Urteil des SozG Dortmund vom 19.11.2001

SozG Dortmund: anschluss, unfallversicherung, rehabilitation, umschulung, vorrang, arbeitslosigkeit, rechtskraft, erfüllung, bezifferung, erlöschen

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Dortmund, S 23 (11) U 59/00
19.11.2001
Sozialgericht Dortmund
23. Kammer
Urteil
S 23 (11) U 59/00
Unfallversicherung
rechtskräftig
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 868,41 DM zu zahlen. Die
Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung von Arbeitslosengeld (Alg), das sie
der Versicherten gewährt hat, sowie hierauf entfallende Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung.
Die 1965 geborene Versicherte war von der Beklagten unter dem 14.02.1997 aufgefordert
worden, ihre seit 1982 verrichtete Tätigkeit als Zahnarzthelferin aufzugeben (Maßnahme
gemäß § 3 der Berufskrankheitenverordnung - BKVO - zur Vorbeugung der Gefahr der
Entstehung bzw. Verschlimmerung einer Berufskrankheit - BK - entsprechend der Nr. 5101
der Anlage zur BKVO). Die Anerkennung dieser BK erfolgte durch deren weiteren
Bescheid vom 24.02.1997. Die Versicherte hatte die letzte Arbeitsstelle bereits zum
31.01.1997 gekündigt und war wegen der BK-Folgen seit dem 17.01.1996 arbeitsunfähig.
Im Anschluss daran bezog sie von der Klägerin seit dem 05.07.1996 Alg. Durch den
Bescheid vom 23.05.1997 bewilligte die Beklagte berufliche Rehabilitation in Gestalt der
am 20.05.1997 begonnenen Maßnahme mit der Ausbildung zur Reiseverkehrsfrau unter
gleichzeitiger Bewilligung von Übergangsgeld, das die Versicherte bis zur erfolgreich am
22.01.1999 abgelegten Prüfung in Höhe von zuletzt kalendertäglich 45,93 DM bezog.
Noch vor dem endgültigen Abschluss der Maßnahme meldete sich die Versicherte beim
Arbeitsamt (AA) Hamm mit Wirkung der für Mitte Januar 1999 vorgesehenen mündlichen
Prüfung arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. Die Klägerin verweigerte dies
zunächst wegen des ihrer Auffassung nach vorrangigen Anspruchs der Versicherten auf
Anschluss-Übergangsgeld (A-ÜBG). Nachdem die Beklagte die Gewährung dieser
Leistung sowohl gegenüber der Versicherten als auch der Klägerin verweigerte, bewilligte
die Klägerin mit Bescheid vom 04.03.1999 aus dem Restanspruch von 46 Kalendertagen
Alg vom 23.01.1999 bis 09.02.1999 (18 Kalendertage je 39,22 DM), nachdem die
Versicherte am 10.02.1999 eine Arbeit im Umschulungsberuf bei gleichzeitiger Bewilligung
von Eingliederungshilfe an das Beschäftigungsunternehmen durch die Beklagte
aufgenommen hatte.
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Mit Schreiben vom 01.04.1999 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten die
Erstattung des gezahlten Alg in Höhe von 705,96 DM zuzüglich Versicherungsbeiträgen
geltend; sie bezifferte den Erstattungsanspruch unter dem 08.06.1999 auf insgesamt
868,41 DM unter Einbeziehung von Krankenversicherungsbeiträgen in Höhe von 143,92
DM sowie Beiträgen für die Pflegeversicherung in Höhe von 18,53 DM. Sie verwies dabei
auf den Erlass des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 05.03.1999,
wonach der jeweilige Rehabilitationsträger im Anschluss an eine abgeschlossene
Berufsförderung das Übergangsgeld zunächst weiterzahle, es sei denn, es bestehe ein
Anspruch auf Alg von mindestens drei Monaten. Die Beklagte widersprach dem unter
Hinweis auf eine Information des Hauptverbandes der gewerblichen
Berufsgenossenschaften (HVBG) vom 16.01.1998 (HVBG-Info 3/1998), wonach der
Anspruch auf A-ÜBG gegenüber einem Alg-Anspruch nachrangig sei. Im folgenden
Schriftwechsel zwischen den Beteiligten wurden die gegenseitigen Standpunkte vertieft, u.
