Urteil des SozG Detmold vom 18.05.2004

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Sozialgericht Detmold, S 1 U 272/02
Datum:
18.05.2004
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 1 U 272/02
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 15 U 170/04
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf die Gewährung von
Verletztenrente sowie auf die Gewährung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme
hat.
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Der am 00.00.1945 geborene Kläger erlitt am 29.01.1998 einen Arbeitsunfall, als er mit
seinem Fahrzeug infolge Eisglätte verunglückte.
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Der Durchgangsarzt Dr. I diagnostizierte anschließend eine Stirnprellung rechts, eine
HWS-Distorsion, eine Prellung des linken Schultergürtels, eine Prellung und tiefe
Schürfwunde des linken Ellenbogens sowie eine Prellung und Schürfwunde der linken
Hand.
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Bei einer Nachuntersuchung am 04.02.1998 klagte der Kläger über Kopfschmerzen
sowie über Ohrgeräusche.
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Die Beklagte veranlasste anschließend Begutachtungen des Klägers durch den
Neurologen Prof. Dr. U sowie den HNO-Arzt Prof. Dr. N sowie durch den Unfallchirurgen
Dr. I. Prof. Dr. N kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, die Ohrgeräusche und die
psycho-vegetativen Beschwerden seien als Unfallfolge anzusehen, da sie in direktem
zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall stünden. Die MdE sei mit 20 v.H. zu bewerten.
Die Innenohrschwerhörigkeit beidseits sei keine Unfallfolge. Prof. Dr. U schloss sich im
Wesentlichen der Einschätzung von Prof. Dr. N an. Dr. I bewertete die unfallbedingte
Gesamt-MdE mit 20 v.H., da eine Überschneidung zwischen den neurologischen und
HNO-ärztlichen Beschwerden vorliege.
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Die Beklagte ließ dieses Gutachten durch ihren beratenden Arzt, den Neurologen und
Psychiater Dr. G, auswerten. Dieser vertrat die Auffassung, wenn der Tinnitus
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unfallabhängig sei und die psycho-vegetativen Beschwerden zumindest teilweise Folge
dieses Tinnitus seien, sei eine Gesamt-MdE von 20 v.H. gerechtfertigt. Hinsichtlich der
Frage, ob der Tinnitus Unfallfolge sei, sollte die Beklagte hier noch ein Gutachten von
einem traumatologisch erfahrenen HNO-Gutachter einholen.
Die Beklagte holte anschließend ein Gutachten nach Lage der Akten von dem HNO-Arzt
Dr. P ein. Dieser vertrat die Auffassung, ein kausaler Zusammenhang zwischen der
Nackenmuskelzerrung bzw. einer allenfalls feststellbaren HWS-Distorsion I. Grades und
dem festgestellten Tinnitus könne mit großer Wahrscheinlichkeit verneint werden.
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Unter Zugrundelegung dieses Gutachtens lehnte die Beklagte die Gewährung von
Verletztenrente mit Bescheid vom 30.11.2001 ab.
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Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, woraufhin die Beklagte eine weitere hals-
nasen-ohrenfachärztliche Stellungnahme von Prof. Dr. S einholte. Dieser schloss sich
im Wesentlichen der Auffassung von Dr. P an und vertrat die Auffassung, ein adäquates
Trauma für die geklagten Beschwerden habe hier nicht vorgelegen.
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Im Juli 2002 beantragte der Kläger darüber hinaus ein stationäres Heilverfahren. Zur
Begründung legte er eine Bescheinigung des Chirurgen Dr. G2 vor, der die Auffassung
vertrat, nach der bereits durchgeführten stationären Heilmaßnahme in der C2-Klinik, N2,
habe sich der Zustand des Klägers zunächst gebessert. Mittlerweile hätten sich die
Beschwerden wieder erheblich verschlimmert, verbunden mit einer reaktiven
Depression. Es sei daher ein erneutes stationäres Heilverfahren in der C2-Klinik
dringend erforderlich.
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Mit Bescheid vom 26.07.2002 lehnte die Beklagte die Gewährung einer stationären
Reha-Maßnahme mit der Begründung ab, die Beschwerden des Klägers seien keine
Unfallfolge.
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Der Kläger legte auch gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Mit
Widerspruchsbescheiden vom 28.10.2002 (Rentengewährung) bzw. vom 25.11.2002
(Gewährung eines stationären Heilverfahrens) wurden die Widersprüche als
unbegründet zurückgewiesen.
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Der Kläger hat am 05.11.2002 bzw. am 06.12.2002 Klagen gegen beide
Widerspruchsbescheide erhoben.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.11.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28.10.2002 zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer
MdE von 20 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, sowie
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.07.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.11.2002 zu verurteilen, ihm eine stationäre
Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klagen abzuweisen.
