Urteil des SozG Detmold vom 26.03.2009

SozG Detmold: bekanntgabe, rücknahme, aussiedler, ddr, rechtssicherheit, abschlag, aufenthalt, bedürfnis, sowjetunion, nebenpflicht

Sozialgericht Detmold, S 20 (2) R 307/07
Datum:
26.03.2009
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
20. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 20 (2) R 307/07
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Klägerin wendet sich gegen die Absenkung der Entgeltpunkte (EP) für die nach
dem Fremdrentengesetz (FRG) festgestellten Zeiten auf 60 % (Faktor 0,6) im Rahmen
eines Überprüfungsantrags.
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Die am 00.00.1939 geborene Klägerin reiste am 20.06.1989 aus der ehemaligen
Sowjet-union in die BRD ein und bezog seit dem 01.12.1999 Altersrente für Frauen. Im
Bewilli-gungsbescheid vom 09.12.1999 war die Summe der nach dem FRG
anzurechnenden Entgeltpunkte mit dem Faktor 0,6 multipliziert worden.
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Am 26.02.2007 beantragte die Klägerin im Hinblick auf den Beschluss des Bundesver-
fassungsgerichtes (BVerfG) vom 13.06.2006 die Überprüfung des Bescheides vom
09.12.1999 gem. § 44 SGB X (des 10. Buches Sozialgesetzbuch) und Neuberechnung
ihrer Rente. Nachdem zunächst die vom Gesetzgeber zu schaffende Neuregelung der
Übergangsregelung in Artikel 6 § 4 c Abs. 2 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neure-
gelungsgesetz (FANG) abgewartet worden war, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom
14.08.2007 die Rücknahme des Bescheides vom 09.12.1999 ab. Die Neuregelung
begün-stige Personen, die vor dem 01.01.1991 nach Deutschland gekommen seien und
deren Rente nach dem 30.09.1996 begonnen habe. Weitere Voraussetzung sei aber,
dass der Überprüfungsantrag bis zum 31.12.2004 gestellt worden sei. Ihr
Überprüfungsantrag sei aber erst danach, am 26.02.2007, gestellt worden. Die Klägerin
erhob Widerspruch mit der Begründung, Ihrer Meinung nach seien die Voraussetzungen
der Übergangsregelung gegeben. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2007 wies die
Beklagte den Widerspruch unter Hinweis auf die Neuregelung des Artikel 6 § 4 c Abs. 2
FANG durch das am 30.04.2007 verkündete "Gesetz zur Anpassung der
Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung" (RV-
AltersgrenzenanpassungsG) zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 16.11.2007 erhobene Klage. Die Klägerin hält die
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Neuregelung erneut für verfassungswidrig. Das Bundesverfassungs-gericht habe in der
vorgenannten Entscheidung festgestellt, dass bereits bestandskräftig gewordene
Verwaltungsakte von der Entscheidung "für die Zeit vor Bekanntgabe unberührt"
blieben. Damit gelte dies im Umkehrschluss nicht für die Zeit nach Bekanntgabe der
Entscheidung.
Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.08.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 09.11.2007 zu verurteilen, ihr Leistungen unter
Abänderung des Bescheides vom 09.12.1999 und ggf. ergangener weiterer Bescheide
höhere Rente ohne Kürzung der FRG Entgeltpunkte um den Faktor 0,6 und im Übrigen
nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bleibt bei ihrer Beurteilung der Sach- und Rechtslage.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 14.08.2007 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.11.2007 ist rechtmäßig und verletzt
die Klägerin nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren
Rechten. Die Beklagte hat zu Recht die Rücknahme des Bescheides vom 09.12.1999
gem. § 44 SGB X abgelehnt. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass das Recht unrichtig
angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht
worden sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Bei Erlass des Bescheides vom
09.12.1999 hat die Beklagte das Recht richtig angewandt. Sie hat zu Recht die Höhe
der Rente im Bescheid so berechnet, dass sie die nach dem FRG festzusetzenden
Entgeltpunkte gemäß § 22 Abs. 4 FRG mit dem Faktor 0,6 multipliziert, das heißt um 40
% gekürzt hat.
