Urteil des SozG Dresden vom 07.06.2010

SozG Dresden: versicherungspflicht, beitragspflicht, rückabwicklung, beitragszeit, vollrente, vergleich, beitragsrückerstattung, aufzählung, gestaltungsspielraum, sicherstellung

Sozialgericht Dresden
Gerichtsbescheid vom 07.06.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 42 R 713/08
I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 359,40 EUR zu zahlen. II. Der Beklagte trägt die Kosten des
Verfahrens.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Rückerstattung aus ihrer Sicht zu Unrecht erstatteter Beiträge zur
gesetzlichen Rentenversicherung.
Der Beklagte bewilligte als Leistungsträger nach dem SGB II Frau S. mit Bescheid vom 27.06.2005 in Gestalt des
Änderungsbescheides vom 22.05.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II
(Arbeitslosengeld II) für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis 31.01.2006. Insoweit wurden für die Zeit vom 01.07.2005
bis 31.12.2005 u.a. auch Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung von monatlich 78,00 EUR entrichtet.
Mit Bescheid vom 16.12.2005 bewilligte die Klägerin der Versicherten rückwirkend zum 01.07.2005 eine Rente wegen
voller Erwerbsminderung. Die laufende Rentenzahlung wurde zum 01.02.2006 aufgenommen.
Auf den vom Beklagten mit Schreiben vom 03.01.2006 angemeldeten Erstattungsanspruch wurde durch die Klägerin
gemäß § 104 SGB X das gezahlte Arbeitslosengeld II sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und
Pflegeversicherung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 335 Abs. 2 SGB III erstattet. Am
30.01.2006 erstattete die Klägerin Rentenversicherungsbeiträge in Höhe von 546,00 EUR.
Für den Zeitraum vom 20.12.2005 bis 31.01.2006 erstattete die Klägerin dem Beklagten 106,60 EUR und forderte den
Beklagten mit Schreiben vom 08.08.2006 auf, die gezahlten Rentenversicherungsbeiträge für die Zeit vom 01.07.2005
bis 31.01.2006 in Höhe von 546,00 EUR zurückzuzahlen. Eine Rückzahlung erfolgte seitens des Beklagten trotz
mehrfacher Aufforderung durch die Klägerin, zuletzt mit Schreiben vom 26.11.2007, nicht.
Am 15.05.2008 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie trägt vor, dass die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung vom 01.07.2005 bis 19.12.2005 zu Unrecht
erstattet worden seien, da die Versicherungspflicht frühestens mit dem Zeitpunkt ende, in dem die Mitteilung des
Rentenversicherungsträgers über die Rentenbewilligung beim Leistungsträger eingegangen sei. Nur bei der Bewilligung
einer Altersvollrente trete rückwirkend Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs. 4 SGB VI ein.
Mit am 22.07.2008 bei Gericht eingegangenem Schreiben erkannte der Beklagte den Klageanspruch in Höhe von
184,60 EUR an. Mit Schreiben vom 31.07.2008 nahm die Klägerin das Teilanerkenntnis an und betreibt die Klage im
Übrigen weiter.
Die Klägerin beantragt zuletzt, den Beklagten zu verurteilen, an sie 359,40 EUR zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, mit der Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung zum 01.07.2005 sei der Anspruch auf
Arbeitslosengeld II rückwirkend entfallen, da die Versicherte nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB VI
nicht erwerbsfähig gewesen sei. Damit sei auch die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach
§ 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI erloschen. Auf die Kenntnis von der Rentenbewilligung könne es insoweit nicht ankommen,
da die Versicherungspflicht in diesem Fall allein von der Bearbeitungsdauer der Rentenanträge abhängig wäre. Eine
versicherungsrechtliche Schutzfunktion, bei der die Versicherungspflicht auch bei rückwirkender Leistungsaufhebung
und Erstattung bestehen bleibe, sei dem Gesetzeswortlaut des § 3 Satz 1 Nr. 3 a SGB VI nicht zu entnehmen.
Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid Stellung zu nehmen.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit den
Schriftsätzen nebst Anlagen sowie den Inhalt der vom Gericht beigezogenen Verwaltungsakte der Klägerin verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 SGG entscheiden, da die Sache keine besonderen
Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
Die zulässige Leistungsklage ist begründet.
Der Beklagte ist zur Rückerstattung der seitens der Klägerin für die Versicherte für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis
19.12.2005 erstatteten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe der hier geltend gemachten 359,40 EUR
nach § 112 SGB X verpflichtet.
