Urteil des SozG Dortmund vom 06.12.2002

SozG Dortmund: anspruchsdauer, arbeitsamt, entstehung, meldung, auskunftspflicht, geburt, beendigung, gespräch, unternehmen, gerichtsakte

Sozialgericht Dortmund, S 5 AL 202/02
Datum:
06.12.2002
Gericht:
Sozialgericht Dortmund
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 5 AL 202/02
Sachgebiet:
Sozialrecht
Rechtskraft:
Rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 03.07.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.08.2002 wird abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem
00.00.2002 für 18 Monate zu gewähren.
Die Beklagte hat die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der
Klägerin zu tragen.
T a t b e s t a n d:
1
Die Beteiligten streiten über den Beginn und die Dauer eines Anspruchs auf
Arbeitslosengeld.
2
Die am 00.00.1957 geborene Klägerin war vom 00.00.1998 bis zum 00.00.2002 als
Innendienstmitarbeiterin bei der Q in I beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete
aufgrund einer schriftlichen Kündigung des Arbeitgebers vom 00.00.2002.
3
Am 23.05.2002 sprach die Klägerin erstmals beim Arbeitsamt vor. In einem
Beratungsvermerk der Beklagten ist ausgeführt, dass sich die Klägerin persönlich
arbeitslos gemeldet habe und ihr die Antragsunterlagen ausgehändigt worden seien.
Ferner habe ein Folgegespräch zu Vermittlungsaspekten stattgefunden. Der schriftliche
Antrag auf Arbeitslosengeld ging am 20.08.2002 beim Arbeitsamt I ein.
4
Mit Bescheid vom 03.07.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld ab
dem 01.07.2002 für die Dauer von zwölf Monaten.
5
Dagegen legte die Klägerin am 02.08.2002 Widerspruch ein, mit dem sie die
Bewilligung des Arbeitslosengeldes für 540 Kalendertage, also für 18 Monate begehrte.
Zur Begründung trug sie folgendes vor: Das Arbeitsamt sei verpflichtet gewesen, sie
anlässlich des Gesprächs vom 20.05.2002 auf die Möglichkeit einer Antragsstellung
nach Vollendung des 45. Lebensjahres und auf die ihrer Meinung nach daraus
resultierende längere Anspruchsdauer hinzuweisen. Hierüber sei sie nicht informiert
6
worden. Es handele sich in ihrem Falle um eine Grenzsituation, da sie am 00.00.1957
geboren sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.08.2002 wies die Beklagte den Widerspruch der
Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass es für die Anspruchsdauer nicht
von Bedeutung sei, wann die Klägerin den Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt habe.
Die Dauer des Anspruchs richte sich gemäß § 127 Abs. 1 des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB III) unter anderem nach dem Lebensalter, das der Arbeitslose
bei Entstehung des Anspruchs vollendet habe. Entstanden sei der Anspruch auf
Arbeitslosengeld gemäß § 40 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) an
dem Tage, an dem erstmals alle Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen haben. Seitens
der Klägerin seien die Voraussetzungen aus § 117 Abs. 1 SGB III am 01.07.2002 erfüllt
gewesen, sodass an diesem Tag das Stammrecht auf Arbeitslosengeld entstanden sei.
Die Beantragung von Arbeitslosengeld stelle hingegen keine materiell-rechtliche
Anspruchsvoraussetzung dar, sodass auch ein nachträglicher Verzicht im Sinne des §
46 Abs. 1 SGB I bezüglich des unabhängig von der Beantragung am 01.07.2002
entstandenen Anspruchs nicht möglich sei. Zum Zeitpunkt der Anspruchsentstehung
habe die Klägerin das 44. Lebensjahr vollendet gehabt, sodass die Höchstdauer des
Anspruchs auf Arbeitslosengeld gemäß § 127 Abs. 2 SGB III zwölf Monate betrage.
7
Dagegen hatte die Klägerin am 30.08.2002 Klage erhoben.
8
Sie ist der Ansicht, dass insbesondere deshalb eine spontane Information bezüglich des
erhöhten Anspruchszeitraums hätte stattfinden müssen, weil sie für den Zeitraum vom
23.06.2002 bis 10.07.2002 Urlaub beantragt habe. In dem Unterlassen dieser
Information liege eine Pflichtverletzung seitens des Arbeitsamtes. Im übrigen habe sie
sich am 23.05.2002 noch gar nicht arbeitslos gemeldet. Sie habe sich nur informieren
wollen über ihre Ansprüche und wie sie sich zu verhalten habe. Arbeitslos gemeldet
habe sie sich erst im Juni bei Abgabe ihres Antrags.
9
Die Klägerin beantragt,
10
den Bescheid vom 03.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
12.08.2002 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, Arbeitslosengeld ab dem
03.07.2002 für 18 Monate zu gewähren.
11
Die Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im angefochtenen
Widerspruchsbescheid. Ergänzend trägt sie vor, die persönliche Arbeitslosmeldung im
Sinne von § 122 SGB III sei eine Tatsachenerklärung, die keiner Gestaltungsmöglichkeit
unterliege und daher nicht im Wege eines Herstellungsanspruchs verändert werden
könne. Eine spätere Antragstellung ändere nichts an einer Entstehung des Stammrechts
am 01.07.2002. Entscheidend für die Bestimmung der Dauer des Anspruchs auf
Arbeitslosengeld sei das Alter des Antragstellers zum Zeitpunkt der
Anspruchsentstehung.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf die Gerichtsakte und Verwaltungsakte der Beklagten, Stammnummer 000000. Die
15
Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
16
Die Klage ist zulässig und begründet.