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Die Höhe der Rente richtet sich gemäß § 63 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB VI) vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch
Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen. Das in einzelnen
Kalenderjahren durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen wird in
Entgeltpunkte umgerechnet. Die Versicherung eines Arbeitsentgelts oder
Arbeitseinkommens in Höhe des Durchschnittsentgelts eines Kalenderjahrs ergibt einen
vollen Entgeltpunkt. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich, indem die unter
Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte mit dem
Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert vervielfältigt werden (§ 63 Abs. 1 - 2
SGB VI, § 64 SGB VI).
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Zwischen den Beteiligten streitig ist hier lediglich die Höhe der der Rentenberechnung
zugrunde gelegten Entgeltpunkte. Die Klägerin begehrt höhere Entgeltpunkte aus ihrer
Beschäftigung im Herkunftsgebiet, d.h. bei den hier streitigen Beitragszeiten handelt es
sich nicht um im Bundesgebiet, sondern im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion
zurückgelegte Zeiten. Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI sind Beitragszeiten Zeiten, für
die nach Bun-desrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge
gezahlt worden sind, d.h. für die in die deutsche gesetzliche Rentenversicherung
Beiträge eingezahlt wurden. In aller Regel sind demgemäß Beiträge oder sonstige
Leistungen, die ein Deutscher außerhalb des jeweiligen Bundesgebiets zu dortigen
Sicherungssystemen freiwillig oder pflichtig erbringt, und die Berechtigungen, die er dort
erwirbt, für die bundes-gesetzliche Rentenversicherung ohne irgendeine rechtliche
Bedeutung. Pflichtbeitrags-zeiten sind aber nach § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI auch
Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Nur
ausnahmsweise werden daher - wie hier - Zeiten ohne Beitragszahlung, d.h. Vorleistung
nach Bundesrecht so behandelt, als wäre damals eine Vorleistung im Bundesgebiet
erbracht worden und sie nach den Bestim-mungen des SGB VI beitragsrelevant
versichert gewesen.
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Ihnen erkennt das Gesetz in besonderen Vorschriften (hier: das FRG) "Beitragszeiten"
und dafür als versichert geltende Arbeitsverdienste zu. Das FRG vom 25. Februar 1960
(BGBl I S 93) - wie zuvor schon das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FANG)
vom 7. August 1953 – gewährt auf diese Weise eine Entschädigung für den Verlust von
"Ansprüchen und Anwartschaften" im Bereich der Invaliditäts- und Altersvorsorge, die
die Vertriebenen im Herkunftsgebiet in Systemen erworben hatten, die den
Anwartschaften und Rechten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung
funktionell vergleichbar und die wegen der Vertreibung erloschen oder nicht mehr
durchsetzbar waren. Dadurch werden die begünstigten Personen "beitragslos" in das
Kernsystem integriert und haben gleiche Rechte, weil das Gesetz aus besonderen, die
Ungleichbehandlung und die Lasten-ungleichheit rechtfertigenden Gründen (hier:
Lastenausgleich für Vertreibungsschäden) die Vorleistung durch Arbeit und Leistung für
das fremde Versicherungssystem einer Vor-leistung durch versicherte Arbeit im
jeweiligen Bundesgebiet gleichgestellt hat. Dies dient vor allem zum Ausgleich von im
Anwendungsbereich fremder Rechtssysteme erworbenen, aber aus besonderen
Gründen (vor allem Kriegseinwirkung, NS-Verfolgung, Vertreibung wegen Zugehörigkeit
zum deutschen Volk, Untergang der DDR etc) verlorenen Rechten und Anwartschaften
vergleichbarer Alterssicherungssysteme.
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Die Klägerin gehört zu dem nach § 1 Satz 1 Nr. a FRG vom FRG erfassten
Personenkreis. Bei ihr standen und stehen daher gemäß § 15 Satz 1 FRG
Beitragszeiten, die sie bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen
Rentenversicherung im Herkunftsgebiet zurückgelegt hat, den nach bundesdeutschem
Recht zurückgelegten Zeiten gleich. Alle sich hieraus ergebenden Rechte und Pflichten
bestimmen sich gemäß § 14 FRG nach den in der Bundesrepublik Deutschland
allgemein geltenden Vorschriften, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften
nichts anderes ergibt. Solch eine nachfolgende Vorschriften, aus der sich etwas anderes
ergibt, ist § 22 FRG.