a. unter Hinweis auf ein Schreiben des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger
(VDR) vom 09.09(.1999 sowie die abweichende Verfahrenspraxis der Bau-
Berufsgenossenschaft Rheinland und Westfalen, die den Alg-Anspruch von weniger als 90
Kalendertagen als nachrangig ansehe.
Mit ihrer am 12.04.2000 erhobenen Klage begehrt die Klägerin gemäß § 104 des Zehnten
Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die Erstattung von 868,41 DM, weil der
Versicherten zu Recht Alg bewilligt worden sei; der Ruhenstatbestand gemäß § 142 Abs. 1
Nr. 2 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) sei erst bei Bewilligung von A-
ÜBG gegeben. Diese Leistung sei gegenüber der Alg-Restanspruchsdauer von 46 Tagen
vorrangig, weil schon aus der Formulierung des § 50 Abs. 2 Nr. 2 des Siebten Buches des
Sozialgesetzbuches (SGB VII) "weitergezahlt" zu folgern sei, dass vom Gesetzgeber keine
Unterbrechung der A-ÜBG-Zahlung gewollt sei. Die von der Beklagten vertretene
Auffassung mit einem zwischenzeitlichen Alg-Bezug von weniger als drei Monaten stelle
keine Weiterzahlung dieser Leistung im Anschluss dar. Dieser Auslegung werde auch
durch § 142 Abs. 1 Nr. 2 SGB III im Hinblick auf den Ruhenstatbestand bezogen auf Alg bei
der Gewährung von A-ÜBG bestätigt.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr einen Betrag von 868,41 DM im Zusammenhang mit der
Gewährung von Arbeitslosengeld an die Versicherte zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist demgegenüber darauf, dass der Auffassung der Klägerin der Wortlaut des §
50 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII entgegenstehe, wonach sich der Zeitraum von drei Monaten um die
Anzahl von Tagen, für die die Versicherte im Anschluss an die berufsfördernde Leistung
einen Anspruch auf Alg geltend machen könne, vermindere. Daraus folge für den
streitbefangenen Fall, dass bei einem Restanspruch auf Alg von 46 Kalendertagen und
einer Arbeitslosigkeit von weniger als 46 Tagen das A-ÜBG nicht zu zahlen sei; erst mit
dem 47. Tag hätte Anspruch auf diese Leistung bestanden. Alg müsse Vorrang vor der
Zahlung des A-ÜBG haben, weil der Beginn der Arbeitslosigkeit ebenso nicht absehbar sei
wie deren Dauer und ob rechnerisch überhaupt die Zahlung eines verminderten A-ÜBG in
Betracht kommen könne. Dies ergebe sich auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung
des § 50 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII, weil seit Inkrafttreten des SGB III während einer beruflichen
Rehabilitation keine Beitragspflicht mehr für Arbeitslosenversicherung bestehe, mithin das
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allgemeine Arbeitsmarktrisiko einerseits und die unfallversicherungsrechtliche
Verpflichtung zur beruflichen Wiedereingliederung Versicherter andererseits deutlicher als
zuvor voneinander getrennt worden seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der
Beteiligten im einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie den der jeweiligen
Verwaltungsakten der beteiligten Versicherungsträger, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Klage ist begründet.
