Urteil des SozG Detmold vom 11.01.2011

SozG Detmold: brille, ärztliche verordnung, diabetes mellitus, existenzminimum, krankenversicherung, implantation, operation, behinderung, erwerbsfähigkeit, firma

Sozialgericht Detmold
Urteil vom 11.01.2011 (rechtskräftig)
Sozialgericht Detmold S 21 AS 926/10
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22.02.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 31.03.2010 verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Beschaffung einer Gleitsichtbrille in Höhe von 532,50 Euro
zu erstatten. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung der Kosten einer Gleitsichtbrille als Sonderbedarf nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Der am 00.00.1956 geborene Kläger steht im laufenden Bezug von
Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Am 09.02.2010 beantragte der Kläger die Übernahme
der Kosten für eine neue Sehhilfe sowie die Erstattung der Kosten für Arzneimittel und Verbandsstoffe, die nicht über
das rote Rezept der Krankenkasse abgedeckt seien. Außerdem beantragte er Kostenersatz für Benzin und die
anteilige Übernahme der Kosten der Kraftfahrzeugversicherung und Kraftfahrzeugsteuer. Mit Bescheid vom
22.02.2010 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme für eine neue Sehhilfe "und kostenaufwändige
Ernährung" ab. Hiergegen legte der Kläger am 25.02.2010 Widerspruch ein, den die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 31.03.2010 zurückwies. Mit seiner am 28.04.2010 erhobenen Klage trägt der Kläger vor,
ohne eine neue Brille sei er zur Verrichtung vieler alltäglicher Tätigkeiten nicht mehr in der Lage. Er könne nur noch
mit einer Lupe lesen, und die Behandlung seiner Diabeteserkrankung durch notwendige Insulingaben könne er selbst
nicht länger sicherstellen. Er sei augenblicklich nicht in der Lage, die beim Spritzen von Insulin erforderliche
Medikamentendosis verlässlich zu ermitteln. Er sei sowohl kurz- als auch weitsichtig und deshalb auf eine
Gleitsichtbrille angewiesen. Seine Sehschärfe habe sich auf beiden Augen kontinuierlich verschlechtert. Am
21.09.2008 habe er sich eine Gleitsichtbrille fertigen lassen, deren Fassung inzwischen erheblich beschädigt und
deren Gläser für ihn unbrauchbar geworden seien. Bereits am 29.02.2009 habe er erneut beim Optiker vorstellig
werden müssen, weil sich seine Augen verschlechtert hätten. Eine weitere Messung der Sehschärfe vom 17.09.2009
habe ergeben, dass sein Sehvermögen weiter abgenommen habe. Am 19.02.2010 hätten sich die gemessenen Werte
nochmals verschlechtert. Ohne eine neue Brille sei es ihm nicht möglich, sich auf Stellenangebote in der örtlichen
Tageszeitung zu bewerben. Die Kosten für eine neue Sehhilfe seien in den Regelleistungen nach dem SGB II nicht
enthalten. Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichere,
die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und
politischen Leben erforderlich seien. Der Gesetzgeber könne zwar den typischen Bedarf des Existenzminimums für
einen monatlichen Festbetrag decken, müsse aber für einen darüber hinausgehenden abweichenden laufenden nicht
nur einmaligen besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen. Bei dem Bedarf des Klägers auf
Kostenübernahme einer neuen Sehhilfe handele es sich um einen solchen längerfristigen Bedarf. Seine Sehschärfe
verschlechtere sich kontinuierlich, es liege daher ein langfristiger Bedarf vor. Die für die Beschaffung einer
Gleitsichtbrille anfallenden Kosten ließen eine Ansparung aus der Regelleistung nicht zu. Er habe sich einer Operation
an beiden Augen unterzogen. Dabei seien ihm Kunstlinsen implantiert worden, die das Kontrastsehen verbessern
sollten. Auch nach den durchgeführten Operationen benötige er weiterhin eine Gleitsichtbrille, allerdings hätte sich
seine Sehschärfe nach den Operationen auf dem linken Auge gebessert und auf dem rechten Auge verschlechtert.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22.02.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
31.03.2010 zu verurteilen, ihm die Kosten einer Gleitsichtbrille (Gläser und Fassung) in Höhe von insgesamt 532,50
Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie meint, dem Kläger stünden die Kosten zur Beschaffung einer Gleitsichtbrille als atypischer Bedarf nicht zu. Eine
Gleitsichtbrille stelle einen einmaligen Bedarf dar. Es handele sich nicht um einen Verbrauchsgegenstand, der nur
einer einmaligen Nutzung diene, sondern vielmehr um einen Gebrauchsgegenstand, der, soweit sich aus
medizinischer Sicht keine Veränderung der Sehschärfe ergebe, dauerhaft nutzbar sei. Auch bei fortschreitender
Sehschwäche sei kein kurzfristiger Bedarf an neuen Brillengläsern erkennbar. Es sei keine wöchentliche
Verschlechterung der Sehleistung mit daraus resultierender Notwendigkeit neuer Brillengläser zu erwarten. Abgestellt
auf die Dauer eines Bewilligungszeitraumes handele es sich deshalb um eine einmalige Anschaffung. Als Alternative
zu der begehrten Gleitsichtbrille könne der Kläger sich auch zwei Brillen für die Nah- und Fernsicht fertigen lassen.
