Urteil des SozG Detmold vom 07.09.2010

SozG Detmold (antragsteller, krankenkasse, überwiegende wahrscheinlichkeit, behandlung, fahrtkosten, notwendigkeit, anordnung, sgg, prüfung, fahrkosten)

Sozialgericht Detmold, S 21 AS 1703/10 ER
Datum:
07.09.2010
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 21 AS 1703/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes
verpflichtet, an den Antragsteller vorläufig 415,20 Euro für Taxifahrten zu
seinen behandelnden Ärzten und zu Einkäufen für die Zeit ab dem
05.08. bis zum 30.09.2010 auszuzahlen. Die Antragsgegnerin trägt 1/3
der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
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Der zulässige Eilantrag ist teilweise begründet, denn bei summarischer Prüfung der
Sach- und Rechtslage ist der Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.07.2010 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2010 in verschiedenen Punkten rechtswidrig.
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Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr
besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung
eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen
Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der
der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll,
sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der
Anordnung begründet, voraus.
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Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander,
es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den
Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden
Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt.
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Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen
Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG –
Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der
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Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige
Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil
ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache
dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen
Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen
Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des
Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und
Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu
entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die
Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss
vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).
Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der
Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Die
Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die
tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des
Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Antragsteller bezüglich der begehrten
Übernahme von Fahrtkosten zu Ärzten für August 2010 und Einkäufen für August und
September 2010 sowohl einen Anordnungsanspruch, als auch einen Anordnungsgrund
hinreichend glaubhaft gemacht. Dagegen fehlt es hinsichtlich der Übernahme der
Kosten für die begehrte Sehhilfe an einem Anordnungsgrund.
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Nach § 21 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erhalten erwerbsfähige
Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender,
nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn
er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von
Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich
von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Für die Übernahme der Fahrtkosten zu
seinen behandelnden Fachärzten im August 2010 und zum Einkaufen im August und
September 2010 hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft
gemacht, denn in beiden Fällen liegt nach summarischer Prüfung der Sach- und
Rechtslage in dem hier zu entscheidenden Einzelfall ein unabweisbarer, laufender nicht
einmaliger Bedarf vor. Der Antragsteller ist grundsätzlich in besonderer Weise auf die
Benutzung eines Verkehrsmittels für Fahrten zum Arzt und zu Einkäufen angewiesen.
Nach seinen Angaben, die durch ein zur Akte S 21 AS 1269/10 ER gereichtes ärztliches
Attest seines behandelnden Diabetologen bestätigt werden, leidet er an einem
diabetischen Fußsyndrom. Dadurch ist es ihm nicht möglich, längere Strecken zu Fuß
zurückzulegen. Sollte er sich nicht an die Anweisungen des Facharztes halten, drohen
weitere Komplikationen, die eine Wiederherstellung der Füße des Antragstellers
gefährden. In dem Attest des Herrn Dr. N heißt es auszugsweise: "Seit 2009 bestehen
multiple Ulcera an beiden Füßen, die regelmäßig behandelt und verbunden werden
müssen. Die Abheilung ist durch Wundheilungsstörungen wegen der
Diabeteserkrankung erschwert. Herr M kann wegen dieser Erkrankung keine längeren
Strecken zu Fuß gehen und ist für die Fahrten zur Praxis und im Alltag (z.B. Einkäufe
erledigen) auf ein Fahrzeug angewiesen. " Der durch die Erkrankung des Antragstellers
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ausgelöste Bedarf ist als Sonderbedarf im Sinne von § 26 Abs. 6 SGB II anzusehen,
denn die bei ihm bestehende Notwendigkeit, Ärzte besuchen zu müssen und nur sehr
kurze Wegstrecken zu Fuß gehen zu können, unterscheidet sich erheblich von den
Gesundheitsproblemen der Mehrzahl der Leistungsempfänger nach dem SGB II. Weil
der Antragsteller nur kurze Wegstrecken zu Fuß gehen soll, besteht mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit auch ein Anspruch auf Übernahme der Fahrtkosten zu Einkäufen in
einem Radius von 5 km von seiner Wohnung. Theoretisch wäre es zwar möglich, dass
der Antragsteller den nächstgelegenen Supermarkt aufsucht, um dort seine Waren zu
beschaffen. Dies würde ihm jedoch nicht ermöglichen, auf Sonderangebote, die er
aufgrund seines geringen Einkommens wahrnehmen muss, auszuweichen.
