Urteil des SozG Dortmund vom 29.11.2002

SozG Dortmund: berufliche tätigkeit, eintritt des versicherungsfalles, ärztliche untersuchung, unfallversicherung, verwaltungsverfahren, merkblatt, anerkennung, chefarzt, kausalität, arbeitsmarkt

Sozialgericht Dortmund, S 11 U 31/00
Datum:
29.11.2002
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 U 31/00
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 2 U 8/03
Sachgebiet:
Sozialrecht
Rechtskraft:
Nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.05.1999 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2000 verurteilt,
dem Kläger aus Anlass des Vorliegens einer BK Nach Nr. 2102 der
Anlage zur BKV eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. nach
Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagten werden die Kosten des Klägers auferlegt.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um die Entschädigung der Meniskusschäden an den
Kniegelenken des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2102 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (BKV).
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Der 1953 geborene Kläger absolvierte nach dem Hauptschulabschluss 1967 zu nächst
eine Lehre als Bauklempner bzw. Gas- und Wasserinstallateur mit Abschluss. Seit dem
Abschluss der Lehre ist der Kläger durchgängig als Dachdecker tätig.
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Im Januar und im Februar 1997 erfolgten Knieoperationen beidseits mit
arthroskopischen Behandlungen im N-Hospital, N1. Als Beginn der Schmerzen im
Bereich der Kniegelenke gab der Kläger das Jahr 1996 an. Im Rahmen der stationären
Behandlung in der Zeit vom 00.00. bis zum 00.00.1997 stellten die Ärzte des N-
Hospitales folgende Diagnosen:
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1. Degenerative mediale Meniskopathie links mit Sandwichrissen, Lappenrissen,
Längsrissen,
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2. Chondromalazie II. Grades medialer Femurcondylus
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3. Gefensterte Plica medio-patellaris
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4. Psoriasis.
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Im histologischen Befund fand sich eine hochgradige Degeneration des linken
Innenmeniskus. Nach Durchführung der Arthroskopien verspürte der Kläger zu nächst
eine Besserung.
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Im Sommer 1997 trat jedoch wiederum eine Verschlechterung hinsichtlich der
Beschwerden ein.
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In einem Bericht über eine Untersuchung des Klägers am 00.00.1997 führte der Chefarzt
der Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des N2-Krankenhauses T, Dr. T1 aus, bei
dem Kläger liege eine mediale Gonarthorse beidseits, links mehr als rechts vor. Er halte
aufgrund der nahezu vollständigen Aufhebung des medialen Gelenkspaltes eine
weitere Operation für erforderlich, um die Notwendigkeit einer frühzeitigen Plastik im
Bereich des rechten Kniegelenkes zu vermeiden.
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Diesen Bericht nahm die Beklagte zum Anlass, ein Verwaltungsverfahren bezüglich der
BK 2102 einzuleiten. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen befragte die Beklagte
ihren Technischen Aufsichtsdienst zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen der
streitbefangenen BK. Unter dem 01.10.1998 führte der technische Aufsichtsbeamte Q
unter Bezugnahme auf eine vom Technischen Aufsichtsdienst zusammengestellte
"Bildmappe über die kniebelastenden Tätigkeiten des Dachdeckers" aus, dass circa 20
bis 25 Prozent der Gesamttätigkeiten des Klägers mit Meniskusbelastungen im Sinne
der BK Nr. 2102 verbunden gewesen seien. Es sei jedoch zu Erfüllung der
arbeitstechnischen Voraussetzungen der streitbefangenen BK ein zeitlicher Umfang der
Meniskusbelastungen in einem wesentlichen Teil der täglichen Arbeitszeit erforderlich.
Dieser sei wohl nicht unter 1/3 der täglichen Arbeitszeit anzusetzen. Es seien daher im
vorliegenden Fall mit einem Zeitanteil der kniebelastenden Tätigkeiten von circa 20 bis
25 Prozent der Arbeitsschicht die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht gegeben.
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Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch den Arzt für
Arbeitsmedizin und Umweltmedizin Dr. X, D. Dieser führte unter dem 02.03.1999 aus,
der innere Aufbau des Kniegelenkes sei fehlerhaft im Sinne einer
Genuvarumfehlstellung, der eine überragende Bedeutung beim Zustandekommen der
degenerativen Meniskusveränderungen zukomme. Die Anerkennung der BK könne
daher nicht vorgeschlagen werden.
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Mit Bescheid vom 06.05.1999 lehnte die Beklagte die Gewährung von
Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, die maßgeblichen Voraussetzungen
der streitbefangenen BK seien nicht gegeben.
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Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, seine
Kniegelenkesbeschwerden seien durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden. Eine
berufsfremde Ursache sei nicht ersichtlich.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2002 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück.
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Hiergegen hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben und führt zur Begründung aus, die
Dachdeckerarbeiten seien meniskusbelastend. Er arbeite in einem typischen
Dachdeckerbetrieb, der eine Vielzahl von meniskusbelastenden Tätigkeiten mit sich
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bringe.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06.05.1999 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2000 zu verurteilen, ihm
aus Anlass des Vorliegens einer BK nach Nr. 2102 der Anlage zur BKV eine
Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält an ihrer im Verwaltungsverfahren vertretenen Rechtsauffassung fest.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von dem Chefarzt
der Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Sporttraumatologie der St. C Klinik I, Dr.