Eine solche einfache Brille koste 17,50 EUR. Bei zwei Brillen errechne sich damit ein Bedarf in Höhe von 35,00 EUR.
Es sei auch keine ärztliche Verordnung vorgelegt worden, aus der sich ergebe, dass der Kläger mit einer
Gleitsichtbrille zur Linderung von Krankheitssymptomen oder zum Ausgleich einer Behinderung versorgt werden
müsse. Auch sei kein Nachweis darüber erbracht worden, dass die Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt
worden sei und diese den Antrag abgelehnt habe.
Am 08.03.2010 hat der Kläger einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Das Verfahren
wurde unter dem Aktenzeichen S 21 AS 540/10 ER geführt. Das Gericht hat dort ein augenfachärztliches Gutachten
zu folgenden Fragen eingeholt: 1. Bei dem Antragsteller wurden bereits zahlreiche Laserbehandlungen an der
Netzhaut vorgenommen. Wie stark ist sein Gesichtsfeld hierdurch eingeschränkt? Wieviel sieht der Antragsteller noch
ohne Brille? 2. Ist es dem Antragsteller ohne Brille möglich, Verrichtungen des täglichen Lebens, wie Einkaufen,
Kochen etc. auszuführen? Kann der Antragsteller ohne Brille oder mit seiner derzeitigen Sehhilfe seinen
Blutzuckerwert richtig einstellen und selbst Insulin spritzen ohne seine Gesundheit zu gefährden? 3. Benötigt der
Antragsteller eine neue Brille? Wenn ja: Welche?
Der Sachverständige - Herr Dr. med. U Q - hat ausgeführt, der Kläger leide an fortgeschrittener diabetischer
Retinopathie, die auf beiden Augen durch ausgedehnte mehrfache Laserkoagulationen behandelt worden sei.
Anzeichen für weitere Blutungen in der Netzhaut seien aktuell nicht feststellbar. Es bestehe eine mäßige
Schalentrübung der Augenlinsen, links deutlich mehr als rechts. Es könne von einer deutlichen Einschränkung des
Gesichtsfelds bis etwa 25 Grad sicher ausgegangen werden. Die Sehschärfe ohne Brille liege bei 25 %. Der Kläger
könne Verrichtungen des täglichen Lebens - insbesondere in der Nähe ohne Brille - nicht sicher durchführen. Seine
vorhandene Brille reiche für einfache Tätigkeiten in der Nähe aus, für genaues sehen, insbesondere für das Spritzen
von Insulin sei die Brille nicht ausreichend. Das liege nicht allein an der Brillenstärke, sondern auch an der Trübung
der Augenlinsen. Der Kläger benötige auf jeden Fall eine neue Brille. Bevor über die Art der Sehhilfe genauere
Feststellungen getroffen werden könnten, sei zunächst die Entfernung der Linsen beider Augen sowie die Implantation
von Kunstlinsen angezeigt. Auf diese Weise könne das Kontrastsehen etwas gebessert werden. Mit Rücksicht auf die
von dem Gutachter getroffenen Feststellungen hat der Kläger seinen Eilantrag zurückgenommen.
Am 26.10.2010 hat das Gericht ein weiteres augenfachärztliches Gutachten zu folgenden Fragen eingeholt:
1.Welche Sehschärfe besitzt der Kläger nach den am 29.04.2010 und 27.05.2010 durchgeführten Operationen beider
Augen? 2.Ist es dem Kläger ohne Brille möglich, Verrichtungen des täglichen Lebens, wie Einkaufen, Kochen etc.
auszuführen? Kann der Kläger ohne Brille oder mit seiner derzeitigen Sehhilfe seinen Blutzuckerwert richtig einstellen
und selbst Insulin spritzen, ohne seine Gesundheit zu gefährden? 3.Benötigt der Kläger eine neue Brille? Wenn ja:
Welche? 4.Inwieweit lässt sich das Sehvermögen des Klägers ggf. durch eine neue Sehhilfe voraussichtlich bessern?
5.Falls eine neue Sehhilfe benötigt wird: Muss die Beschaffung zwingend in Form der von dem Kläger beantragten
Gleitsichtbrille geschehen, oder würden dem Kläger, wie von der Beklagten vorgetragen, auch zwei wesentlich
günstigere Brillen getrennt für Nah- und Fernsicht helfen?