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Bei den FRG-Berechtigten war ein unmittelbarer Rückgriff auf die im Herkunftsland
erzielten individuellen Arbeitsverdienste für die dort zurückgelegten Beitrags- und
Beschäftigungszeiten nicht möglich. Welche fiktiven Bruttoarbeitsentgelte den nach dem
FRG den Bundesgebietszeiten gleichgestellten Beitrags- und Beschäftigungszeiten als
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versichert geltend zuzuordnen sind, ist in § 22 FRG geregelt. Darin werden die
Modalitäten festgelegt, die es ermöglichen, für die gleichgestellten Beitragszeiten als
versichert geltende Arbeitsverdienste zu bestimmen, die zum jeweiligen
kalenderjährlichen Durchschnittsentgelt im Bundesgebiet ins Verhältnis gesetzt werden
können und so u.a. die kalenderjährlich addierte Summe der Entgeltpunkte ergeben (in
Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 SGB VI;
Tabellenwerte nach Anlage 14 u.a.) Eine generelle Kürzung ergibt sich sodann aus dem
hier im Streit stehenden Abs. 4. Danach werden die nach den Absätzen 1 und 3
maßgeblichen Entgeltpunkte mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt, d. h. um 40 % gekürzt.
Dem liegt folgende Rechtsentwicklung zugrunde: Bereits seit Gründung der
Bundesrepublik Deutschland stand die Frage im Raum, wie die Rentenansprüche der
grundsätzlich nach dem politischen Willen in die Rentenver-sicherung
einzubeziehenden Vertriebenen und Flüchtlinge zu behandeln seien, deren
Rentenversicherungsbeiträge, wenn überhaupt, in ihrem Heimatland und nicht an einen
Rentenversicherungsträger des Bundesgebietes entrichtet worden waren. Mit dem FRG
von 1960 entschied sich der Gesetzgeber für das sogenannte Eingliederungsprinzip,
wonach Vertriebene und Flüchtlinge rentenrechtlich so gestellt werden sollten, als ob
sie im Inland beschäftigt gewesen wären und hier ihr Arbeits- und Versicherungsleben
zurückgelegt hätten (so die Begründung zu § 22 FRG idF des FANG vom 25. Februar
1960, BT-Drucks III/1109, S 42). Das heißt, sie erhielten Rente, als ob sie in der
Bundesrepublik Beiträge eingezahlt hätten, obwohl sie das nicht getan hatten. § 22 FRG
in der ursprünglichen Fassung, das eine Minderung der Entgeltpunkte noch nicht
enthielt, war deshalb eine Ausprägung des dem FRG seinerzeit uneingeschränkt zu
Grunde liegenden Prinzips der Eingliederung der Vertriebenen, NS-verfolgten
Vertriebenen und DDR-Flüchtlinge in das Kernsystem der gesetzlich
Rentenversicherung der Bundes-republik. Mit der Wiedervereinigung wurde das FRG im
Verhältnis DDR / Bundesrepublik Deutschland überflüssig, denn seither gilt ein
einheitliches deutsches Rentenrecht in Ost und West mit Sonderregelung für Altfälle.
Durch den Zerfall der Sowjetunion kam es auch zu Umwälzungen in den anderen
Staaten des Ostblocks. Das Eingliederungsprinzip wurde zunehmend in Frage gestellt,
da es seine historische Legitimation in den Kriegs- und Nachkriegsereignissen, in
Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen gefunden habe und diese Legitimation
angesichts der in Osteuropa mittlerweile eingetretenen politischen, rechtlichen und
tatsächlichen Veränderungen jedenfalls so weitgehend entfallen war, dass es auch aus
Gründen der Gleichbehandlung nicht mehr vertretbar gewesen wäre, an den
begünstigenden Bestimmungen des Fremdrentenrechts festzuhalten (vgl. BT-Druck-
sachen 11/7171, S. 39). In der Folgezeit kam es daher stufenweise zur Absenkung der
Leistungen nach dem FRG. So hielt das Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) vom
25.07.1991 zwar am Eingliederungsprinzip fest, führte aber mit Wirkung vom 1. August
1991 zum einen die Kürzung um ein Sechstel für lediglich glaubhaft gemachte Zeiten
und zum anderen bereits einen ersten pauschalen Abschlag in Höhe von 30 v.H. auf die
für Zeiten nach § 15 und § 16 FRG ermittelten Entgeltpunkte ein (§ 22 Abs. 3 FRG in der
