei dem Unfall der Axillarnerv erheblich geschädigt worden, was einen Dauerschmerz im Bereich der linken
Schulter sowie im Nackenbereich und Arm links zur Folge habe. Die Klägerin beantragt, 1. den Bescheid des
Beklagten vom 03.02.2004 in der Fassung des Widerspruchs-bescheides des Beklagten vom 04.10.2004 aufzuheben,
2. der Klägerin wird ein Grad der Behinderung mindestens in Höhe von 30 v.H. zuer-kannt. Der Beklagte beantragt, die
Klage abzuweisen. Er hält den Rechtsstreit für nicht entscheidungsreif und regt an, hinsichtlich der Bewegungs-
einschränkung des Schultergelenkes links weiter Beweis zu erheben. Im April 2004 werde eine wesentliche
Verschlimmerung vergleichbar einer Versteifung des linken Schultergelen-kes bestätigt. Die Funktionsmaße seien
aber nicht in der üblichen Art der Begutachtung an-gegeben. Eine wesentliche Verschlimmerung des Befundes sei
zwar nicht ausgeschlossen, in der Regel werde bei modernen Osteosyntheseverfahren aber ein gutes funktionelles Er-
gebnis erreicht. Im Rahmen der Begutachtung sollten neben den Schulterkonturen die Be-wegungsmaße beider
Schultergelenke aktiv und passiv, die Umfangmaße, der Kräftegrad und die Sensibilität sowie mögliche lokalisierte
Atrophien angegeben sein. Das Gericht hat daraufhin angekündigt, wegen mangelhafter Sachverhaltsaufklärung nach
§ 131 Absatz 5 Satz 1 SGG zu verfahren. Der Beklagte hat darauf hingewiesen, dass nach den Befunden von
September und Dezem-ber 2003 der GdB von 20 angemessen sei. Der Befundbericht vom April 2004 sei nicht in der
in Unfallchirurgie und Orthopädie seit 40 Jahren üblichen Neutral-O-Methode und unter An-gabe auch der gesunden
Seite abgefasst. Er widerspreche den Befunden von September und Dezember 2003. Eine Verschlimmerung in der
kurzen Zeit sei aus unfallchirurgischer Sicht unwahrscheinlich, aber letztlich nicht 100%ig auszuschließen. Er habe in
der Bewer-tung somit keine Anwendung gefunden. Die Klägerin hat zu bedenken gegeben, dass der Beklagte in der
Lage sein dürfte, die Er-mittlungen im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens nachzuholen. Auch das Gericht könne
durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens Beweis erheben. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und
Streitstandes wird auf die Gerichtsakte so-wie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Entscheidung ergeht nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch
Gerichtsbescheid. Die zulässige Klage ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Widerspruchsbeschei-des ohne
damit verbundene Entscheidung in der Sache begründet. Nach § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG kann das Gericht, wenn
es eine weitere Sachverhaltsauf-klärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden den
Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderli-chen
Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Be-lange der Beteiligten sachdienlich
ist. Diese Vorschrift ist im Rahmen der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der Klägerin anwendbar.
Die Auffassung von Bienert (SGb 2005, 84), der den Anwendungsbe-reich des zum 01.09.2004 in Kraft getretenen §
131 Absatz 5 Satz 1 SGG auf reine Anfech-tungsklagen beschränkt sieht, vermag nicht zu überzeugen. Zwar ist der §
113 Absatz 3 Satz 1 VwGO, dem § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG wörtlich nachgebildet ist, nach der Recht-sprechung
der Verwaltungsgerichte auf Anfechtungsklagen beschränkt. Eine Übernahme dieser Rechtsprechung auf die
Anwendbarkeit des § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG ist jedoch weder zwingend noch sachdienlich. Der Gesetzgeber
verweist in der Gesetzesbegründung auf § 113 Absatz 3 Satz 1 VwGO, setzt sich jedoch mit der Rechtsprechung zu
dieser Vorschrift nicht auseinander (BT-Drs 15/1508, S. 29 zu Art. 8 Nr. 1). Ob er den Anwendungsbereich gegenüber
dem Verwal-tungsprozess ausdehnen wollte, ergibt sich daher aus der Gesetzesbegründung nicht. Aller-dings verfolgt
der Gesetzgeber mit der Einfügung der Vorschrift das explizite Ziel, dem Ge-richt zeit- und kostenintensive
Sachverhaltsaufklärungen zu ersparen, die eigentlich der Be-hörde obliegen. Nach den Beobachtungen der Praxis
werde die erforderliche Sachver-haltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen, was zu einer
sachwid-rigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte führe. Die systematische Einfügung des § 131 Absatz 5 Satz 1
SGG an Ende einer Vorschrift über Anfechtungs- und Verpflichtungsklage deutet aber daraufhin, dass sie sich auf
beide ge-nannten Klagearten beziehen soll. Anders verhält es sich mit § 113 Absatz 3 Satz 1 VwGO, der nach den
Vorschriften über die Anfechtungsklage, aber vor den Vorschriften über die Leistungs- und Verpflichtungsklage (§ 113
Absatz 4 und 5 VwGO) eingefügt ist. Die syste-matische Auslegung stützt also eine Ausdehnung des
Anwendungsbereiches der Vorschrift auf die Verpflichtungsklage (so auch Zeihe, SGG, 39. EL 1.11.2004, § 131 Rn.