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Sie ist bei ihrer Auffassung geblieben, die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen
entsprächen der Sach- und Rechtslage und seien nicht zu beanstanden.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Gutachten von dem HNO-Arzt
Dr. C, dem Neurologen und Psychiater Dr. Dr. X, dem Orthopäden Dr. P2 sowie dem
Neurologen und Psychiatern Dr. L. Auf Inhalt und Ergebnis der am 08.04.2003,
20.06.2003, 01.07.2003 bzw. am 28.01.2004 erstatteten Gutachten wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen
Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der
Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässigen Klagen sind nicht begründet.
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Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide vom 30.11.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28.10.2002 sowie vom 26.07.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.11.2002 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2
Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn diese Bescheide sind nicht
rechtswidrig.
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Die Beklagte hat die Gewährung von Verletztenrente für die Folgen des am 29.01.1998
erlittenen Arbeitsunfalles zu Recht abgelehnt.
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Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch -SGB VII- haben
Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26.
Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist,
Anspruch auf eine Rente. Nur unter den Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 2, 3
SGB VII, d.h. bei Vorliegen eines so genannten Stütztatbestandes, der hier nicht
gegeben ist, genügt eine MdE von 10.v.H.
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Diese einen Rentenanspruch auslösenden Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Dies
steht nach dem Gesamtergebnis der im Verwaltungs- und im Klageverfahren
durchgeführten Ermittlungen zur Überzeugung der Kammer fest. Die Kammer gründet
ihres Überzeugung im Wesentlichen auf die Gutachten des HNO- Arztes Dr. C, des
Orthopäden Dr. P2 sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. L. Danach liegen bei
dem Kläger weder auf orthopädisch/ unfallchirurgischem Fachgebiet, noch auf HNO-
ärztlichem Fachgebiet noch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet
Gesundheitsstörungen vor, die mit Wahrscheinlichkeit durch den Unfall vom 29.01.1998
hervorgerufen oder verschlimmert worden sind. Soweit der neurologisch-psychiatrische
Sachverständige Dr. Dr. X in seinem Gutachten die Auffassung vertreten hat, bei dem
Kläger liege eine posttraumatische Belastungsstörung vor, die für die ersten drei Jahre
nach dem Unfall mit einer MdE von 30 v.H. zu bewerten sei, vermochte ihm die Kammer
nicht zu folgen. Bei dem Unfallereignis hat zwar eine außergewöhnliche Bedrohung
vorgelegen, die grundsätzlich in der Lage ist, eine posttraumatische Belastungsstörung
hervorzurufen, dennoch kommt eine Anerkennung als Unfallfolge nicht in Betracht. Der
Kläger hat weder bei der ersten neurologischen Untersuchung am 06.02.1998, also eine
Woche nach dem Unfall, noch bei der zweiten neurologischen Vorstellung etwa sieben
Monate später, nämlich am 21.08.1998, über die typischen Symptome einer
posttraumatischen Belastungsstörung geklagt. Weder wurde über ein so genanntes
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Vermeidungsverhalten berichtet (der Kläger ist seiner Arbeit weiter nachgegangen und
hat auch weiter Auto gefahren) noch wurden so genannte Nachhallerinnerungen oder
Flashbacks berichtet. Somit fehlen schon zwei wesentliche Voraussetzungen für die
Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung sieben Monate nach dem
Unfallereignis. Auch bei der Begutachtung am 17.03.2000 durch den Neurologen und
Psychiater Prof. Dr. U wurden im Rahmen der Anamneseerhebung keine so genannten
Flashbacks, keine Nachhallerinnerungen und kein Vermeidungsverhalten geschildert.
Zusammengefasst wurden somit keine Symptome berichtet, die verdächtig wären für
eine posttraumatische Belastungsstörung. Allein aufgrund dieser Aktenlage kann man
nach Auffassung von Dr. L die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung
schon fast ausschließen. Der Kläger hat zwar nunmehr sechs Jahre nach dem
Unfallereignis angegeben, die erste Zeit nachts schweißgebadet aufgewacht zu sein.