Die Zahl der wöchentlichen Einkaufsfahrten war unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten
auf zwei zu begrenzen, denn einem Empfänger von Grundsicherungsleistungen, der in
einem Einpersonenhaushalt lebt, ist es zuzumuten, seine Bedarfsdeckung so zu
organisieren, dass hierfür im Mittel nicht mehr als zwei Termine zur Beschaffung von
Gebrauchsgütern anfallen.
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Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin besteht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit auch keine Verpflichtung der Krankenkasse, Fahrten zu Ärzten und
zu Einkäufen zu übernehmen. Nach § 60 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)
übernimmt die Krankenkasse nach den Absätzen 2 und 3 die Kosten für Fahrten
einschließlich der Transporte nach § 133 SGB V (Fahrkosten), wenn sie im
Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen
Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug benutzt werden kann, richtet sich nach der
medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. Die Krankenkasse übernimmt Fahrkosten zu
einer ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach § 61 Satz 1 ergebenden
Betrages nur nach vorheriger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der
gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12SGV V
festgelegt hat. § 8 der Krankentransportrichtlinien lautet: "In besonderen
Ausnahmefällen können auch Fahrten zur ambulanten Behandlung außer der in § 7
Abs. 2 Buchstaben b) und c) geregelten Fälle bei zwingender medizinischer
Notwendigkeit von der Krankenkasse übernommen und vom Vertragsarzt verordnet
werden. Sie bedürfen der vorherigen Genehmigung durch die Krankenkasse.
Voraussetzungen für eine Verordnung und eine Genehmigung sind, - dass der Patient
mit einem durch die Grunderkrankung vorgegebenen Therapieschema behandelt wird,
das eine hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum aufweist, und - dass
diese Behandlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf den
Patienten in einer Weise beeinträchtigt, dass eine Beförderung zur Vermeidung von
Schaden an Leib und Leben unerlässlich ist." Diese Voraussetzungen liegen bei dem
Antragsteller im August 2010 nicht vor, denn die von ihm durchzuführenden
Arztbesuche sind mit Behandlungen aus dem Bereich der Onkologie oder der Dialyse
ihrer Schwere und Bedrohlichkeit nach nicht vergleichbar. Mit der Änderung des § 60
SGB V zum 1.1.2004 hat der Gesetzgeber stärker als zuvor auf die medizinische
Notwendigkeit der im Zusammenhang mit der Krankenkassenleistung erforderlichen
Fahrt abgestellt und die Möglichkeit der Krankenkassen, Fahrkosten generell in
Härtefällen zu übernehmen, verfassungskonform beseitigt ( vgl. im Einzelnen BSG
SozR 4-2500 § 60 Nr 1 RdNr 13 f). Bei der Prüfung der Übernahmefähigkeit von
Fahrtkosten ist nun die Häufigkeit der Behandlung einerseits und ihre Gesamtdauer
andererseits gemeinsam zu den Regelbeispielen in Beziehung zu setzen. Dieser
Maßstab ergibt sich aus der Absicht des Gesetzgebers, ab 1.1.2004 Fahrkosten in der
ambulanten Behandlung grundsätzlich gar nicht mehr zu erstatten und nur in
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"besonderen" Ausnahmefällen etwas anderes gelten zu lassen, nicht aber schon
breitflächig allgemein in Härtefällen. (BSG, Urteil vom 28.07.2008, B 1 KR 27/07 R). Bei
dem Antragsteller lag im August 2010 zwar ein Härtefall im Sinne eines Mehrbedarfs
nach § 21 Abs. 6 SGB II, nicht jedoch ein Ausnahmefall i S. v. § 60 SGB V i.V.m. § 8 der
Krankentransportrichtlinien vor. Zwar können sich bei dem Antragsteller im Falle einer
unsachgemäßen oder unzureichenden Behandlung des diabetischen Fußsyndroms und
seiner Augenerkrankung schwerwiegende Komplikationen ergeben, eine Gefahr für
Leib und Leben drohte ihm im August 2010 aber nicht. Fahrten für Einkäufe stehen in
keinem medizinischen Zusammenhang zu § 60 SGB V und sind deshalb nicht von der
Krankenkasse, sondern von der Antragsgegnerin zu übernehmen. Anders stellt sich die
Sach- und Rechtslage bei summarischer Prüfung für September 2010 dar, denn wie der
Antragsteller gegenüber dem Vorsitzenden telefonisch erklärte, hat sich sein
Gesundheitszustand drastisch verschlechtert. Nach seinen Angaben haben sich die
Geschwüre an seinen Füßen entzündet, und die Unterschenkel sind derart
angeschwollen, dass er nicht laufen kann. Der behandelnde Diabetologe habe ihn
deshalb an die Fußambulanz in C überwiesen, wo er als Notfall umgehend einen
Termin erhalten habe. Unter diesen Umständen hält es das Gericht für überwiegend
wahrscheinlich, dass die Krankenkasse für Fahrten zu Ärzten aufkommen muss, wenn
der Antragsteller dies beantrage, denn die Schwere seiner Erkrankungen dauert seit
knapp vier Monaten an und erfordert nun eine sehr hohe Behandlungsfrequenz. Es ist
sogar nicht auszuschließen, dass der Antragsteller für einige Zeit stationär therapiert
werden muss, wofür ebenfalls die Krankenkasse im Rahmen der Kostenübernahme als
Leistungsträger zuständig ist. Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen für die
Übernahme der Kosten für Arztfahrten gemäß § 21 Abs. 6 SGB II bestehen auch
deshalb, weil es dem Antragsteller neben der Einschaltung der Krankenkasse obläge,
die Fahrtkosten – etwa durch den Wechsel einiger Behandler – selbst zu senken.
