Urteil des SozG Detmold vom 24.01.2006

SozG Detmold: krankenversicherung, behandlung, arzneimittel, hauptsache, konsens, versorgung, mammakarzinom, label, verfügung, sachleistung

Sozialgericht Detmold, S 3 KR 92/05 ER
Datum:
24.01.2006
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 3 KR 92/05 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zur Entscheidung in der
Hauptsache eine Behandlung mit dem Arzneimittel Herceptin als
Sachleistung zur Verfügung zu stellen, soweit ihr dieses vertragsärztlich
verordnet wird. Die Antragstellerin hat an den entstehenden Kosten
vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache eine Beteiligung von
500,00 EUR je Quartal, erstmals in voller Höhe für das 1. Quartal 2006,
zu erbringen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die
Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der
Antragstellerin.
Gründe:
1
I.
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Die am 00.00.1948 geborene Antragstellerin ist bei der Beklagten gesetzlich
krankenversichert. Sie leidet an einem invasiv duktualen Mammakarzinom links,
Stadium pT1b (1 cm) C4 und pTis High grade Dcis, C4, pNO (0/22 LK) C4, M0, C2, G2,
pR0 Resektion, Hormonrezeptoren ER: 12 und PR: 12, HER-2-neu stark positiv (Score
3+) FISH positiv. Nach Diagnose der Erkrankung wurde die Antragstellerin am
17.02.2005 brusterhaltend operiert und eine Axilladissektion durchgeführt. Am
21.02.2005 und 24.02.2005 erfolgten dann noch 2 Nachresektionen, da der Tumor nicht
ausreichend im gesunden Gewebe entfernt werden konnte. Bis zum 06.07.2005
unterzog sich die Antragstellerin einer Chemotherapie. Diese wurde mit 6 Zyklen FEC
durchgeführt. Bis zum 14.09.2005 erhielt sie darüber hinaus eine Strahlenbehandlung.
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Die Antragstellerin beantragte bei der Antragsgegnerin "die Kostenübernahme für eine
Behandlung mit Trastuzumab (Herceptin) in einer adjuvanten Situation".
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Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.11.2005 lehnte sie den Antrag ab. Hiergegen
legte die Antragstellerin Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin noch nicht
entschieden hat.
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Am 29.12.2005 hat die Antragstellerin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz
gestellt. Sie macht geltend, aufgrund ihrer hohen Risikosituation sei eine adjuvante
Therapie mit dem Arzneimittel Herceptin erforderlich, um Rezidive zu vermeiden und
ihre Überlebenszeit zu verlängern. Die Kriterien für den zulassungsüberschreitenden
Einsatz von Arzneimitteln (sog. Off-Label-Use) seien erfüllt. Es läge eine
schwerwiegende Erkrankung vor, Therapiealternativen bestünden nicht. Der Einsatz
von Herceptin in ihrer Behandlungssituation entspreche dem aktuellen Stand des
medizinischen Wissens und dem Konsens der einschlägigen Fachkreise. Es bestehe
die begründete Aussicht, dass ein Behandlungserfolg zu erzielen sei. Sie sei nicht in
der Lage, die Therapiekosten von durchschnittlich 2.600,00 EUR pro Monat selbst
aufzubringen. Nach Abzug der laufenden monatlichen Fixkosten verbleibe ihr derzeit
ein Einkommen von ca. 1.150,00 EUR monatlich. Hiervon müsse sie noch die
allgemeinen Lebenshaltungskosten und weitere Krankheitskosten bestreiten.
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Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr das
Arzneimittel Herceptin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als
Sachleistung zur Verfügung zu stellen, soweit ihr dies vertragsärztlich verordnet wird.
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Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Sie bezieht sich zur Begründung auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) vom 19.01.2006. Danach liege kein wissenschaftlich
geprüfter Wirksamkeitsnachweis für die beantragte Therapie vor. Die Nebenwirkungen
seien derzeit nicht ausreichend beurteilbar, so dass eine zuverlässige Risiko-Nutzen-
Bewertung auch im Hinblick auf den klinischen Stellenwert eines verlängerten
krankheitsfreien Überlebens noch nicht möglich sei. Die individuelle Eignung der
Antragstellerin für eine adjuvante Therapie mit Herceptin sei nicht ausreichend
nachvollziehbar.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten verwiesen.
12
II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Er ist auch im Umfang
des vorstehenden Tenors begründet. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf
vorläufige Gewährung der begehrten Behandlung mit Herceptin.
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Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht in der Hauptsache auf
Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung des Rechts eines Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert
werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Für eine
einstweilige Anordnung müssen demnach ein Anordnungsanspruch und ein
Anordnungsgrund vorliegen.
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Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Grundsätzlich haben
Versicherte im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 1
Nr. 3, 31 Abs. 1 des Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Anspruch auf Versorgung
mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese verschreibungspflichtig sind. Zwar
besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung nur für solche Mittel, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild
als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit
dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese
Voraussetzungen sind dann nicht erfüllt, wenn das Arzneimittel nicht über die nach dem
Arzneimittelrecht erforderliche Zulassung verfügt oder wenn es in einem
Anwendungsgebiet eingesetzt wird, für das es grundsätzlich nicht zugelassen ist. Um
einen solchen sogen. Off-Label-Use geht es im vorliegenden Fall. Ausnahmsweise
kommt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Leistungspflicht
der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann in Betracht, wenn bei fehlender
Zulassung für das vorgesehene Anwendungsgebiet die in Frage stehende Medikation
für die Behandlung der Erkrankung unverzichtbar und erwiesenermaßen wirksam ist.
