Urteil des SozG Dortmund vom 25.08.2006
SozG Dortmund: rechtswidrige inhaftierung, einfluss, ddr, eltern, rücknahme, erziehungszeit, auflage, begriff, freiheitsentziehung, gefängnis
Sozialgericht Dortmund, S 34 R 43/05
Datum:
25.08.2006
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
34. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 34 R 43/05
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über eine Berücksichtigungszeit wegen Erziehung eines Kindes.
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Die im Jahre 1946 geborene Klägerin betreibt mit ihrem Ehemann eine internistische
Gemeinschaftspraxis in H. Sie ist seit dem 01.03.1977 als Mitglied der Ärzteversorgung
Westfalen-Lippe von der Rentenversicherungspflicht befreit. Vom 18.12.1974 bis
13.07.1976 war die Klägerin in der DDR wegen versuchter Republikflucht inhaftiert. In
dieser Zeit wurde ihre 1971 geborene Tochter T zunächst in einem Kinderheim und
anschließend von der Großmutter betreut.
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Mit Bescheid vom 07.08.1996 lehnte die Beklagte die Feststellung der Haftzeit als
Berücksichtigungszeit ab, weil andere Personen das Kind überwiegend erzogen hätten.
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Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 04.10.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20.01.2005 verweigerte die Beklagte die Rücknahme des
Feststellungsbescheides vom 07.08.1996. Die Anerkennung von
Kinderberücksichtigungszeiten werde durch den Tatbestand der Erziehung eines
Kindes ausgelöst. Die Erziehung der Tochter T sei während der Inhaftierung
unterbrochen gewesen.
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Zur Begründung der am 09.02.2005 erhobenen Klage macht die Klägerin im
Wesentlichen geltend, dass eine vorübergehende rechtswidrige Inhaftierung der
erziehenden Mutter eines Kindes deren Erziehungleistung nicht unterbreche. Die
Klägerin habe auf die Erziehung ihrer Tochter durch jeweils monatlich einmal
zugelassene Schreiben an das Kind und die Großeltern Einfluss genommen. Die
Großeltern hätten T nur vorübergehend aufgenommen und der Mutter den Einfluss auf
die Erziehung ihrer Tochter weitestgehend wie unter den gegebenen Umständen
möglich gelassen. Ein auf Dauer angelegtes Pflegekindverhältnis zwischen den
Großeltern und T habe nicht bestanden. Es könne nicht rechtens sein, dass ein zu
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rechtsstaatswidriger Haft Verurteilter, der alle ihm möglichen Maßnahmen ergreife, um
auf die Erziehung seines Kindes einzuwirken, von vornherein von der Gewährung von
Kindererziehungszeiten ausgeschlossen werde. Ansonsten sanktioniere man nicht nur
das Staatsunrecht der DDR nachträglich als rechtswirksam im Sinne des
bundesdeutschen Rechts, sondern werte den durch die Erziehung des Kindes T
geleisteten generativen Beitrag zum Rentenversicherungssystem ungerechtfertigt
geringer. Eine solche Auslegung sei mit Artikel 6 und Artikel 3 des Grundgesetzes (GG)
nicht zu vereinbaren.
Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.10.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20.01.2005 zu verurteilen, den Bescheid vom 07.08.1996
insoweit zurückzunehmen, als die Feststellung einer Berücksichtigungszeit vom
18.12.1974 bis 13.07.1976 wegen Erziehung der Tochter T abgelehnt worden ist.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hält die angefochtenen Bescheide weiterhin für rechtmäßig. Sie legt eine
Rentenprobeberechnung vom 18.08.2006 vor, wonach die Rentenanwartschaft der
Klägerin ohne die streitige Berücksichtigungszeit 000,00 EUR und mit der
Berücksichtigungszeit 0,00 EUR (Differenz 1,78 EUR) monatlich betrage. Der
Nachteilsausgleich für die Inhaftierung in der DDR aus poltischen Gründen erfolge
durch die Feststellung einer achtzehnmonatigen Ersatzzeit.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte
und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben
vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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Die angefochtenen Bescheide der Beklagten erweisen sich als rechtmäßig.
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Die Beklagte lehnt zu Recht die Rücknahme des Feststellungsbescheides vom
07.08.1996 ab, weil sie mit diesem Bescheid zutreffend die Feststellung einer
Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung vom 18.12.1974 bis 13.07.1976
abgelehnt hat.
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Nach § 44 Abs. 2 des Sozialgesetzbuchs - Sozialverwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz - (SGB X) ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt,
auch nach dem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die
Zukunft zurückzunehmen. Der Bescheid vom 07.08.1996 ist jedoch rechtmäßig, weil die
Klägerin in der Zeit vom 18.12.1974 bis 13.07.1976 ihre Tochter T nicht erzogen hat.
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Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendeten 10. Lebensjahr ist bei
einem Elternteil Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen die Anrechnung
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einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen (§ 57 Satz 1 des
Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI -). Nach § 56 Abs. 2
Satz 1 SGB VI wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der sein Kind erzogen
hat. Dabei ist der Begriff der Erziehung in erster Linie in tatsächlichem Sinne zu
verstehen und setzt voraus, dass der betreffende Elternteil gewillt und in der Lage ist, für
die Erziehung des Kindes zu sorgen. Zur Erziehung gehören alle Maßnahmen, die nach
der Vorstellung des Erziehenden dazu bestimmt und darauf gerichtet sind, die
körperliche, geistige, seelische, sittliche und charakterlicher Entwicklung des Kindes zu
beeinflussen (vgl. BSG SozR 3 -2200 § 1251a Nr. 8; BSG SozR 3- 2200 § 1227a Nr. 7).
Regelmäßig ist zu fordern, dass der Elternteil mit dem Kind in häuslicher Gemeinschaft
lebt (Löns in Kreikebohm, SGB VI, 2. Auflage 2003, § 56 Rdnr. 6; § 46 Rdnr. 12).
Die Klägerin hat ihre Tochter in diesem Sinne während ihrer Inhaftierung nicht erzogen.
Sie lebte mit ihr nicht in häuslicher Gemeinschaft und konnte im Alltag auch keinen
wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Tochter nehmen. Hieran ändern auch
die monatlichen Briefe aus dem Gefängnis nichts. Maßgeblichen Einfluss auf die
Erziehung der Tochter der Klägerin hatte im streitgegenständlichen Zeitraum die Mutter
der Klägerin. Dies schließt die begehrte Feststellung einer Kinderberücksichtigungszeit
bei der Klägerin aus.
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Auf die Gründe, warum die Klägerin gehindert war, die Erziehung ihrer Tochter selbst
fortzusetzen, kommt es vorliegend nicht an. Der für rechtswidrig erklärten
Freiheitsentziehung wird durch die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr.
5a SGB VI Rechnung getragen. Einer weitergehenden rentenrechtlichen Kompensation
bedarf es nicht, zumal die Klägerin ihr Berufsleben ganz überwiegend außerhalb der
Solidargemeinschaft der gesetzlich Rentenversicherten zurückgelegt hat.
Nennenswerte Defizite in der sozialen Sicherung der Klägerin sind nicht zuletzt
angesichts der erzielbaren Rentenerhöhung um 1,78 EUR monatlich nicht erkennbar.
Von daher hat die Kammer keine Veranlassung, in eine vertiefte verfassungsrechtliche
Diskussion des Klagebegehrens einzutreten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
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