Urteil des SozG Dortmund vom 23.01.2007

SozG Dortmund: freiwillige versicherung, erwerb, berufsausbildung, krankenversicherung, fachhochschule, altersgrenze, versicherungspflicht, kausalität, beendigung, student

Sozialgericht Dortmund, S 40 KR 179/05
Datum:
23.01.2007
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
40. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 40 KR 179/05
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 09.05.2005 und
08.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2005
verpflichtet, dem Kläger die Verlängerung der studentischen
Krankenversicherung zu gewähren und den Kläger dementsprechend
bis zur Beendigung seines laufenden Studiums, längstens jedoch bis
zum 31.08.2008, als versicherungspflichtiges Mitglied zu führen. Die
Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt die Fortsetzung seiner Mitgliedschaft als gesetzlich
pflichtversicherter Student über den 31.08.2005 hinaus.
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Der 1975 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Bis zum 31.08.2005
wurde er als pflichtversicherter Student geführt, derzeit wird seine Mitgliedschaft als
freiwillige Versicherung durchgeführt.
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Der Kläger kam 1989 als Spätaussiedler mit seinen Eltern nach Deutschland. 1992
machte er seinen Hauptschulabschluss. Vom 01.08.1992 - 17.01.1996 befand er sich in
der Ausbildung zum KFZ-Elektriker beim Autohaus T in E. An die Ausbildung schloss
sich ein Beschäftigungsverhältnis bei dem Ausbildungsbetrieb an. Dieser wurde im Juni
1996 durch das Autohaus X übernommen. Im April 2001 endete das
Beschäftigungsverhältnis in Folge einer betriebsbedingten Kündigung.
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Von August 2001 bis Juli 2004 erwarb der Kläger sein Abitur auf dem Westfalenkolleg
Dortmund. Zum Wintersemester 2004/ 2005 nahm er das Studium der Versorgungs- und
Entsorgungstechnik an der Fachhochschule H auf. Aufgrund dessen wurde er ab dem
01.10.2004 bei der Beklagten in der Krankenversicherung der Studenten versichert.
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Mit Bescheid vom 09.05.2005 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die
Pflichtversicherung aufgrund der Vollendung des 30. Lebensjahres zum 31.08.2005
ende. Eine Verlängerung der Altersgrenze um die Zeit des Erwerbs der
Zugangsvoraussetzungen zum Studium in einer Ausbildungsstätte des zweiten
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Bildungswegs könne nur erfolgen, wenn die Hochschulzugangsberechtigung zügig
erlangt wurde. Die Ausbildung des Klägers habe im Januar 1996 geendet, er sei jedoch
erst ab dem 22.08.2001 zur Schule gegangen, so dass es an einer zügigen Erlangung
der Hochschulzugangsberechtigung fehle. Eine Verlängerung der studentischen
Versicherung komme daher nicht in Betracht.
Am 19.05.2005 erhob der Kläger Widerspruch gegen die Entscheidung der Beklagten.
Er trug vor, eine Rechtfertigung zur Verlängerung der studentischen Pflichtversicherung
ergebe sich aus der Art der Ausbildung sowie aus persönlichen Umständen. Da sein
Arbeitsverhältnis im April 2001 aufgrund betriebsbedingter Kündigung geendet habe,
habe er sich wegen der Arbeitsmarktsituation entschlossen, über den zweiten
Bildungsweg das Vollabitur zu erlangen. Der Erwerb der
Hochschulzugangsberechtigung sei ein anerkannter Grund, die studentische
Pflichtversicherung zu verlängern. Der zweite Bildungsweg schließe denknotwendig
nicht an den Abschluss der Berufsausbildung an, sondern entwickele sich aus dem
Berufsleben.
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Mit Bescheid vom 08.06.2005 lehnte die Beklagte abermals die Weiterführung der
studentischen Pflichtversicherung über den 31.08.2005 hinaus ab. Sie trug vor, aus den
vorliegenden Unterlagen ergebe sich, dass für den Kläger die Möglichkeiten für die
Verlängerung der studentischen Pflichtversicherung erschöpft seien. Deshalb werde die
Versicherung mit Ablauf des Semesters zum 31.08.2005 beendet. Weiter wurde dem
Kläger das Angebot unterbreitet, zum 01.09.2005 eine freiwillige Weiterversicherung
abzuschließen.
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Auch hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 13.06.2005 Widerspruch ein. Er
führte aus, die Verlängerung der studentischen Versicherung zu seinen Gunsten sei
möglich. Ihm sei im Beschäftigungsverhältnis in Aussicht gestellt worden, eine
Ausbildung zum Techniker durchführen zu können. Diese Zusage sei nicht eingehalten
worden. Deshalb habe er sich über den zweiten Bildungsweg für das Ingenieurstudium
qualifiziert.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 27.07.2005 wies die Beklagte den Widerspruch des
Klägers zurück. Sie führte aus, Rechtsgrundlage für die Beendigung der
Pflichtversicherung sei § 5 Abs. 1 Nr. 9 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die
dort genannten Verlängerungstatbestände seien von der Krankenkasse im Einzelfall zu
prüfen. Das Bundessozialgericht habe in zwei Urteilen vom 30.09.1992 entschieden,
dass die Zeiten einer vor Beschreiten des zweiten Bildungswegs ausgeübten
Berufstätigkeit das Hinausschieben der Altersgrenze nicht rechtfertigten. Die
Berufstätigkeit des Klägers von 1996 bis 2001, die sogar durch Zeiten des
Arbeitslosengeldbezuges unterbrochen gewesen sei, rechtfertigte eine Verlängerung
aus persönlichen Gründen nicht. Überdies hätten die grundsätzlichen Voraussetzungen
für die Aufnahme eines Studiums zumindest nach Abschluss der Ausbildung im Jahr
1996 vorgelegen. Es wäre dem Kläger möglich gewesen, bis zum Ablauf des 30.