25b). Dies erscheint im Ergebnis auch sachgerecht. Anders als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit bezieht sich die
überwiegende Anzahl der Streitigkeiten in der Sozialgerichtsbarkeit auf kombinierte Anfechtungs- und
Verpflichtungsklagen. Ist in diesen Fällen die eigentlich der Behörde obliegende, häufig zeit- und insbesondere
kostenintensive Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht nachzuholen, so entstehen der Staatskasse (Justizressort)
erhebliche zusätzliche Kosten, die sie wegen des Grundsatzes der Kostenfreiheit des sozialgerichtli-chen Verfahrens
(§ 183 SGG) in der Regel nicht auf die Verfahrensbeteiligten abwälzen kann. Auch dies verhält sich im
Verwaltungsprozess anders, der einen solchen Grundsatz nicht kennt. Der § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG gibt damit
dem Gericht ein Mittel an die Hand, die Kosten für die Sachverhaltsaufklärung auch wirklich an der Stelle anfallen zu
lassen, die der Gesetzgeber mit der entsprechenden Aufgabe betraut hat. Um den § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG nicht
gemäß der Auffassung von Bienert (SGb 2005, 84, 88) seines Anwendungsbe-reiches fast vollständig zu berauben,
erscheint es dem damit Gericht angezeigt, ihn auch auf kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen
anzuwenden. Der Widerspruchsbescheid vom 04.10.2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Er ist unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift des § 20 SGB X ergangen und damit nach § 131 Absatz 5 Satz 1
SGG aufzuheben. Denn wegen des Verstoßes gegen den Untersuchungsgrundsatz durch den Beklagten ist weitere
Sachaufklärung erforderlich. Der Bescheid vom 03.02.2004 ist hingegen auf ausreichende Ermittlungen hin ergangen,
so dass seine Aufhebung nicht erfolgt. Dies hat für alle Beteiligten den Vorteil, dass das Verfah-ren durch den
Gerichtsbescheid in das Stadium des Widerspruchsverfahrens zurückversetzt wird und somit ein erneutes
Durchlaufen von Ausgangs- und Widerspruchsverfahren ent-behrlich ist, was zu einer Verfahrensbeschleunigung führt.
Rechtsgrundlage für die Feststellung des Grades der Behinderung ist nach dem Inkrafttreten des Neunten Buches des
Sozialgesetzbuchs – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men-schen – am 01.07.2001 (SGB IX) gemäß Art. 68
des Gesetzes vom 19.06.2001 (BGBl. I 2001, Seiten 1046 ff.) § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX.