C1. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das im Mai 2001 erstellte Gutachten
von Dr. C1 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 13.08.2001 und 10.09.2001
verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Durch den angefochtenen Bescheid wird der Kläger beschwert im Sinne des § 54 Abs.
2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil dieser Bescheid rechtswidrig ist.
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Zu Unrecht hat die Beklagte die Anerkennung der BK 2102 und die Erbringung von
Entschädigungsleistungen abgelehnt.
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Der Kläger leidet an einer BK nach Nr. 2102 der Anlage zur BKV, die eine Minderung
der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Maße bedingt.
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Verletztenrente gewährt der Versicherungsträger gemäß § 56 Abs. 1 Sozialgesetzbuch,
7. Buch (SGB VII) nach Eintritt des Versicherungsfalles.
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Gemäß Nr. 2102 der Anlage zur BKV gehören zu den Berufskrankheiten auch :
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Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden häufig wiederkehrenden, die
Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten.
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Nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung bezüglich der BK nach Nr. 2102 der
Anlage zur BKV (abgedruckt bei Mehrtens/Perlebach, Kommentar zur
Berufskrankheitenverordnung, M2102) ist eine überdurchschnittliche Belastung der
Kniegelenke im Sinne der genannten BK biomechanisch gebunden an eine
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Dauerzwangshaltung, insbesondere bei Belastungen durch Hocken oder Knien bei
gleichzeitiger Kraftaufwendung oder eine häufig wiederkehrende erhebliche
Bewegungsbeanspruchung, insbesondere Laufen oder Springen mit häufigen Knick-
Scher- oder Drehbewegungen auf grob unebener Unterlage. Diese Voraussetzungen
sind auch durch die von dem Kläger ausgeübte Dachdeckertätigkeit erfüllt. Nach den
glaubhaften Angaben des Klägers, die er durch die Vorlage von Stundenbüchern belegt
hat, hat der Kläger sowohl auf Flachdächern als auch auf Steildächern gearbeitet, ohne
dass der Dachdeckerbetrieb, bei dem er angestellt ist, gravierende Abweichungen
gegenüber typischen Dachdeckerbetrieben erkennen lässt. Da es schon aufgrund des
Zeitablaufes nicht möglich ist, genau festzustellen, welchen Zeitanteil jeweils welche
Verrichtung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit des Klägers im Verlaufe einer jeden
Arbeitsschicht in Anspruch genommen hat, musste und konnte sich die Kammer bei der
Überzeugungsbildung hinsichtlich des Zeitanteiles der kniebelastenden Tätigkeiten auf
die vorgelegten Unterlagen und Aussagen des Klägers stützen, die die Kammer als
uneingeschränkt glaubhaft angesehen hat. Hiernach handelt es sich bei der beruflichen
Tätigkeiten des Klägers um diejenige eines Dachdeckers in einem typischen
Dachdeckerbetrieb.
Bei dieser Tätigkeit musste der Kläger laufend kniend arbeiten, wobei auch dann eine
Meniskusbelastung anzunehmen ist, wenn der Kläger mit gespreizten Füßen auf einer
Leiter oder auf einem Steildach stehend aus dem Oberkörper heraus körperliche
Tätigkeiten ausüben musste. Soweit der TAD der Beklagten gleichwohl lediglich 20 bis
25 Prozent dieser Tätigkeit als kniegelenks- belastend beurteilt hat, widerspricht dies
der herrschenden Anschauung, wonach gerade die Tätigkeit des Dachdeckers die
arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung der BK Nr. 2102 der Anlage zur
BKV erfüllt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.06.1996, Az.: L 17 U 90/95 m.
w. N.).
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Dem steht nicht entgegen, dass das genannte Merkblatt die Dachdeckertätigkeit nicht
ausdrücklich nennt, denn die dort aufgeführten Arbeiten enthalten nur eine beispielhafte
Aufstellung wie der Zusatz z. B. und der allgemeine Hinweis auf "Tätigkeiten unter ganz
besonders beengten Raumverhältnissen" zeigt.
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Zum anderen hat der gerichtlich gehörte Sachverständige Dr. C1 zur Überzeugung der
Kammer dargelegt, dass jedenfalls dann die arbeitstechnischen Voraussetzungen der
streitbefangenen BK erfüllt sind, wenn die Tätigkeit - wie im Fall des Klägers - bereits
weit über 20 Jahre ausgeübt wurde. Diese Einschätzung hat auch der von der
Beklagten gehörte Orthopäde Dr. T2, I1, in seiner von der Beklagten vorgelegten
Stellungnahme vom 09.07.2002 bestätigt. Ergänzend hat Dr. T2 unter Bezugnahme auf
die von der Beklagten vorgelegten Bildmappe ausgeführt, diese sei hinsichtlich des
Umfanges der kniebelastenden Tätigkeiten bei Dachdeckern unvollständig. Dr. T2 sieht
auch die auf Blatt 3 der o. g. Bildmappe dargestellten Tätigkeiten der Dachdecker als
meniskusbelastend an, weil in der dort dargestellten Drehbeugestellung des
Kniegelenkes der Innenmeniskus erheblich belastet wird. Rechnet man diese Zeiträume
aber den auch von der Beklagten anerkannten meniskusbelastenden Tätigkeiten hinzu,
ergibt sich zwanglos ein deutliche Überschreitung des von der Beklagten geforderten
Zeitanteiles in Höhe von 1/3 einer jeden Arbeitsschicht.