Lebensjahres 14 Semester Studienzeit zu absolvieren. Seinem Antrag auf Verlängerung
der studentischen Kranken- und Pflegeversicherung könne deshalb nicht entsprochen
werden.
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Am 03.08.2005 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben, mit der er sein Begehren
weiter verfolgt. Er trägt vor, er habe nach Abschluss der Ausbildung kein Studium an der
Fachhochschule aufnehmen können, da er die Zulassungsvoraussetzungen für das
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Fachhochschulstudium noch nicht erworben hatte. Erforderliche
Zulassungsvoraussetzung für ein Studium der Versorgungs- und Entsorgungstechnik
sei die Fachhochschulreife bzw. Allgemeine Hochschulreife. Diese habe erst im Juli
2004 vorgelegen.
Die Beklagte lasse auch die besonderen Verhältnisse des Klägers unberücksichtigt. Er
sei als Spätaussiedler mit seinen Eltern im Jahr 1989 nach Deutschland gekommen und
habe den Hauptschulabschluss unter erheblichen Sprachschwierigkeiten erlangt. Die
Beklagte müsse die Versicherungspflicht zumindest um die Zeit der Erlangung des
Abiturs verlängern. Er, der Kläger, schließe sein technisches Studium auch zügig ab.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 09.05.2005 und 08.06.2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2005 zu verpflichten, ihm die
Verlängerung der studentischen Krankenversicherung zu gewähren und ihn
dementsprechend bis zur Beendigung seines laufenden Studiums, längstens jedoch bis
31.08.2008, als pflichtversichertes Mitglied zu führen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie nimmt Bezug auf ihr Vorbringen im Widerspruchsbescheid. Darüber hinaus trägt sie
vor, dass das Sammeln von Berufserfahrung und eine Neuorientierung keine
Verlängerungsgründe seien. Dies gelte auch für das Vertrösten seitens des
Arbeitgebers bzgl. einer Technikerausbildung.
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Das Gericht hat eine Stellungnahme der Fachhochschule H zu den
Zulassungsvoraussetzungen für ein Studium der Versorgungs- und Entsorgungstechnik
eingeholt, die unter dem 22.01.2007 abgegeben worden ist.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die
Verwaltungsakte der Beklagten, die das Gericht beigezogen hat und deren Inhalt
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide vom 09.05.2005 und 08.06.2005 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2005 i. S. d. § 54 Abs. 2 S. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da der Bescheid rechtswidrig ist. Zu Unrecht hat
die Beklagte festgestellt, dass der Kläger zum 31.08.2005 aus der Krankenversicherung
der Studenten als versicherungspflichtiges Mitglied ausgeschieden ist.
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Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verlängerung der studentischen
Krankenversicherung.
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Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V sind Studenten, die an staatlichen oder staatlich
anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, unabhängig davon, ob sie ihren
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Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, wenn für sie auf Grund über-
oder zwischenstaatlichen Rechts kein Anspruch auf Sachleistungen besteht, bis zum
Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres,
versicherungspflichtig. Darüber hinausgehend sind Studenten nach Abschluss des 14.
Fachsemesters oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres nur versicherungspflichtig,
wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der
Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des zweiten
Bildungsweges, die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit
rechtfertigen.
Der Kläger hat am 00.00.2005 das 30. Lebensjahr vollendet, so dass er nach § 5 Abs. 1
Nr. 9 1. Halbsatz SGB V grundsätzlich nicht versicherungspflichtig geblieben wäre.
Jedoch liegt im Falle des Klägers einer der Ausnahmetatbestände des 2. Halbsatzes
des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V vor.
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Ein Anspruch auf Gewährung der Verlängerung der Versicherungspflicht ergibt sich
nicht aus den vom Kläger vorgetragenen Sprachproblemen infolge seiner Herkunft als
Spätaussiedler. Verzögerungen durch Sprachschwierigkeiten sind keine anerkannten
Hinderungszeiten (vgl. Niedersächsische LSG, Beschluss vom 09.05.1999, Az. L 4 S
(Kr) 61/90; Peters in: Kasseler Kommentar, § 5 SGB V Rdnr. 19). Auch stellen die Zeiten
der Berufsausbildung sowie Berufsübung in der Zeit von 1992 bis April 2001 keine
anerkannten Hinderungszeiten dar (BSG, Urteil vom 30.09.1992, Az. 12 RK 40/91;
Peters, a. a. O.).