Darüber hinaus ist offen geblieben, ob der Antragsteller die Möglichkeit, seine
Erkrankungen (Diabetis mellitus, diabetische Nephropathie, Hypertonie und diabetische
Retinopathie) interdisziplinär behandeln zu lassen erwogen und mit seinen
behandelnden Ärzten besprochen hat. Hierdurch ließen sich erhebliche Fahrtkosten
einsparen und Termine gut koordinieren. Für seinen hinreichend wahrscheinlichen
Anordnungsanspruch auf Arztfahrten im August 2010 sowie Einkaufsfahrten im August
und September 2010 hat der Antragsteller auch einen Anordnungsgrund hinreichend
glaubbhaft gemacht. Dieser liegt vor, wenn ihm ein existenzieller Nachteil droht, den er
nicht anders als durch eine sofortige gerichtliche Entscheidung abwenden kann. Einen
solchen Nachteil hat der Antragsteller hinreichend glaubhaft gemacht. Zur Überzeugung
des Gerichts benötigt der Antragsteller ohne weitere Verzögerung Mittel, aus denen er
seine Fahrten zu ambulanten Behandlungen und zu nahegelegenen
Einkaufsgelegenheiten zur Deckung seines alltäglichen Lebensbedarfs finanzieren
kann. Für die sofortige Beschaffung einer Sehhilfe liegt dagegen kein Anordnungsgrund
vor, denn nach seinen Angaben benötigt der Antragsteller eine Gleitsichtbrille, um
seinen Blutzuckerspiegel richtig messen zu können, für Einkäufe und zum Autofahren.
Zur Messung des Blutzuckerspiegels stehen andere technische Alternativen wie etwa
sprechende Blutzuckermessgeräte, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen
werden, zur Verfügung. Bei Einkäufen kann der Antragsteller vorübergehend seine
vorhandene Brille und Lupe zur Vergrößerung kleiner Schrift benutzen. Autofahrten zu
seinen behandelnden Ärzten sowie Fahrten zu nahe gelegenen Supermärkten mit
einem Taxi sind dem Antragsteller vorerst durch die mit diesem Beschluss
zugesprochenen Mittel möglich. Der dem Antragsteller von der Antragsgegnerin zu
erstattende Betrag für Sonderbedarf berechnet sich wie folgt: Auszugehen ist zunächst
von einem in dem Verfahren S 21 AS 1269/10 ER ermittelten Kilometersatz von 1,20
Euro pro Kilometer für die Bevörderung mit einem Taxi. Im August 2010 fuhr der
Antragsteller nach seinen Angaben 186 Kilometer zum Arzt, wodurch er 223,20 Euro
(186 km x 1,20 Euro) aufwenden musste. Zweimal wöchentliches Einkaufen im Umkreis
von 5 km (10 km für Hin- und Rückfahrt mit dem Taxi) kosten 96,00 Euro monatlich (10
km pro Fahrt x 2 Fahrten = 20 km x 8 Wochen = 160 km x 1,20 Euro = 192,00 Euro. Der
Gesamtbetrag beläuft sich damit auf 223,20 Euro + 192,00 Euro = 415,20 Euro. Die
Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.