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Soweit sich die Beklagte selbst gegen die Stellungnahme ihres Beratungsarztes wendet
und sich auf das Urteil des LSG NW vom 26.09.2001 (Az.: L 17 U 26/01) beruft, konnte
die Kammer dem nicht folgen. Entgegen der Behauptung der Beklagten, es handele
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sich dabei um einen ähnlich gelagerten Fall, ist darauf hinzuweisen, dass dem o. g.
Urteil des LSG der Fall eines Stukkateurs zugrundelag. Die Tätigkeit eines Stukkateurs
unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der eines Dachdeckers, so dass eine
Vergleichbarkeit nicht gegeben ist.
Die haftungsbegründende Kausalität ist daher zu bejahen.
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Dies gilt auch für die haftungsausfüllende Kausalität, denn die Tätigkeit als Dachdecker
ist wesentlich ursächlich für die Schädigung der Kniegelenke des Klägers geworden.
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Auch insoweit folgt die Kammer den schlüssigen Darlegungen des gerichtlich gehörten
Sachverständigen Dr. C1 und den überzeugenden Ausführungen von Dr. T2. In der
Anamnese des Klägers fand sich kein Trauma, keine sportlichen Aktivitäten, kein
Übergewicht; die Ursache für die Meniskopathien ist daher in einer
Gewebsdegeneration zu suchen, für die als Ursache nur die berufliche Tätigkeit des
Klägers in Betracht kommt.
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Insbesondere konnte die Einschätzung des Arbeitsmediziners Dr. X nicht bestätigt
werden, der innere Aufbau des Kniegelenkes des Klägers sei fehlerhaft. Auch Dr. T2 hat
wie schon vor ihm Dr. C1 überzeugend ausgeführt, dass bei dem Kläger regelrechte
Beinachsen vorliegen und auch keine unfalltypischen Verletzungen vorliegen. Die bei
dem Kläger vorliegende hochgradige Generation der Innenmeniski mit Horizontalriss
lässt auf einen eingeklemmten Innenmeniskus schließen. Zu solchen
Einklemmungserscheinungen kommt es nahezu ausschließlich bei starker
Kniebeugestellung. Dieses Schadensbild passt zu einer Tätigkeit, die wie die des
Klägers zu 3/4 aus mehr oder weniger kniebelastenden Verrichtungen besteht.
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Die Kammer ist dem Vorschlag des gerichtlichen Sachverständigen auch hinsichtlich
der MdE-Bewertung gefolgt, die die Kammer nach eigener Prüfung als zutreffend
ansieht.
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Der Grad der MdE hängt maßgebend von der Schwere des noch vorhandenen
unfallbedingten Krankheitszustandes, den damit verbundenen Funktionseinbußen und
dem Umfang der den Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt ab (vgl. nur BSG SozR 2200, § 580 Nr. 27 m. w. N.).
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Für die gesetzliche Unfallversicherung haben sich MdE-Erfahrungswerte
herausgebildet, die zwar Verwaltung und Rechtsprechung nicht binden, bei der
Rentenfeststellung regelmäßig zu berücksichtigen sind, da sie eine Grundlage für eine
gerechte und gleiche Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelen des täglichen
Lebens bilden (vgl. nur Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung,
[Handkommentar], Anm. 10.3 zu § 56 SGB VII).
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Nach diesen Erfahrungswerten in der gesetzlichen Unfallversicherung setzt die
Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. einen Zustand voraus,
wie er z. B. bei einer Bewegungseinschränkung des Kniegelenkes auf eine
Streckung/Beugung von 0/0/90 Grad vorliegt oder bei einer unvollständig
kompensierbaren Lockerung des Kniebandapparates mit Gangunsicherheit (vgl. nur
Bereiter-Hahn/Mehrtens, Anhang 12, Seite J 029).
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Bei dem Kläger hat schon der Arbeitsmediziner Dr. X ein wechselseitiges Schonhinken
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mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung festgestellt. Dr. C1 hat ergänzend darauf
hingewiesen, dass ein heftiger lokaler Druckschmerz über dem medialem Gelenkspalt
an beiden Kniegelenken besteht. Die subjektiven Beschwerdeangaben des Klägers, der
über durchgehende Schmerzzustände berichtet hat, bewertete Dr. C1 als glaubhaft.
Angesichts der Verteilung der damit anhergehenden Funktionsbeeinträchtigungen auf
beide Kniegelenke und damit auf paarige Organe, hat die Kammer in der Bewertung der
MdE mit 20 v. H. durch Dr. C1 keinen Verstoß gegen die o. g. Erfahrungswerte gesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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