Der Sachverständige - Herr Dr. med. U Q - hat hierzu ausgeführt, bei dem Kläger sei nunmehr eine Operation des
grauen Stars durchgeführt und Kunstlinsen implantiert worden. Nach Korrektur der Sehschärfe mit einer geeigneten
Sehhilfe betrage diese auf dem rechten Auge 60 % und auf dem linken Auge 80 %. Ohne Brille betrage die
Sehschärfe in der Ferne rechts 10 % und links 40 %. Die Nahsehschärfe sei nicht genau bestimmbar. Durch die
Einpflanzung einer Hinterkammerlinse auf beiden Augen sei es dem Kläger nunmehr unmöglich, seine Augen auf das
Sehen in der Ferne und in der Nähe einzustellen. Ohne Brille könne er kleine Skalen nicht lesen und sehe auch nicht
genug, um seinen Blutzuckerwert korrekt ablesen und Insulin spritzen zu können. Weil sich die Augen des Klägers
nicht mehr auf die Sicht in der Nähe, in einem mittleren Bereich und in der Weite einstellen könnten, sei entweder eine
Gleitsichtbrille erforderlich, oder es seien drei Brillen nötig, um dies zu bewerkstelligen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und den der
Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger ist durch den Bescheid vom 22.02.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.03.2010
beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtswidrig.
Spezialgesetzliche Rechtsgrundlagen greifen zugunsten des Klägers nicht durch. Die Beklagte muss aber die Kosten
für die Beschaffung der begehrten Gleitsichtbrille als unabweisbaren, nicht nur einmaligen laufenden Mehrbedarf des
Klägers bei der Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II berücksichtigen.
I. Ansprüche auf Erstattung der Anschaffungskosten der Gleitsichtbrille aus Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
bestehen mangels Zuständigkeit weder gegen den Träger der Rentenversicherung, noch gegen die Beklagte. 1.
Gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuches Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) bestimmt
der zuständige Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit
und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung von Rehabilitationsleistungen nach pflichtgemäßen
Ermessen. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbringen die Träger der Rentenversicherung gemäß § 16 SGB
VI hierbei nach Maßgabe der Vorschriften der §§ 33 bis 38 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und
Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX). Gemäß § 33 Abs. 1 SGB IX werden zur Teilhabe am Arbeitsleben die
erforderlichen Leistungen erbracht, um die Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen
entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wieder herzustellen und ihrer
Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern. Diese Leistungen umfassen gemäß § 33 Abs. 3 Nr. 1 und 6
SGB IX insbesondere Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich
vermittlungsunterstützender Leistungen (Nr. 1) sowie sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, um
behinderten Menschen eine angemessene und geeignete Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu
ermöglichen und zu erhalten (Nr. 6). Die Leistungen nach § 33 Abs. 3 Nr. 1 und 6 SGB IX umfassen nach § 33 Abs. 8
S. 1 Nr. 4 SGB IX unter anderem Kosten für Hilfsmittel, die wegen Art oder Schwere der Behinderung der
Berufsausübung, zur Teilnahme an einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur Erhöhung der Sicherheit auf
dem Weg von und zum Arbeitsplatz und am Arbeitsplatz erforderlich sind, es sei denn, dass eine Verpflichtung des
Arbeitgebers besteht oder solche Leistungen als medizinische Leistungen erbracht werden können. Vorliegend kann
dahingestellt bleiben, ob der Kläger überhaupt die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung für Leistungen zur
Teilhabe nach § 10 Abs. 1 SGB VI erfüllt, dass mithin seine Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher,
geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und voraussichtlich bei erheblicher
Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
abgewendet werden kann (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 a SGB VI). Denn jedenfalls liegen die Voraussetzungen des §
16 SGB VI i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 1 Nr. 4 SGB IX nicht vor. Bei der vom Kläger begehrten Gleitsichtbrille handelt es
sich um ein Hilfsmittel zum Ausgleich seiner bestehenden Sehminderung. Der Kläger hat – von der Beklagten
unangefochten – vorgetragen, er benötige die Gleitsichtbrille für einfache Verrichtungen im Haushalt, zum Einkaufen,
zum Lesen und Schreiben von Post sowie zum Ablesen seiner Blutzuckerwerte und zum Spritzen von Insulin. Damit
ist unstreitig, dass der Kläger die begehrte Sehhilfe nicht nur bei jedweder beruflichen Tätigkeit oder
Bildungsmaßnahme, sondern auch im privaten Lebensbereich benötigt. Hierfür ist eine Zuständigkeit des Trägers der
gesetzlichen Rentenversicherung nach § 16 SGB VI i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 1 Nr. 4 SGB IX jedoch nicht gegeben. Dies
wäre nur dann der Fall, wenn das Hilfsmittel ausschließlich für eine bestimmte Form der Berufsausübung oder
Berufsausbildung benötigt wird. Andernfalls ist die materielle Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung für
das begehrte Hilfsmittel gegeben. An dieser materiell-rechtlichen Zuständigkeitsabgrenzung hält die Kammer
ausdrücklich fest. Dies gilt umso mehr, als die Zuständigkeit der Krankenversicherung auch Hilfsmittel umfassen
kann, die nur für die Berufsausübung erforderlich sind. Zwar besteht eine Leistungspflicht der Krankenkassen nur für
solche Hilfsmittel, die zur Ausübung eines elementaren Grundbedürfnisses erforderlich sind. Hierzu zählt jedoch auch
die Ausübung einer sinnvollen beruflichen Tätigkeit überhaupt, denn es zählt zu den elementaren Grundbedürfnissen
des Menschen, eine berufliche oder andere gleichwertige Tätigkeit auszuüben. Wird der Kläger mithin erst durch das
von ihm begehrte Hilfsmittel in die Lage versetzt, eine Arbeit zur Schaffung und dauerhaften Sicherung einer
Existenzgrundlage zu verrichten, handelt es sich um eine Aufgabe der Krankenversicherung (BSG, Urteil vom
12.10.1988, SozR 2200, § 182 b Nr. 36; BSG, Urteil vom 21.08.2008, SozR 4-3250, § 14 Nr. 7; LSG Niedersachsen,
Urteil vom 24.05.1995 - L 4 KR 129/94 -; abweichend BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R -). Diese schon
aus Gründen der Rechtssicherheit notwendig vorzunehmende Zuständigkeitsabgrenzung im materiell-rechtlichen
Sinne erweist sich gerade im Fall des Klägers als sinnvoll. Denn dieser bezieht seit Geltung des SGB II
Grundsicherungsleistungen nach diesem Gesetz und steht nicht in einem Beschäftigungsverhältnis. Zudem können
besondere Anforderungen an das Sehvermögen gar nicht geprüft werden, weil diese an einen konkreten Arbeitsplatz
anknüpfen, den der Kläger nicht inne hat.