Nach § 112 SGB X ist eine Erstattung, soweit sie zu Unrecht erfolgt ist, zurückzuerstatten. Zu Unrecht ist eine
Erstattung erfolgt, wenn sie nicht der objektiven Rechtslage entspricht, also nach dem im Erstattungszeitpunkt
maßgebenden Recht vom Erstattungsempfänger nicht beansprucht werden konnte.
Der Beklagte konnte die Erstattung der von ihm geleisteten Rentenversicherungsbeiträge für die Zeit vom 01.07.2005
bis 19.12.2005 nicht nach § 26 Abs. 2 SGB IV beanspruchen. Denn die während des Bezugs von Arbeitslosengeld II
geleisteten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung sind nicht zu Unrecht entrichtet worden.
Die Beitragspflicht zur Rentenversicherung ergibt sich aus der entsprechenden Versicherungspflicht. Während des
Bezuges von Arbeitslosegeld II besteht für die Leistungsempfänger nach § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Die rückwirkende Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.07.2005 hat die Versicherungs- und
Beitragspflicht zur Rentenversicherung nicht aufgehoben.
Unter Beachtung der beitragsrechtlichen Grundsätze ist die rückwirkende Veränderung des
Rentenversicherungsverhältnisses einschließlich der Beitragspflicht wegen der nachträglichen Gewährung einer Rente
wegen voller Erwerbsminderung ausgeschlossen. Die beitragsrechtlichen Folgen des Zusammentreffens von
Arbeitslosengeld II und einer Rente wegen voller Erwerbsminderung sind gesetzlich nicht geregelt. Im Unterschied zur
leistungsrechtlichen Rückabwicklung durch Austausch des Rechtsgrundes (§§ 102 ff., 107 SGB X) führt eine
beitragsrechtliche Rückabwicklung durch die Entziehung rentenrechtlicher Zeiten typischerweise zu einem
versicherungsrechtlichen Nachteil.
Leistungsrechtlich führt die (rückwirkende) Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 7 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB II zu einem Wegfall des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II. So liegt der Fall hier,
denn die Rente wegen voller Erwerbsminderungsrente wurde der Versicherten bereits ab dem 01.07.2005 zuerkannt.
Vom Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung an rückt diese Leistung an die Stelle des Arbeitslosengeldes
II, ohne dass das Gesetz Vorschriften für die beitragsrechtlichen Folgen in der Rentenversicherung enthält. Soweit in
diesem Fall ein Erstattungsanspruch des Leistungsträgers nach dem SGB II gegen den Rentenversicherungsträger
(nach §§ 102 ff SGB X) besteht, muss sich der Leistungsberechtigte so behandeln lassen, als hätte er die
geschuldete (hier: Rente wegen voller Erwerbsminderung) und nicht die tatsächlich erbrachte Leistung (hier:
Arbeitslosengeld II) erhalten (vgl. BSGE 75, 298, 303). Dies ist dem Leistungsberechtigten in leistungsrechtlicher
Sicht zumutbar und bezogen auf Leistungen nach dem SGB II im Regelfall auch günstiger. Allerdings zwingt die
Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X nicht dazu, auch im Beitragsrecht, wo der ursprüngliche Anspruch auf
Arbeitslosengeld II zur Sicherstellung des Lebensunterhalts des Versicherten während des Rentenverfahrens weiterhin
bedeutsam bleibt, eine nachträgliche Beseitigung des Rechtsgrundes für die Rentenversicherungsbeiträge
anzunehmen. Denn der Zweck des Arbeitslosengeldes II wird durch die spätere Rentenbewilligung nicht von
vornherein gegenstandslos. Denn selbst in den Fällen in denen von vornherein in Streit steht, ob der Hilfebedürftige
erwerbsfähig ist und die gemeinsame Einigungsstelle im Sinne des § 45 SGB II hierüber entscheiden muss, erbringen
die Leistungsträger nach dem SGB II das Arbeitslosengeld II im Verhältnis zum Leistungsberechtigten nach § 44a
Abs. 1 Satz 3 SGB II in eigener Zuständigkeit endgültig (vgl. BSG, Urteil v. 07.11.2006, Az.: B 7b AS 10/06 R). Dies
muss dann erst Recht in dem Fall gelten, in dem die Erwerbsfähigkeit zunächst als gegeben erachtet wird und sich
erst später Anderes herausstellt. Solange damit das Arbeitslosengeld II seinen Zweck, den Lebensunterhalt
einschließlich der Beiträge zur Alterssicherung zu sichern, erfüllt, kann der Beklagte der danach zu bemessenden
Beitragspflicht den von der Klägerin noch nicht beschiedenen Rentenanspruch nicht wirksam zum Zwecke der
Beitragskürzung entgegenhalten (vgl. BSG, Urteil v. 25.01.1995, Az.: 12 RK 51/93).