Dies könnte zwar den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung lenken,
auf Nachfrage hat der Kläger aber so genannte Flashbackerinnerungen in solchen
Situationen verneint. Bei den angegebenen Angstattacken fehlt somit die thematische
Verknüpfung mit dem Unfallereignis. Dies ist aber eine wesentliche Voraussetzung
dafür, dass die angegebenen nächtlichen Angstattacken einem etwaigen
posttraumatischen Belastungssyndrom zugeordnet werden können. Außerdem ist der
Kläger in der Lage, dezidiert in allen Einzelheiten ohne emotionale Beteiligung von dem
Unfallereignis zu berichten. Jemand mit einer protrahierten, persistierenden
posttraumatischen Belastungsstörung wäre hierzu nicht in der Lage. Zusammenfassend
findet sich in den Akten also eine erdrückende Anzahl von Hinweisen, die ganz
eindeutig gegen das Bestehen einer unfallbedingten posttraumatischen
Belastungsstörung spricht. Ein weiterer wesentlicher Punkt gegen die Annahme einer
entschädigungspflichtigen posttraumatischen Belastungsstörung stellte der Umstand
dar, dass innerhalb einer adäquaten Frist nach dem Trauma, also wenige Wochen bis
einige Monate, keinerlei entsprechende Therapie in Anspruch genommen wurde. In
dem EU-Rentenverfahren hat der Sachverständige Dr. Y am 24.04.2003 ebenfalls keine
posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, sondern eine chronifizierte
Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion und Ängstlichkeit bei
zwanghafter Persönlichkeitsstruktur. Ein Zusammenhang zwischen dieser Diagnose
und dem erlittenen Unfall ist jedoch nicht zu erkennen. Ursächlich für die
Anpassungsstörung sind bei dem Kläger eindeutig eine reduzierte psycho-physische
Belastbarkeit aufgrund der äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen bei seiner letzten
Tätigkeit mit sehr unregelmäßiger Wechselschicht einschließlich Nachtschicht, der
Notwendigkeit, schwere körperliche Arbeit zu verrichten, dies in Verbindung mit den
zweifelsohne auch durch die Wechselschicht hervorgerufenen Schlafstörungen und
dem unfallunabhängigen Tinnitus. Prädisponierend dürfte hier seine zwanghafte
Primärpersönlichkeit gewirkt haben, wobei die reduzierte psychophysische
Belastbarkeit aufgrund der organischen Erkrankungen als erhebliche narzisstische
Kränkung, was unbewusst ist, erlebt wurde. Desgleichen wurde die Mitteilung des
Arbeitgebers, dass man für ihn keinen leidensgerechten Arbeitsplatz hätte, als
erhebliche Kränkung erlebt, depressiv verarbeitet mit der Abwehrformation der
Verschiebung und Projektion mit einer "Schuldzuweisung" an den
Unfallversicherungsträger übertragen.
Desgleichen ist der bei dem Kläger bestehende Tinnitus nicht als Unfallfolge
anzuerkennen. Dagegen spricht ein mit Wahrscheinlichkeit vorliegender cochleär zu
lokalisierender Innenohrschaden mit beginnender Recruitment- positiver
Schallempfindungshochtonschwerhörigkeit beidseits. Eine wesentliche unfallbedingte
funktionelle Schädigung bzw. richtungsweisende Veränderung ist nicht nachweisbar. Es
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findet sich sicher keine bei wesentlicher Innenohrschädigung zu erwartende peripher-
vestibuläre Beteiligung. Eine solche und letztere ist durchweg auszuschließen. Der
nach Anamnese ca. zwei Tage nach dem Ereignis eingetretene isolierte Tinnitus ist
mangels adäquatem Innenohrtrauma nicht wahrscheinlich und auch die berichtete
Zunahme im weiteren Verlauf, insbesondere auch die zuletzt angegebene deutlich
sekundäre Beidseitigkeit nach primärer Einseitigkeit widerspricht dem gleichfalls.
Die Kammer hat keine Bedenken, die Feststellungen der Sachverständigen Dr. C, Dr.
P2 und Dr. L der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Sachverständigen haben die
erhobenen Befunde sehr eingehend und sorgfältig ausgewertet und widerspruchsfreie
und nachvollziehbare Überlegungen zur Zusammenhangsfrage angestellt. Die Kammer
hat auch keine Veranlassung gesehen, den Unfallhergang durch einen
Verkehrsunfallspezialisten klären zu lassen und insoweit ein weiteres Gutachten von
Amts wegen einzuholen. Insoweit ist zunächst davon auszugehen, dass Dr. L in seinem
Gutachten ausdrücklich von einem adäquaten Unfallereignis für eine posttraumatische
Belastungsstörung ausgegangen ist. Im Übrigen vermag auch ein derartiges
Sachverständigengutachten eines Verkehrsunfallspezialisten nichts an den objektiven
Unfallfolgen zu ändern, die medizinisch bei dem Kläger insbesondere im
Durchgangsarztbericht festgestellt worden sind.
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Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung einer stationären
Rehabilitationsmaßnahme. Nach § 27 Abs. 1 Nr. 6 umfasst die durch die
Unfallversicherungsträger zu erbringende Heilbehandlung zwar auch die Behandlung in
Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen. Voraussetzung dafür ist jedoch,
dass bei dem Kläger eine Unfallfolge zu behandeln ist. Da bei dem Kläger- wie
dargelegt - weder auf neurologisch-psychiatrischem, noch auf HNO-ärztlichem noch auf
orthopädisch/unfallchirurgischem Fachgebiet Unfallfolgen vorliegen, kommt die
Gewährung einer stationären Reha-Maßnahme zu Lasten der Beklagten hier nicht in
Betracht.
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Die Klage konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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