2. Nach § 16 Absatz 1 SGB II i.V.m §§ 97 ff SGB III Sozialgesetzbuch Drittes Buch erbringt die Bundesagentur für
Arbeit Leistungen zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Eine normale Brille ist, anders als eine Arbeitsschutzbrille,
keine Hilfe zur Teilhabe am Arbeitsleben, sondern ein medizinisches Hilfsmittel, das in die Zuständigkeit des Trägers
der gesetzlichen Krankenversicherung fällt. Da der Kläger die Brille nicht nur für den Beruf, sondern auch im täglichen
Leben zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse benötigt, liegt das Schwergewicht nicht im beruflichen Bereich
(LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16.12.2008, L 5 B 422/08 AS).
II. Die Anschaffung der begehrten Gleitsichtbrille aus Mitteln der Krankenversicherung kommt wegen des hierfür noch
zu großen Sehvermögens des Klägers ebenfalls nicht in Betracht. Nach § 33 Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes
Buch (SGB V) haben Versicherte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen
entsprechend den Voraussetzungen nach § 31 Abs. 1 SGB V. Für Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet
haben, besteht der Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie aufgrund ihrer Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der
von der WHO empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung auf beiden Augen eine
schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen (§ 33 Abs. 2 S. 2 SGB V). Ausweislich dieser WHO
Klassifikation liegt eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 vor, wenn die Sehschärfe (Visus) bei
bestmöglicher Korrektur mit einer Brillenversorgung oder möglichen Kontaktlinsenversorgung auf dem besseren Auge
unter 0,3 beträgt oder das beidäugige Gesichtsfeld unter 10 Grad bei zentraler Fixation ist. Die Sehfähigkeit mit
bestmöglicher Korrektur muss damit von 0,3 bis 0,1 betragen. Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger
ersichtlich nicht vor, denn nach den Ausführungen des Sachverständigen hat der Kläger bei einem Gesichtsfeld von
25 Grad nach erfolgter Korrektur mit einer geeigneten Sehhilfe einen Visus von 60 % auf dem rechten und 80 % auf
dem linken Auge. Angesichts der materiellen Zuständigkeitsabgrenzung im Bereich der Leistungen zur Teilhabe,
vermag ein Leistungsausschluss in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht die "ersatzweise" Zuständigkeit des
Rentenversicherungsträgers zu begründen (Vgl. zur Problematik der Abgrenzung von Ansprüchen gegen Kranken- und
Rentenversicherungsträger bei der Anschaffung einer Gleitsichtbrille: SG Dortmund, Gerichtsbescheid vom
13.07.2010, S 26 R 309/09 mit ausführlichen Nachweisen).
III. Dem Kläger steht auch kein Anspruch nach § 73 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) gegenüber dem
Träger der Sozialhilfe zu. Zwar sind Leistungen nach § 73 SGB XII aufgrund der Regelung des § 5 Absatz 2 SGB II
für Bezieher von SGB II-Leistungen nicht generell ausgeschlossen. Es liegt aber weder eine atypische Bedarfslage
i.S.v. § 73 SGB XII noch eine im Rahmen einer Ermessensvorschrift für einen Anspruch notwendige
Ermessensreduzierung auf Null vor. Nach § 73 SGB XII können Geldleistungen als Beihilfe oder Darlehen auch in
sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Eine "sonstige
Lebenslage" i.S.v. § 73 SGB XII liegt nur dann vor, wenn das bedarfsauslösende Ereignis weder innerhalb des SGB
XII in den Kapiteln 3 - 9 (§§ 27 - 69) bzw. den sonstigen Hilfen in anderen Lebenslagen (§§ 70 - 72, 74) noch in
anderen Bereichen des Sozialrechts geregelt und bewältigt wird (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 22.06.2007 Az.: L 1
B 7/07 AS ER; Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010, zu § 73 SGB XII, Rdnr. 3). Hierbei ist zu beachten, dass
es dem in §§ 3 Absatz 3 Satz 2, 23 Absatz 1 Satz 4 SGB II zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers
widerspräche, wenn § 73 SGB XII in eine allgemeine Auffangnorm umgedeutet würde, die in all den Fällen einen
Anspruch gegen den Sozialhilfeträger begründen würde, in denen die eigentlich einschlägigen Normen den
betreffenden Anspruch gerade ausschließen (vgl. Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010 zu § 73 SGB XII, Rdnr.