ab 1. August 1991 geltenden Fassung; Faktor 0,7). Von diesem Rentenabschlag
wurden aus Vertrauensschutzgründen lediglich 3 Gruppen von Aussiedlern durch
Artikel 6 § 4 Abs. 5 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) in
der 1991 geltenden Fassung ausgenommen, nämlich die vor 1991 eingereisten
Aussiedler, Personen, die Ansprüche nach dem polnischen
Sozialversicherungsabkommen hatten oder Aussiedler, die bereits vor dem 1. August
1991 Anspruch auf Rente hatten. Mit der Einführung des Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetzes (WFG) vom 25. September 1996 wurde sodann das
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Eingliederungsprinzip aufgegeben. Zu diesem Zweck wurde der durch das RÜG
eingeführte prozentuale Abschlag von 30 v.H. auf 40 v.H. erhöht (d.h. der Faktor von 0,7
auf 0,6 reduziert). Gleichzeitig wurde - wovon die Klägerin nicht betroffen ist - durch
Einführung des § 22b FRG der Rentenanspruch für Aussiedler auf höchstens 25
Entgeltpunkte für Alleinstehende (und für Ehegatten auf höchstens 40 Entgeltpunkte),
also absolut, begrenzt. Diese Neuregelungen galten für alle Personen, die nach dem 7.
Mai 1996, dem Tag des Kabinettsbeschlusses zur Einbringung der Gesetzesinitiative in
den Bundestag, zugezogen waren. Aber auch zuvor Zugezogenen waren von der
erhöhten prozentualen Absenkung des Faktors von 0,7 auf 0,6 betroffen. Nur Personen,
deren Rente vor dem 01.10.1996, also kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes, begann,
blieben von den Kürzungen insgesamt ausgenommen. (Zum Vorstehenden vgl auch
BVerfG vom 13. Juni 2006 - 1 BvL 9/00 ua, unter A I der Gründe sowie
Vorlagebeschluss des BSG vom 29.08.2006 - B 13 RJ 47/04 R- zur Frage der
Begrenzung der EP beim Zusammentreffen von eigener und Hinterbliebenenrente,
jeweils mit weiteren Nachweisen.) Mit Beschluss vom 13.06.2006 hat das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Reduzierung des Faktors auf 0,6, d.h. die
Absenkung der auf dem FRG beruhenden Entgeltpunkte um 40 %, grundsätzlich für
verfassungsgemäß erklärt (Leitsatz Nr. 2). Es hat allerdings die damalige
Übergangsregelung nicht für ausreichend gehalten. Die Einbeziehung auch der damals
rentennahen Jahrgänge ohne Übergangsregelung wurde für mit dem rechtsstaatlichen
Vertrauensschutzprinzip unvereinbar erklärt (Orientierungssatz 4. zu Leitsatz 3). Das
BVerfG hat dort im Ergebnis ausgeführt, dass die uneingeschränkte Einbeziehung auch
derjenigen Berechtigten, deren Rente nach dem 30. September 1996 begann, die also
nach der damaligen Übergangsregelung unabhängig vom Zuzug eine Absenkung um
weitere 10 % auf 40 % hinnehmen mussten, ohne eine Übergangsregelung mit dem
Grundgesetz unvereinbar sei, wenn diese Personen vor dem 1. Januar 1991 ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik genommen haben.
Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin. Sie ist vor dem 1. Januar 1991 in das
Gebiet der Bundesrepublik zugezogen. Sie gehört also zu dem Personenkreis, für den
das Bundesverfassungsgericht eine neue Übergangsregelung für erforderlich hielt.
Aufgrund der Forderung des BVerfG hat der Gesetzgeber durch das am 30.04.2007
verkündete RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz die Übergangsregel des Artikel 6 § 4c
Abs. 2 FANG geändert. Danach wird für Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben,
deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt und über deren Rentenantrag oder
über deren bis zum 31. Dezember 2004 gestelltem Antrag auf Rücknahme des
Rentenbescheides am 30. Juni 2006 noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist, für
diese Rente einmalig zum Rentenbeginn ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten
ermittelt.
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Die Klägerin hat erst am 26.02.07 den Antrag auf Rücknahme des Rentenbescheides
gestellt und wird daher durch die Übergangsregelung nicht begünstigt.