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Jedoch besteht ein Anspruch auf Verlängerung der Versicherungspflicht um längstens
drei Jahre aufgrund des Umstandes, dass der Kläger das Abitur auf dem
Westfalenkolleg E in der Zeit von August 2001 bis Juli 2004 erworben hat.
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Der Erwerb der Zulassungsvoraussetzungen für ein Studium über den zweiten
Bildungsweg wird vom Gesetz ausdrücklich als möglicher Verlängerungsgrund genannt.
Der Kläger hat die Zulassungsvoraussetzungen für das Studium erst durch die
Erlangung des Abiturs erworben. Seine Berufsausbildung genügte nach Auskunft der
Fachhochschule H nicht zur Erlangung der Fachhochschulreife. Deshalb wäre es dem
Kläger nach Abschluss der Berufsausbildung nicht möglich gewesen, ein Studium
aufzunehmen. Erst der Erwerb des Abiturs schuf diese notwendige
Zugangsvoraussetzung.
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Der Erwerb der Zugangsvoraussetzung für ein Studium über den zweiten Bildungsweg
war auch ursächlich für die Überschreitung der Grenzen des § 5 Abs. 1 Nr. 9 1.
Halbsatz. Ob die Art der Ausbildung und anerkannten Hinderungszeiten die
Überschreitung der Grenzen rechtfertigt, ist im Einzelfall zu überprüfen. Zu
berücksichtigen sind bei der Kausalität die Dauer der Hinderungszeit und ihr Verhältnis
zur Dauer etwaiger Nichthinderungszeiten sowie auch die zeitliche Lage der
Hinderungsgründe zum Studium (vgl. Peters, § 5 SGB V Rdnr. 91). Bei Abwägung aller
Umstände im Einzelfall ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die
erforderliche Ursächlichkeit besteht. Zwar überwiegen die Nichthinderungszeiten
gegenüber den Hinderungszeiten, jedoch führt dies allein nicht dazu, die erforderliche
Kausalität zu verneinen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass im Rahmen
des Erwerbs der Zugangsvoraussetzungen für ein Studium über den zweiten
Bildungsweg eine vorherige Berufsausübung bzw. Berufsausbildung grundsätzlich
vorliegen muss. Zumeist ist eine Berufsausbildung oder Berufstätigkeit auch
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Voraussetzung für den Besuch einer Ausbildungsstätte des zweiten Bildungswegs.
Würde alleine das Überwiegen der Nichthinderungszeiten gegenüber den
Hinderungszeiten zur Verneinung einer Kausalität führen, würde der
Verlängerungsgrund "Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte
des zweiten Bildungsweges" in der Regel nicht durchdringen; dies gilt insbesondere
deshalb, weil alleine eine Berufsausbildung in den meisten Fällen - wie die Erlangung
des Abiturs an einem Weiterbildungskolleg wie dem Westfalenkolleg E - drei Jahre
dauert. Eine solche Auslegung stünde nach Ansicht der Kammer angesichts der
besonderen Hervorhebung dieser Hinderungszeit im Widerspruch zu dem Wortlaut und
Sinn der Regelung des § 5 Abs. 9 Nr. 1, 2. Halbsatz SGB V. Für die Anerkennung der
dreijährigen Erlangung des Abiturs spricht vor allem, dass die Hinderungszeit
unmittelbar vor dem Studium aufgetreten ist. Der Kläger benötigte - wie bereits dargelegt
- das Abitur, um das Studium aufnehmen zu können. Er hat sein Abitur auch zügig, d. h.
innerhalb von drei Jahren abgeschlossen, so dass ihm entgegen der Ansicht der
Beklagten nicht entgegen gehalten werden kann, dass er die
Hochschulzugangsberechtigung nicht zügig erlangt hätte. Hätte der Kläger die 3-jährige
Hinderungszeit nicht aufgewiesen, wäre es ihm zumindest möglich gewesen, sein
Studium über sechs weitere Semester vor Überschreiten der Altersgrenze zu
absolvieren. Ihm hätten so zumindest acht Fachsemester für das Studium zur Verfügung
gestanden. Da es dem Kläger nach Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung nicht
mehr möglich war, 14 Fachsemester zu studieren oder zumindest sein Studium
innerhalb der Regelstudienzeit zu absolvieren, ist die dreijährige Hinderungszeit als
ursächlich dafür anzusehen, dass es dem Kläger nicht gelungen ist, vor Überschreiten
der in § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V genannten Grenzen sein Studium zu beenden.
Da nur die drei Jahre auf dem Westfalenkolleg E als Hinderungszeiten zu
berücksichtigen sind, besteht ein Anspruch auf Verlängerung der studentischen
Krankenversicherung als Pflichtversicherung längstens bis zum 31.08.2008, d. h. für
einen Zeitraum von drei Jahren über den von der Beklagten angenommenen Zeitraum
hinaus. Sollte der Kläger sein Studium vor diesem Zeitpunkt beenden, endet i. S. d. § 5
Abs. 1 Nr. 9 SGB V auch seine Pflichtversicherung als Student.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
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