Die Beklagte ist als gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorrangig verpflichteter
Sozialleistungsträgerin gegenüber der nachrangig verpflichteten Klägerin
erstattungspflichtig. Diesen Erstattungsanspruch hindernde Voraussetzungen liegen nicht
vor. Die Leistungspflicht der Klägerin ist nicht nachträglich entfallen (§ 104 Abs. 1 Satz 1 in
Verbindung mit § 103 Abs. 1 SGB X), nachdem die Klägerin ihren ursprünglichen
gegenüber der Versicherten erlassenen Aufhebungsbescheid vom 08.06.1999 mit
Bescheid vom 31.01.2000 wieder zurückgenommen hat. Die Bewilligung von 18
Kalendertagen Alg durch die Klägerin an die Versicherte aus dem noch bestehenden
Restanspruch von 46 Kalendertagen war auch rechtmäßig, weil der aufgrund der
Arbeitslosmeldung vom 01.07.1996 entstandene Alg-Anspruch bei Beginn des erneuten
Bezuges am 23.01.1999 noch nicht erloschen war (siehe dazu § 147 Abs. 2 SGB III, der ein
Erlöschen des Anspruches erst nach vier Jahren vorsieht). Die Beklagte ist ihrer
Verpflichtung aus § 50 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII in der bis zum Inkrafttreten des Neunten
Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) zum 01.07.2001 gültigen und vorliegend
maßgeblichen Fassung auf Gewährung von A-ÜBG nicht nur nicht rechtzeitig, sondern
überhaupt nicht nachgekommen (vgl. dazu zum Prüfungsmaßstab und den einzelnen
Voraussetzungen des Erstattungsanspruches gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X
Bundessozialgericht - BSG - in SozR 3-1300 § 104 Nr. 8 mit weiteren Hinweisen). Die in
dieser Entscheidung geforderte Gleichartigkeit der Leistungen ist ebenfalls gegeben, weil
sowohl das A-ÜBG als auch das Alg eine Lohnersatzleistung beinhalten.
Schließlich hat die Klägerin auch die für den streitbefangenen Klageanspruch erforderliche
Jahresfrist gemäß § 111 Satz 1 SGB X gewahrt, nämlich den Anspruch spätestens durch
die unter dem 08.06.1999 erfolgte Bezifferung der Klageforderung, also binnen vier
Monaten nach dem Ende des Alg-Bezuges der Versicherten am 09.02.1999, geltend
gemacht hat.
Die Nachrangigkeit des Alg-Anspruches der Versicherten gegenüber demjenigen auf A-
ÜBG entnimmt die Kammer sowohl dem Wortlaut des § 50 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII (vgl. die
insoweit überwiegend wort- bzw. inhaltsgleichen Regelungen in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGB III,
§ 25 Abs. 3 Nr. 3 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VI - sowie in § 26
Abs. 8 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz - BVG -) als auch auf der Systematik und dem
Sinn und Zweck dieser Regelung(en). Entgegen der Auffas sung der Beklagten, die durch
den HVBG (vgl. a.a.O.) und die Kommentierungen (u. a. in Bereiter-Hahn/Mehrtens,
Handkommentar zur gesetzlichen Unfallversicherung, Stand Januar 2001, RdNr. 15-A 697
- zu § 50 SGB VII a.F.; Hauck-Römer, Kommentar zur Unfallversicherung, Stand Juni 1998;
RdNr. 16) - allerdings jeweils ohne eine nähere Begründung - gestützt wird, ergibt sich
schon aus dem Wortlaut in § 50 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII: "weitergezahlt". Danach besteht bis
zu drei Monaten (90 Ka lendertagen) bei Erfüllung der zwischen den Beteiligten nicht
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streitigen und vom Gericht ebenfalls festgestellten Voraussetzungen, nämlich die der
Maßnahme unmit telbar anschließende Arbeitslosmeldung für Rehabilitanden ein
Anspruch auf A-ÜBG, sofern sie auf keinen Anspruch auf Verletzten- oder Krankengeld
zurückgreifen können, was hier nicht der Fall war.