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Die Klägerin ist nicht aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu
stellen, als habe sie den Überprüfungsantrag bereits vor dem Stichtag gestellt. Die
Voraussetzungen dieses Anspruchs sind nicht erfüllt. Der sozialrechtliche
Herstellungsanspruch ist auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des
jeweiligen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger
eine ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsene, aber unterlassene Nebenpflicht
ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Wesentlich ist daher das Ausbleiben von
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gesetzlich vorgesehenen Vorteilen infolge eines rechtswidrigen Verhaltens des
Leistungsträgers ihm Rahmen eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses (vgl. BSG,
Urteil vom 12.07.1998 - 7 RAr 62/88 m.w.Nw.). Verletzt der Leistungsträger eine
Nebenpflicht (Beratungs-, Auskunfts- oder Informationspflicht), begründet dies nur dann
ein Herstellungsrecht, wenn die Pflichtverletzung wesentliche, d.h. gleichwertige
Bedingungen für die Beeinträchtigung eines sozialen Rechts war. Dies ist nicht der Fall,
wenn der Anspruchsteller das Ausbleiben der Leistung wissentlich oder fahrlässig
gegen sich selbst (mit)verursacht hat ( BSG, Urt.v. 06.03.2003 - B 4 RA 38/02 R). Hier
fehlt es bereits an einer Beratungspflicht der Beklagten. Eine Beratung über den
Stichtag war ihr nicht möglich, weil der Stichtag erst nachträglich durch das FANG am
20.04.2007 Gesetz geworden ist. Es besteht schließlich auch keine Verpflichtung,
immer dann, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Neuregelung in Zweifel gezogen
wird, vorsorglich vor einer Entscheidung des BVerfG alle potentiell betroffenen
Versicherten zu informieren und die vorsorglichen Stellung eines Überprüfungsantrages
anzuraten. Dies widerspräche dem Sinn und Zweck einer Stichtagsregelung und würde
jede Stichtagsregelung obsolet machen, (vgl. auch SG Mainz, Gerichtsbescheid vom
24.09.2008 - S 7 R 59/08). Letztlich obliegt es jedem Versicherten selbst, sich über
allgemeine Entwicklungen zu informieren und gegebenenfalls – z.B. in den Auskunfts-
und Beratungsstellen der Beklagten – im Einzelfall um Rat nachzusuchen. Eine
konkrete Falschberatung ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Artikel 6 § 4c Abs. 2
FANG in der Fassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz ist nicht
verfassungswidrig und widerspricht auch nicht den Vorgaben des BVerfG im Beschluss
vom 13.06.2006 (1 BvL 9/00 ua). Eine Verpflichtung zur zumindest teilweisen
Einbeziehung aller, auch bereits bestands-kräftiger Entscheidungen ergibt sich nicht
aus dem Hinweis des BVerfG, dass bereits bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte
von der Entscheidung "für die Zeit vor Bekanntgabe unberührt" blieben. Entgegen der
Auffassung der Klägerin ergibt sich aus dem von ihr gezogenen Umkehrschluss, dies
gelte nicht für die Zeit nach Bekanntgabe der Entscheidung, selbst wenn er so zu ziehen
wäre, jedenfalls kein Zahlungsanspruch. Gemäß Art. 6 § 4c FANG wird der Zuschlag
monatlich für die Zeit des Rentenbezuges vom 1. Oktober 1996 bis zum 30. Juni 2000
abgestuft gezahlt. Für die Zeit des Renten-bezuges ab 1. Juli 2000 wird der Zuschlag
nicht gezahlt. Da die Entscheidung des BVerfG erst nach dem letzten
Zuschlagszahlungszeitraum im Juni 2000, nämlich erst im Jahre 2006, erging, hätte
auch bei Einbeziehung der Klägerin für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG kein
Anspruch mehr bestanden.