17
Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 03.07.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.08.2002 in ihren Rechten verletzt im Sinne des § 54
Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtswidrig. Es
besteht ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Arbeitslosengeld für die Dauer
von 18 Monaten ab dem 03.07.2002. Dieser beruht auf § 117 Abs. 1 SGB III i.V. mit §
127 Abs. 1 und 2 SGB III. Daneben waren die Grundsätze eines sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs zu berücksichtigen.
18
Geht man von einer Arbeitslosmeldung und Antragstellung der Klägerin zum 01.07.2002
aus, besteht zwar nur ein Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld für zwölf Monate,
denn die am 00.00.1957 geborene Klägerin hat am 01.07.2002 erst das 44. Lebensjahr
und noch nicht das 45. Lebensjahr vollendet, sodass die Anspruchsdauer gem. § 127
Abs. 2 SGB III auf die maximale Dauer von zwölf Monaten begrenzt ist.
19
Allerdings ist die Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu
stellen, als ob sie sich erst zum 00.00.2002 arbeitslos gemeldet hat. Dieser Tag ist der
45. Geburtstag der Klägerin. Weil gem. § 187 Abs. 2 Satz 2 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB( der Tag der Geburt bei der Berechnung des Lebensalter nicht
mitgerechnet wird, hatte die Klägerin an diesem Tag das 45. Lebensjahr vollendet. Der
Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld beträgt in diesem Fall gem. § 127 Abs. 2
SGB III 18 Monate, denn die Klägerin war zuvor mehr als drei Jahre
versicherungspflichtig beschäftigt (§ 127 Abs. 1 r. 1 i.V.m. § 124 Abs. 1 SGB III), nämlich
vom 00.00.1998 bis zum 00.00.2002.
20
Die Voraussetzungen des richterrechtlich entwickelten und anerkannten
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (vgl. dazu BSG, SozR 3-4100, § 110 Nr. 2 mit
weiteren Nachweisen) liegen hier vor.
21
Seitens des Arbeitsamtes I wurde eine behördliche Beratungs- bzw. Auskunftspflicht
nach den §§ 14, 15 SGB I verletzt. Es bestand die Pflicht, die Klägerin darauf
hinzuweisen, dass eine Verlängerung der Dauer ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld
auf 18 Monate durch eine Arbeitslosmeldung nach Vollendung ihres 45. Lebensjahres
also am 00.00.2002 erreicht werden konnte. Zwar hatte die Klägerin wegen der Dauer
des Leistungsanspruchs nicht konkret um eine Beratung der Beklagten ersucht.
Aufgrund des zeitlich sehr engen Zusammenhangs zwischen der Beendigung des
Arbeitsverhältnisses der Klägerin am 00.00.2002 und ihrem 45. Geburtstag am
00.00.2002 bestand jedoch auch ohne ausdrückliche Anfrage der Klägerin konkreter
Anlass zu einer entsprechenden Beratung. Ein ausführliches Gespräch mit der Klägerin
fand jedenfalls am 23.05.2002 statt. An diesem Tage hätte die Klägerin
daraufhingewiesen werden müssen, dass es für sie offensichtlich zweckmäßig ist, ihre
Arbeitslosmeldung um 0 Tage hinauszuzögern, da dies zu einem sechs Monate
längeren Anspruch auf Arbeitslosengeld führen würde. Es handelt sich hierbei um eine
klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeit, deren Wahrnehmung offensichtlich so
zweckmäßig ist, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nutzen würde.
22
Durch die Verletzung der Beratungspflicht ist der Klägerin ein Nachteil entstanden, denn
als verständige Versicherte hätte sie - wie sie auch glaubhaft vorträgt - im Fall einer
entsprechenden Beratung die Arbeitslosmeldung erst zum 00.00.2002 vorgenommen.
Dem verzögerten Beginn des Arbeitslosengeldbezugs um zwei Tage steht nämlich eine
Verlängerung der Anspruchsdauer um sechs Monate gegenüber.
23
Dieser Nachteil kann auch im Rahmen der gesetzlichen Regelungen ausgeglichen
werden. Es ist in rechtlicher Hinsicht zulässig, die Klägerin so zu stellen, als habe sie
sich erst am 00.00.2002 arbeitslos gemeldet.
24
Zwar hat das BSG - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - wiederholt entschieden,
dass eine fehlende Arbeitslosmeldung wegen ihrer spezifischen Funktion nicht mit den
Mitteln eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ersetzbar ist. Jedoch geht es hier
nicht darum, eine fehlende Arbeitslosmeldung zu ersetzen bzw. herzustellen, sondern
es wird eine tatsächlich erfolgte Arbeitslosmeldung auf einen späteren Zeitpunkt
verschoben. Anders als beim Ersetzen einer fehlenden Arbeitslosmeldung wird bei
einer Verschiebung der Arbeitslosmeldung deren Zweck, nämlich der Arbeitsverwaltung
Kenntnis zu vermitteln bezüglich des Eintritts des Versicherungsfalles und sie in die
Lage zu versetzen, Vermittlungsbemühungen zu unternehmen, nicht vereitelt oder
erschwert (so Steinmeier in Gagel, § 122 SGB III Rz 63; vgl. auch SG Koblenz, NZS
2001 Seite 500; LSG Rheinland-Pfalz, NZS 2002 Seite 491).
25
Es widerspricht auch nicht dem Zweck des § 122 SGB III, dass der Arbeitslose sich
durch eine spätere Meldung finanzielle Vorteile verschafft, denn er bewegt sich im
Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten: Es steht ihm schließlich frei, wann er sich
arbeitslos meldet. Die Staffelung der Anspruchsdauer in § 127 SBG III abhängig vom
Lebensalter des Arbeitslosen schließt dieses Recht nicht aus.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
27