3). Der vom Kläger geltend gemachte Bedarf für die Anschaffung einer Sehhilfe ist in § 33 SGB V bereits gesetzlich
geregelt. Eines Rückgriffs auf § 73 SGB XII bedarf es deshalb nicht. Die Vorschrift dient darüber hinaus nicht dazu,
unzureichend ausgestaltete Regelsätze aufzustocken (vgl. Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010 § 73 SGB XII
Rdnr. 3, zu den Voraussetzungen einer atypischen Bedarfslage BSG 14. Senat, Urteil vom 19.08.2010, B 14 AS
13/10 R).
Überdies ist § 73 SGB XII als bloße Ermessensvorschrift ausgestaltet. § 73 SGB XII räumt dem Sozialhilfeträger
sowohl hinsichtlich der Frage, "ob" geleistet wird als auch in welcher Art und Weise ("wie") geleistet wird, Ermessen
ein. Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall eine Ermessensreduzierung auf Null gerechtfertigt hätten, wurden
nicht vorgetragen und sind auch nach Lage der Akten nicht ersichtlich (Zur Beschaffung einer Gleitsichtbrille nach §
73 SGB XII vgl. Sozialgericht Detmold, Gerichtsbescheid vom 23.02.2009, S 10 (21) AS 99/07).
IV. Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Gewährung der Kosten für die Beschaffung einer Gleitsichtbrille als
unabweisbarer, laufender nicht nur einmaliger Mehrbedarf. Allerdings ergibt sich dies nicht aus der ihrem Wortlaut
nach einschlägigen Vorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II, denn diese trat erst am 03.06.2010 inkraft, sondern unmittelbar
aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 (BVerfG 1. Senat, Urteil vom 09.02.2010, 1
BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Unter Rdnrn. 205 ff. führt das BVerfG zu den Voraussetzungen der Gewährung
eines Mehrbedarfs in Härtefällen aus: "Die Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag ist grundsätzlich zulässig.
Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Regelungen
treffen. Dies gilt auch für Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Allerdings verlangt
Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme schützt, dass das
Existenzminimum in jedem Einzelfall sichergestellt wird. Der Hilfebedürftige, dem ein pauschaler Geldbetrag zur
Verfügung gestellt wird, kann über seine Verwendung im Einzelnen selbst bestimmen und einen gegenüber dem
statistisch ermittelten Durchschnittsbetrag höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in
einem anderen ausgleichen. Dies ist ihm auch zumutbar. Dass sich der Gesamtbetrag aus statistisch erfassten
Ausgaben in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zusammensetzt, bedeutet nicht,
dass jedem Hilfebedürftigen die einzelnen Ausgabenpositionen und -beträge stets uneingeschränkt zur Verfügung
stehen müssen. Es ist vielmehr dem Statistikmodell eigen, dass der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen vom
statistischen Durchschnittsfall abweichen kann. Die regelleistungsrelevanten Ausgabepositionen und -beträge sind
von vornherein als abstrakte Rechengrößen konzipiert, die nicht bei jedem Hilfebedürftigen exakt zutreffen müssen,
sondern erst in ihrer Summe ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten sollen. Wenn das
Statistikmodell entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben angewandt und der Pauschalbetrag insbesondere
so bestimmt worden ist, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen möglich ist, kann der
Hilfebedürftige in der Regel sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestalten, dass er mit dem Festbetrag
auskommt; vor allem hat er bei besonderem Bedarf zuerst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der
Regelleistung enthalten ist. Ein pauschaler Regelleistungsbetrag kann jedoch nach seiner Konzeption nur den
durchschnittlichen Bedarf decken. Der nach dem Statistikmodell ermittelte Festbetrag greift auf eine Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe zurück, die nur diejenigen Ausgaben widerspiegelt, die im statistischen Mittel von der
Referenzgruppe getätigt werden. Ein in Sonderfällen auftretender Bedarf nicht erfasster Art oder atypischen Umfangs
wird von der Statistik nicht aussagekräftig ausgewiesen. Auf ihn kann sich die Regelleistung folglich nicht erstrecken.