Soweit sich die Beklagte zur Begründung auf den zweiten Halbsatz in § 50 Abs. 2 Nr. 2
SGB VII bezieht, wonach sich der höchstens bis zu 90 Kalendertagen (drei Monate)
erstreckende Anspruch auf A-ÜBG um die Anzahl von Tagen mit Anspruch auf Alg
vermindert, ist schon aus systematischen Gründen die darin geregelte
Beschränkungswirkung nicht geeignet, den von der Beklagten angenommenen Vorrang
des Alg-Anspruches von weniger als 90 Kalendertagen begründen zu können. Dies könnte
allenfalls nur dann angenommen werden, wenn der Gesetzgeber den zweiten Halbsatz
vorgezogen und die Regelung im ersten Halbsatz an den Schluss gesetzt hätte.
Ein weiteres, für die Kammer ausschlaggebendes Argument der Vorrangigkeit des A-ÜBG
gegenüber einem Alg-Anspruch von weniger als 90 Kalendertagen ergibt sich aus dem
Veranlassungsprinzip. Entweder ist aus unfall- bzw. berufskrankheitsbedingten Gründen
eine berufliche Umschulung erfolgt oder im Versorgungs-, Rentenversicherungs- und
Arbeitsförderungsrecht liegende Ursachen waren Anlass für eine solche Maßnahme. Dann
ist es aber folgerichtig, dass der jeweils verantwortliche Leistungsträger für die
Übergangszeit zwischen erfolgreicher beruflicher Neuorientierung und Erlangung eines
entsprechenden Arbeitsplatzes Leistungen erbringt. Das Argument der Beklagten, die
arbeitsmarktlichen Risiken seien von denen der Unfallversicherung zu unterscheiden, so
dass die Klägerin vorrangig leistungsverpflichtet sei, solange ein entsprechender
Arbeitsplatz nicht vermittelt werden könne, missachtet die vom Gesetzgeber beabsichtigte,
bis zu drei Monaten dauernde Verantwortung im Bezug auf Lohnersatzleistungen des
Leistungsträgers der beruflichen Rehabilitation. Der Gesetzgeber wollte nur eine
Begrenzung des A-ÜBG auf drei Monate nach erfolgreicher beruflicher Umschulung bzw.
einen Leistungsanspruch nur gegen die Arbeitsverwaltung begründen, wenn ein längerer
Alg-Anspruch als 90 Kalendertage geltend gemacht werden kann.
Das Gericht sieht sich in seiner Rechtsauffassung auch dadurch bestätigt, dass die
Beklagte ohnehin im Rahmen der nachgehenden Berufshilfe die Versicherte durch
Bewilligung von Eingliederungshilfe gemäß § 36 Abs. VII an das neue
Beschäftigungsunternehmen bei der Erlangung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes zu
begleiten hatte. Die Gewährung der Eingliederungshilfe und der von A-ÜBG ergänzen sich
im Rahmen der vom Gesetzgeber gewollten endgültigen Eingliederung von beruflichen
Rehabilitanden.
Das Gericht geht davon aus, dass die Beklagte im Falle der Rechtskraft dieser
Entscheidung der Versicherten die ihr demnach zustehende höhere Leistung auf A-ÜBG im
Vergleich zum nachrangigen, niedrigeren Alg in der Zeit vom 23.01.1999 bis 09.02.1999
gemäß § 44 SGB X von Amts wegen nachbewilligen wird.
Die Höhe der Klageforderung ist hinreichend dargetan, sie umfasst das kalendertägliche
Alg von 39,22 DM (18 Tage à 39,22 DM = 705,96 DM) sowie die darauf entfallenden
Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von 143,92 DM bzw. 18,53 DM; die
Berechnung dieser Beiträge beruht auf dem dem Alg zugrundeliegenden an teiligen
Bemessungsentgelt von 1.090,29 DM (13,2 v. H. für die Kranken- und 1,7 v. H. für die
Pflegeversicherung).
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten (§ 193 Abs. 4 Satz 1 SGG).
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Wegen der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung der Vorrangigkeit von A-ÜBG nicht nur für
den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung, sondern auch für den Bereich der
Rentenversicherung, des Arbeitsförderungsrechts sowie der sozialen Entschädigung, hat
die Kammer die Sprungrevision zugelassen (§ 161 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 160
Abs. 2 Nr. 1 SGG).