Die Begrenzung einer rückwirkenden Korrektur durch den Gesetzgeber auf noch nicht
bestandskräftige Verfahren sowie durch die Stichtagsregelung bzgl. der Antragsstellung
nach § 44 SGB X ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die sich im Falle der
Klägerin auswirkende Ungleichbehandlung von noch offenen und bereits
bestandskräftig entschiedenen Fällen verstößt nicht gegen das Grundgesetz (GG),
insbesondere nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG. Die
Ungleichbehandlung beruht letztlich auf dem Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2
Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Danach bleiben nicht mehr anfechtbare
Verwaltungsentscheidungen von einer Entscheidung des BVerfG unberührt, selbst
wenn ihre Rechtsgrundlage eine für nichtig erklärte Norm ist. Die Beschränkung der
Rückwirkung auf noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Fälle ist
verfassungsgemäß (Bundesfinanzhof , Urteil vom 11.02.1994 - III R 50/92 - die
Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung wurde nicht zur Entscheidung
angenommen - BVerfG-Beschluss vom 31.1.1996, Az: 2 BvR 901/94). Das BVerfG hat
gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 79 Abs.2 BVerfGG keine Bedenken erhoben,
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vielmehr stets betont, der Gesetzgeber könne die erforderliche Neuregelung auf
abgeschlossene Fälle anwenden, sei hierzu aber nicht verpflichtet (vgl. Urteil vom
28.04.1999 - 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105). Zwar befriedigt die Ungleichbehandlung von
Rentenberechtigten durch Regelungen wie Artikel 6 § 4c Abs. 2 FANG nicht das
Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall. Dieses Bedürfnis steht allerdings im
Widerstreit zur rechtsstaatlichen Forderung nach Rechtssicherheit, wozu auch die
Rechtsbeständigkeit bestandskräftiger, also nicht mehr anfechtbarer Entscheidungen
gehört. Wenn der Gesetzgeber in diesem Widerstreit durch § 79 Abs.2 BVerfGG, ähnlich
wie z. B. bei Verjährungsvorschriften, der Rechtssicherheit den Vorzug gegeben hat, so
ist dies nicht zu beanstanden (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 24.09.2008 - S 7 R
59/08). Beschränkt der Gesetzgeber eine rückwirkende gesetzliche Neuregelung, die er
aufgrund einer Entscheidung des BVerfG treffen muss, auf noch nicht bestandskräftig
abgeschlossenen Fälle, so besteht kein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger
Bescheide. Auch in seinem o.g. Beschluss vom 13.06.2006 (1 BvL 9/00 ua), in dem die
alte Übergangsregelung als unzureichend kritisiert worden war und auf dessen
Grundlage die Neuregelung erlassen wurde, hat das BVerfG eine unmittelbare
Auswirkung seiner Entscheidung auf nicht bestandskräftige Bescheide begrenzt. Dort
heißt es, dass noch nicht rechts-oder bestandskräftig abgeschlossene Gerichts- und
Verwaltungsverfahren, in denen sich Berechtigte, die vor dem 1. Januar 1991 in die
Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind und deren Rente nach dem 30.
September 1996 begonnen hat, gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs. 4 FRG
1996 wegen der dort vorgesehenen Absenkung der ihrer Rente zugrunde liegenden
Entgeltpunkte wenden, ausgesetzt blieben oder auszusetzen seien, um den Betroffenen
die Möglichkeit zu erhalten, aus der vom Gesetzgeber zu treffenden Regelung Nutzen
zu ziehen. Bereits bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte blieben von der
vorliegenden Entscheidung für die Zeit vor der Bekanntgabe unberührt. Es sei dem
Gesetzgeber unbenommen, die Wirkung dieser Entscheidung auch auf bereits
bestandskräftige Bescheide zu erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet sei er
hierzu nicht. Die Entscheidung des Gesetzgebers, eine begrenzte Erstreckung auf
bereits bestandskräftige Verfahren verbunden mit einer Stichtagsregelung hinsichtlich
des Überprüfungsantrages einzuräumen, hält sich damit im Rahmen des vom BVerfG
Vorgegebenen. Die Verfassungsmäßigkeit von Stichtagsregelungen hat das BVerfG in
ständiger Rechtsprechung bestätigt.
Die nach alledem mangels Anwendbarkeit der Übergangsregelung im Falle der
Klägerin vorzunehmende Kürzung auf 60% durch § 22 FRG ist ebenfalls
verfassungsgemäß. Das Gericht verweist hierfür auf die Ausführungen des BVerfG im
Beschluss vom 13.06.2006 (1 BvL 9/00 ua) , denen es sich anschließt. § 22 FRG
entspricht danach ver-fassungsrechtlichen Anforderungen. An die Entscheidung des
BVerfG ist das Gericht im Übrigen gebunden (§ 31 BVerfGG).
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Die Klage konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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