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebietet jedoch, auch einen unabweisbaren, laufenden, nicht
nur einmaligen, besonderen Bedarf zu decken, wenn dies im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum
erforderlich ist. Die Gesamtheit der Regelungen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch erlaubt allerdings in der Regel
auch die Deckung individuellen, besonderen Bedarfs. Sie ist jedoch hierzu nicht ausnahmslos im Stande. Zum Einen
erfassen die neben dem Festbetrag im Sozialgesetzbuch Zweites Buch vorgesehenen Leistungen nur begrenzte, nicht
aber alle vorkommenden Bedarfslagen, die ihrer Art nach in der Regelleistung nicht berücksichtigt sind. So betrifft §
21 SGB II lediglich bestimmte, abschließend aufgezählte Bedarfslagen. Durch die Gewährung eines Darlehens nach §
23 Abs. 1 SGB II wiederum können nur vorübergehende Spitzen besonderen Bedarfs aufgefangen werden. Zur
Deckung eines dauerhaften, besonderen Bedarfs ist die Gewährung eines Darlehens hingegen ungeeignet. Auch § 73
SGB XII bietet in der Auslegung, die er durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gefunden hat, keine
Gewähr, dass sämtliche atypischen Bedarfslagen berücksichtigt werden. Das Bundessozialgericht hat einen solchen
Bedarf, der die Anwendung des § 73 SGB XII rechtfertigt, bislang nur für Kosten angenommen, die einem
geschiedenen Elternteil zur Wahrnehmung seines Umgangsrechtes mit entfernt lebenden Kindern entstehen. Im
Übrigen ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob und in welchen Fällen zusätzliche Leistungen nach § 73
SGB XII in Betracht kommen können. Für einen atypischen Bedarf außerhalb der Regelleistung des § 20 SGB II und
der genannten zusätzlichen Hilfen enthält das Sozialgesetzbuch Zweites Buch also keinen Anspruch des
Hilfebedürftigen. Zum Anderen vermag die Regelleistung des § 20 SGB II nicht denjenigen besonderen, laufenden,
nicht nur einmaligen und unabweisbaren Bedarf zu erfassen, der zwar seiner Art nach berücksichtigt wird, dies jedoch
nur in durchschnittlicher Höhe. Tritt in Sondersituationen ein höherer, überdurchschnittlicher Bedarf auf, erweist sich
die Regelleistung als unzureichend. Auch hier können einmalige oder kurzfristige Spitzen im Bedarf durch ein
Darlehen nach § 23 Abs. 1 SGB II ausgeglichen werden. Bei einem längerfristigen, dauerhaften Bedarf ist das
indessen nicht mehr möglich. Deshalb bedarf es neben den in §§ 20 ff. SGB II vorgegebenen Leistungen noch eines
zusätzlichen Anspruchs auf Leistungen bei unabweisbarem, laufendem, nicht nur einmaligem und besonderem Bedarf
zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums. Er entsteht erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die
Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen - einschließlich der Leistungen Dritter und unter
Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen - das menschenwürdige Existenzminimum nicht
mehr gewährleistet."
Alle vom BVerfG genannten Voraussetzungen liegen im Falle des Klägers vor. Die vom BVerfG geforderte atypische
Bedarfslage erklärt sich aus der besonderen Lebenssituation des Klägers. Dieser kann das durch Art. 1 und 20 GG
garantierte Existenzminimum durch die von der Beklagten pauschaliert erbrachten Leistungen nach dem SGB II nicht
mehr sicherstellen. Der Kläger leidet seit seiner Jugend an insulinpflichtigem Diabetes mellitus. Hieraus resultieren
schwerwiegende weit fortgeschrittene Folgeerkrankungen. Seit Februar 2010 leidet der Kläger an einem diabetischen
Fußsyndrom, bei dem sich Geschwüre an beiden Füßen derart entzündet haben, dass eine Operation an einem Fuß
erforderlich wurde und die dabei entstandene Wunde nunmehr nur noch von hierauf spezialisierten Fachärzten
mehrfach wöchentlich ambulant behandelt werden kann. Allein hieraus entstehen dem Kläger monatliche Fahrtkosten,
die er allein nicht aufbringen kann. Die bisherige Behandlungsfrequenz reichte für eine ärztliche Verordnung und die
Übernahme durch die zuständige Krankenkasse nicht aus. Der Kläger kann Einkäufe aus gesundheitlichen Gründen
auch nur noch mit einem Taxi erledigen. Auch die hierfür aufzuwendenden Mittel kann er aus seiner Regelleistung
nicht selbst decken. Er kann also die Kosten für die Anschaffung einer Sehhilfe wegen des bereits überschießenden
erheblichen Bedarfs nicht ansparen oder einsparen. Bei ihrer Argumentation, der Kläger könne die Kosten für die
begehrte Anschaffung einer Gleitsichtbrille nicht als laufenden, sondern nur als einmaligen Bedarf geltend machen,
weil es sich bei der Gleitsichtbrille um einen Gebrauchsgegenstand und nicht um einen Verbrauchsgegenstand
handele, verkennt die Beklagte zweierlei: Zunächst einmal hat sich die Sehschärfe des Klägers seit dem 21.09.2008
aktenkundig kontinuierlich verschlechtert. Dies ergibt sich aus den von der Firma G ermittelten zur Gerichtsakte
gereichten Refraktionsdaten des Klägers. Messungen der Sehschärfe wurden am 21.09.2008, 29.02.2009,
17.09.2009, 10.02.2010, 16.02.2010, 23.06.2010, 02.08.2010 und 17.11.2010 durchgeführt. Diese bestätigen den
Vortrag des Klägers bezüglich seines Sehvermögens vollumfänglich. Die Angaben des Klägers, ohne Brille könne er