Hinzutritt, dass die Versicherte rentenrechtliche Zeiten erworben hat, die bei später eintretenden Versicherungsfällen
zu berücksichtigen sind. Diese wesentliche rentenversicherungsrechtliche Wirkung tritt unabhängig davon ein, wie
hoch der wirtschaftliche Nutzen einzelner Beiträge oder Beitragsanteile sein mag. Der Versicherungsschutz wird nicht
gegenstandslos, wenn eine Vergleichsberechnung zeigt, dass die Rentenhöhe aufgrund eines später eingetretenen
Versicherungsfalls auch ohne diese Beiträge nicht geringer ausfällt. Sieht man von der konkreten Bewertung im
Einzelfall ab, so kann schon im Hinblick auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht vorhergesehen
werden, welchen Wert eine Anrechnungszeit bei einem späteren Versicherungsfall tatsächlich aufweisen wird (vgl.
BSG, Urteil v. 30.06.1997, Az.: 8 RKn 3/96).
Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II sind zwar gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI ebenfalls
Anrechnungszeiten; sie gelten jedoch wegen der Beitragspflicht (§ 3 Satz 1 Nr. 3a, § 276 Abs. 1 SGB VI) als
beitragsgeminderte Zeiten i.S. von § 54 Abs. 3 SGB VI. Als beitragsgeminderte Zeiten sind sie nach § 71 Abs. 2 SGB
VI wie beitragsfreie Zeiten zu bewerten, wenn ihr Wert im Vergleich damit niedriger ist. Anderenfalls bleibt es aber bei
ihrer höheren Bewertung als Beitragszeit (vgl. BSGE 75, 298, 304).
Die Beitragspflicht entfällt auch nicht etwa wegen Versicherungsfreiheit. § 5 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI stellt zwar die
Bezieher von Vollrente wegen Alters von der Versicherungspflicht frei mit der Folge, dass ihnen bei nachträglicher
Rentengewährung die auf diesen Zeitraum entfallenden Pflichtbeiträge zu erstatten sind (vgl. Kasseler Komm-Funk
SGB VI § 5 RdNr. 10, 73). Indessen gehört die der Versicherten gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht
zu den Renten wegen Alters, wie sich schon aus der abschließenden Aufzählung in § 33 Abs. 2 SGB VI erschließt.
Die Beitragspflicht entfällt daher erst dann, wenn der Versicherte Kenntnis von der Rentenbewilligung erlangt.
Vorliegend gilt der Rentenbescheid nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB als am 20.12.2005 bekanntgegeben, so dass die
Versicherungspflicht nach § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI ab 20.12.2005 entfallen ist.
Nach allem erweist sich die Beitragsentrichtung auch nicht wegen der nachträglichen Gewährung von Rente wegen
voller Erwerbsminderung als rechtswidrig. Demzufolge ist die Beitragsrückerstattung für den Zeitraum vom 01.07.2005
bis 19.12.2005 zu Unrecht erfolgt. Daraus resultiert ein Rückerstattungsanspruch in Höhe von 439,40 EUR. Insgesamt
hat die Klägerin dem Beklagten 652,60 EUR erstattet. Beanspruchen kann der Beklagte jedoch lediglich eine
Erstattung für die Zeit vom 20.12.2005 bis 31.12.2005, in Höhe von 28,60 EUR (78,00 EUR/30 Tage x 11 Tage), da er
nach eigenem und von der Klägerin nicht widersprochenem Bekunden für Januar 2006 bisher keine Beiträge abgeführt
hat. Danach Verbleibt ein Rückerstattungsanspruch von 624,00 EUR. Abzüglich der durch den Beklagten anerkannten
184,60 EUR verbleibt ein Anspruch von 439,40 EUR. Hiervon werden durch die Klägerin lediglich 359,40 EUR
klageweise geltend gemacht. In diesem Umfang war der Klage daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.