Dabei sind folgende 3 Voraussetzungen kumulativ zu erfüllen:
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1. Es liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor, dass heißt eine solche, die
lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt;
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2. es ist keine andere Therapie verfügbar;
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3. aufgrund der Datenlage besteht die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden
Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
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Herceptin als Therapieform ist bei metastasierenden Mammakarzinom zugelassen, nicht
jedoch für die adjuvante Therapie. Die Brustkrebserkrankung der Antragstellerin ist
einen schwerwiegende Erkrankung, die lebensbedrohlich sein kann oder die
Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Wirksame Therapiealternativen, die
das Auftreten von Rezidiven im gleichen Maße vermeiden und damit die
Überlebenschancen der Antragstellerin verbessern würden, sind von der
Antragsgegnerin nicht benannt worden. Die Voraussetzungen zu Ziffer 3. können nur
dann angenommen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten
lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann.
Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung
bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten Prüfung der Phase III
veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch
relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiko belegen oder außerhalb eines
Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität
und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige
wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den
einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem
vorgenannten Sinn besteht (vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8). Eine abschließende
Studie fehlt für die vorliegend umstrittene adjuvante Therapie noch, worauf die
Antragsgegnerin zu Recht hinweist. Die von der Antragstellerin zitierten Studien,
Stellungnahmen der einschlägigen ärztlichen Fachgesellschaften und das Gutachten
von Dr. Untch vom 22.12.2005 begründen jedoch die konkrete Aussicht, dass bei der
vorliegenden Erkrankung mit Herceptin ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
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Grundsätzlich wäre die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wegen des
Wortlauts von § 135 Abs. 1 SGB V von der vorherigen Anerkennung durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss abhängig. Hieran fehlt es. Gleichwohl schließt das
eine vorläufige Regelung zur Leistungserbringung nicht aus. Denn bei derartig enger
Auslegung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung wäre die Übernahme von
Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer
lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung
ausgeschlossen, für die (noch) keine dem allgemeinen medizinischen Standard
entsprechende Behandlungsmethode existiert, obwohl der behandelnde Arzt eine
Methode kennt und zur Anwendung bringen könnte, die nach seiner Einschätzung im
Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst. Nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin
umfassend in die Abwägung einbezieht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach-
und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist. In den Beschlüssen vom 12.05.2005
(1 BVR 469/05) und vom 06.12.2005 (1 BVR 347/98) steht nach Auffassung des BVerfG
die Wahrung der Würde des Menschen im Vordergrund. Es ist mit Art. 2 Abs. 1
Grundgesetz i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter
bestimmten Voraussetzungen einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine Beiträge die notwendige
Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer
lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die
schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer
bestimmten Behandlungsmethode auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der
Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei
muss allerdings die vom Versicherten gewählte Behandlungsmethode eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den
Krankheitsverlauf versprechen. Von einer solchen Erfolgsaussicht ist unter
Berücksichtigung der von der Antragstellerin vorgelegten Studien zur adjuvanten
Herceptintherapie auszugehen. Wenn das Risiko einer generell lebensbedrohlichen
Krankheit und die Möglichkeit zur deutlichen Erhöhung der Heilungschancen gegen die
rein finanziellen Interessen der Versichertengemeinschaft abzuwägen sind, verdient im
Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung das Interesse des Einzelnen den
Vorrang. Anderenfalls wäre zu befürchten, dass bei nicht zeitgerechter Aufnahme der
Therapie die Heilungschancen der Antragstellerin massiv beeinträchtigt werden.
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Dagegen kann die Antragsgegnerin nicht mit Aussicht auf Erfolg einwenden, die mit der
Verabreichung von Herceptin verbundenen Risiken sprechen entscheidend gegen den
Einsatz dieses Mittels zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Zwar ist
einzuräumen, dass die Langzeitwirkungen des Medikaments noch nicht ausreichend
bewertet werden können, andererseits lässt das im Verhältnis zu anderen
Brustkrebspatientinnen besonders hohe Risiko der Antragstellerin nicht die Möglichkeit
offen, auf weitere Erkenntnisse zu warten. Die während der Behandlung mit Herceptin
nicht regelmäßig, aber in verschiedenen Fällen auftretenden Folgen für die
Herzleistungsfähigkeit lassen sich grundsätzlich durch engmaschige internistisch-
kardiologische Mitbetreuung minimieren, im schlimmsten Fall ist es möglich, das
Medikament ärztlicherseits abzusetzen.
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Einen Anordnungsgrund hat die Antragstellerin im Wesentlichen glaubhaft gemacht.
Eilbedürftigkeit ist angesichts des Krankheitsbildes gegeben, da längeres oder gar
mehrjähriges Abwarten bis zu einer Hauptsacheentscheidung das Risiko der
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bestehenden Erkrankung oder die Möglichkeit einer Neuerkrankung an anderen
Organen bis zur Lebensgefährdung steigern könnte. Zu einer vollen Vorleistung ist die
Antragstellerin nicht in der Lage. Da allerdings der Ausgang eines
Hauptsacheverfahrens offen ist und die Antragstellerin nach eigenen Angaben über ein
monatliches Einkommen (nach Abzug der Fixkosten) von etwa 1.150,00 EUR verfügt, ist
ihr eine Mitbeteiligung an den sehr hohen Therapiekosten im Umfang von 500,00 EUR
je Quartal zumutbar.
Die Kostenentscheidung folgt in entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
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