viele alltägliche Verrichtungen nicht mehr ausführen, er könne nur noch mit einer Lupe lesen sowie seine
Blutzuckerwerte nicht mehr korrekt ermitteln und die richtige Insulinmenge Spritzen, wird von dem Gutachter ebenfalls
bestätigt. Zur Begründung seiner Einschätzung gibt der Sachverständige an, der Kläger leide an einer
fortgeschrittenen diabetischen Retinopathie. Diese sei durch mehrere ausgedehnte Laserkoagulationen auf beiden
Augen behandelt worden. Vor der an beiden Augen des Klägers durchgeführten Operation des grauen Stars und der
Implantation von Kunstlinsen, habe eine Schalentrübung der Augenlinsen bestanden. Das Gesichtsfeld des Klägers
betrage noch 25 Grad. Die bei dem Kläger vorhandene Brille genüge für einfache Verrichtungen in der Nähe. Für
genaues sehen, insbesondere für das Spritzen von Insulin reiche die bisherige Brille jedoch nicht aus. Nach den
durchgeführten Augenoperationen betrage die Sehschärfe des Klägers nach Korrektur mit einer geeigneten Brille 40 %
auf dem rechten und 80 % auf dem linken Auge. Ohne Brille betrage der Visus des Klägers in der Ferne rechts 10 %
und links 40 %. Die Nahsehschärfe sei nicht genau zu bestimmen. Durch die Implantation der beiden Kunstlinsen
könnten sich die Augen des Klägers nicht mehr auf das Sehen in der Nähe, im mittleren Bereich und in der Ferne
einstellen. Sofern der Kläger keine Gleitsichtbrille erhalte, müsse er um scharf sehen zu können, deshalb zwischen
drei Brillen wechseln. Der Kläger ist alleinstehend. Ohne die zu beschaffende Sehhilfe kann er Verrichtungen in
seinem Haushalt, aber auch Erledigungen außerhalb seiner Wohnung nicht ausführen. Das Gericht hält es für
praktisch undurchführbar, mit drei verschiedenen Brillen Einkäufe zu tätigen. Dies liegt nicht - wie von der Beklagten
verkannt - daran, dass es dem Kläger unzumutbar wäre, zwischen drei Brillen zu wechseln, sondern dass ihm die
implantierten Kunstlinsen ohne Brille überhaupt nur ein Sehen in der Ferne ermöglichen. Zur Überzeugung der
Kammer wäre es dem Kläger mit drei verschiedenen Brillen zum Beispiel nicht möglich, ein Kraftfahrzeug zu
benutzen, um zu einem Supermarkt zu gelangen und sich dort zum Zwecke des Wareneinkaufs zu orientieren. Durch
die Implantation der Kunstlinsen sieht der Kläger mit einer der drei Brillen nämlich entweder nur in der Nähe, im
mittleren Bereich oder in der Ferne scharf. Er sieht also die jeweils anderen Bereiche nur sehr undeutlich oder unter
Umständen gar nicht. Aufgrund seines eingeschränkten Gesichtsfeldes von lediglich noch 25 Grad, mit dem der
Kläger nach Angaben des Gutachters wie durch eine Röhre schaut, ist es ihm darüber hinaus ohne die entsprechende
Sehhilfe nicht möglich, in einem für die Durchführung alltäglicher Verrichtungen zumutbaren Rahmen räumlich in
unterschiedlichen Entfernungen zu sehen. Vorliegend kann dahinstehen, ob sich der Kläger – wie von der Beklagten
erwogen – für das Ablesen seines Blutzuckerwertes und das Spritzen von Insulin auf verfügbare Blindenhilfsmittel,
deren Kosten von der Krankenkasse übernommen werden, verweisen lassen muss, denn er hat weiter vorgetragen,
dass er die Sehhilfe benötige, um Bewerbungen zu erstellen und in einem Mindestmaß am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben teilnehmen zu können. Auch dies wäre ihm durch die Verwendung dreier Brillen nach
Auffassung der Kammer nicht ausreichend möglich. Hinzukommt, dass die von der Beklagten behaupteten wesentlich
niedrigeren Kosten von lediglich 35,00 EUR für zwei Brillen nicht nachgewiesen wurden. Aufgrund der besonderen
Augenerkrankung des Klägers hält das Gericht diese auch für unrealistisch niedrig. Wegen des erheblich
eingeschränkten Kontrastsehens sowie des geringen Gesichtsfeldes des Klägers wären in jedem Fall Spezialbrillen
erforderlich, die mit erheblich höheren finanziellen Aufwand für ihn verbunden wären. Dies wird bereits an dem letzten
Kostenvoranschlag der Firma G vom 17.11.2010 deutlich, denn nach den durchgeführten Augenoperationen benötigt
der Kläger aufgrund der implantierten Kunstlinsen "superentspiegelte" Gläser. Aus der vom Kammervorsitzenden
eingeholten Auskunft der Firma G zur Verwendung superentspiegelter Gläser ergibt sich glaubhaft, dass das
Kontrastsehen bei nicht oder nicht ausreichend entspiegelten Gläsern jeweils erheblich reduziert wird. Dem Kläger
wurden aber gerade Kunstlinsen zur Verbesserung des Kontrastsehens auf beiden Augen implantiert, so dass sich die
Verwendung herkömmlicher Gläser wegen des ansonsten aufgehobenen Vorteils der durchgeführten medizinischen
Eingriffe verbietet. Darüber hinaus verkennt die Beklagte, dass der Bedarf des Klägers nicht notwendig
gegenstandsbezogen, sondern durchaus anlassbezogen zu betrachten ist. Die Beklagte stellt in ihrem
Ausgangsbescheid vom 22.02.2010 lediglich auf die von dem Kläger begehrte Sehhilfe ab und lehnt im übrigen einen
Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung ab, den der Kläger am 09.02.2010 überhaupt nicht beantragt hat. Über die
von ihm darüber hinaus beantragten Mehrbedarfe verhält sich der Ausgangsbescheid überhaupt nicht. Die Beklagte
hat hier also aus für das Gericht nicht nachvollziehbaren Gründen nur über einen Teilbedarf des Klägers entschieden.