Danach erfolgt die Feststellung des Grades der Behinderung durch die für die Durchführung des Bundes-
versorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen im Sinne des § 2 Abs. 1
SGB IX. Auf den am 24.10.2002 bei ihm eingegangenen Antrag der Klägerin hatte der Beklagte ge-mäß dem in § 20
SGB X festgehaltenen Untersuchungsgrundsatz den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (Absatz 1 Satz 1) und
durfte dabei Art und Umfang der Ermittlungen bestimmen (Absatz 1 Satz 2). Nach seinem pflichtgemäßen Ermessen
konnte der Beklagte zur Ermittlung des Sachverhalts insbesondere Auskünfte jeder Art oder schriftliche Äuße-rungen
von Sachverständigen einholen oder den Augenschein einnehmen (§ 21 Absatz 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, 2 und 4 SGB
X). Der Beklagte hat den Sachverhalt durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte und von
Entlassungsberichten der behandelnden Kliniken aufgeklärt. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings
weichen die von der Hausärztin in ihrem Befundbericht vom 13.04.2004 angege-benen Befunde ganz erheblich von
den aus der Zeit bis Ende 2003 bekannten Befunden ab. Daher hat der Beklagte in der Klageerwiderung selbst
eingeräumt, dass das Verfahren noch nicht entscheidungsreif sei und er weitere Ermittlungen für erforderlich halte.
Wieso er aller-dings diese erforderlichen Ermittlungen nicht vor Erlass des Widerspruchsbescheides selbst
durchgeführt hat, bleibt im Dunkeln. Es hätte sich für den Beklagten geradezu aufdrängen müssen, in diesem Falle
weitere Er-mittlungen anzustellen. Auch die Tatsache, dass der Beklagte im Nachhinein vermutet, eine
Verschlimmerung seit Ende 2003 sei sehr unwahrscheinlich, entbindet den Beklagten nicht von der Pflicht zur
umfassenden Aufklärung des Sachverhaltes. Dies umfasst die Aufklärung widersprüchlicher Befunde. Auf welcher
Grundlage der Beklagte sich über einen jüngeren Befund hinwegsetzen könnte, weil er mit den bisher vorliegenden
älteren Befunden nicht (mehr) im Einklang steht, ist nicht ersichtlich. Nicht nur zum Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheides, sondern auch nunmehr zum Zeitpunkt der Befassung des Gerichts ist daher weitere
Sachaufklärung erforderlich. Diese sollte durch Einholung eines aktuellen orthopädischen oder chirurgischen Befundes
erfolgen. Es drängt sich auf, wie es auch der Beklagte selbst angeregt hat, neben den Schulterkonturen die
Bewegungsmaße beider Schultergelenke aktiv und passiv, die Um-fangmaße, der Kräftegrad und die Sensibilität
sowie mögliche lokalisierte Atrophien festzu-stellen bzw. feststellen zu lassen. Ob eine solche Feststellung durch die
Beiziehung der bei der BfA vorhandenen Unterlagen (die der Beklagte bislang unterlassen hat) und die Einho-lung
weiterer qualifizierter Befundberichte der behandelnden Fachärzte möglich ist, vermag das Gericht nicht abzusehen.
Vieles spricht aber dafür, dass eine belastbare Feststellung in diesem Fall sachdienlicherweise durch Einholung eines
Fachgutachtens erfolgen sollte. Art und Umfang der noch erforderlichen Ermittlungen sind demnach erheblich, da eine
or-thopädische oder chirurgische Untersuchung der Klägerin durch den medizinischen Dienst des Beklagten oder
einen unabhängigen Sachverständigen erforderlich erscheint. Die Aufhebung des Widerspruchsbescheides ist unter
Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich. Eine Verfahrensverzögerung ist damit nicht zwingend
verbunden, da der Beklagte über einen eigenen medizinischen Dienst verfügt und damit unter Umstän-den schneller
ein Fachgutachten einzuholen vermag, als dies dem Gericht, das auf die Ein-schaltung freier Gutachter angewiesen
ist, möglich wäre. Die damit verbundenen Kosten wären vom Beklagten auch bei einer ordnungsgemäßen
Sachaufklärung zu tragen gewe-sen. Die Anwendung der Prinzipien der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und
Verhältnismä-ßigkeit, an denen der Beklagte seine Vorgehensweise offenbar zu orientieren versucht, hätte allerdings
dazu führen müssen, dass der Beklagte bereits vor Erlass des angefochtenen Widerspruchsbescheidese
ausreichende Ermittlungen anstellt. In diesem Fall hätte das vor-liegende Gerichtsverfahren möglicherweise
vermieden werden können. Durchschlagende Gründe, die einem Vorgehen nach § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG
entgegen-stünden, sind damit nicht ersichtlich. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.