Unabhängig davon, ob die anderen Bedarfe von dem Kläger zu Recht zu beanspruchen wären, ergibt sich aus seinem
Antrag bereits dessen Sichtweise: Er meint, dass es um die Entstehung eines Mehrbedarfs aufgrund seiner
Folgeerkrankungen, die aus dem bei ihm seit seiner Jugend vorliegenden Diabetes mellitus resultieren, geht. Aus dem
Antragschreiben des Klägers wird deutlich, dass dieser davon ausgeht, er könne sein Existenzminimum wegen des
aus vielerlei Gründen erhöhten Bedarfs nicht decken. Folgte man der Argumentation der Beklagten und betrachtete
den atypischen Bedarf des Klägers nach Gegenständen getrennt, so könnte es passieren, dass wenn jeder
Einzelposten nur einmal im Bewilligungszeitraum benötigt würde, überhaupt kein Mehrbedarf des Klägers im Sinne
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts entstünde. Dies wäre nach Auffassung des Gerichts mit der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht vereinbar. Der Gesetzgeber sollte veranlasst werden,
dafür Sorge zu tragen, dass in besonderen Härtefällen das Existenzminimum von Menschen, die regelmäßig mehr
Leistungen benötigen, als sich aus dem statistischen Mittel ergibt, im untersten Netz der sozialen Absicherung
ausreichend aufgefangen werden. Der besondere Einzelfall des Klägers macht deutlich, dass er auf Grund eines
konstant hohen atypischen Bedarfs bei wechselnder Bedarfslage unbedingt auf zusätzliche Leistungen der
Solidargemeinschaft angewiesen ist, um menschenwürdig leben zu können. Nach Ansicht der Kammer umfasst der
Sonderbedarf des Klägers sowohl die Kosten der Kunststoffgläser, als auch die Aufwendungen für die Fassung der
Gleitsichtbrille. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, die Fassung seiner letzten Brille sei beschädigt und unbrauchbar
geworden. Er benötige deshalb sowohl Brillengläser, als auch eine neue Brillenfassung. Die in dem
Kostenvoranschlag der Firma G genannte Brillenfassung ist von dem geltend gemachten Mehrbedarf mitumfasst,
denn sie stellt einen notwendigen Annex zu den in der Brille verwendeten Kunststoffgläsern dar, ohne den die Sehhilfe
für den Kläger keinen praktischen Nutzen hätte. Zwar lässt sich grundsätzlich auch vertreten, die Brillenfassung sei
aus dem vom Kläger eingereichten Kostenvoranschlag herauszurechnen und müsse von ihm selbst beschafft werden,
in dem hier zu entscheidenden besonderen Einzelfall erscheint dies jedoch ungerechtfertigt. Wie dem Gericht aus
vorangegangenen Klageverfahren bekannt ist, ist der Kläger mittellos und kann deshalb die für die Brillenfassung
anfallenden Kosten in Höhe von 39,50 EUR nicht aufbringen. Die Gewährung eines Darlehens scheidet ebenfalls aus,
denn der Kläger könnte das geliehene Geld auf absehbare Zeit nicht zurückzahlen. Der Mehrbedarf ist auch
unabweisbar, denn wie bereits dargestellt bestehen weder tatsächliche noch rechtliche Möglichkeiten, um die
beantragten Kosten der Sehhilfe zu senken.
Der Klage war somit vollumfänglich stattzugeben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Berufung war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache wegen der Besonderheit des Einzelfalles keine
grundsätzliche Bedeutung hat und das Urteil auch nicht von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des
Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht, § 144 Abs. 2 SGG.