Urteil des SozG Detmold vom 29.03.2006

SozG Detmold: lebensmittel, versorgung, arzneimittel, ärztliche behandlung, therapie, ernährung, krankenversicherung, verfügung, sozialstaatsprinzip, grundrecht

Sozialgericht Detmold, S 14 KR 45/05
Datum:
29.03.2006
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
14. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 14 KR 45/05
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.08.04 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.05 verurteilt, die Kosten
für die Versorgung der Klägerin mit den Spezialölen GTO/GTE -sog.
Lorenzos Öl- ab August 2004 zu übernehmen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des
Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand:
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Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung der Klägerin mit den Spezialölen Glycerol-
trioleat -GTE- und Glyceroltrierucat -GTE- (sog. Lorenzo s Öl) streitig.
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Die 1964 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin beklagte seit 1998
zunehmende Gangunsicherheit mit deutlicher Verschlechterung seit Mitte 2002. Im
Rahmen eines stationären Aufenthaltes im Klinikum M wurde nach serologischen
Untersuchungen die Diagnose einer X-chromosomalen Adrenoleukodystrophie (X-ALD)
gestellt. Es handelt sich dabei um eine genetisch bedingte
Fettsäurestoffwechselstörung, die bedingt, dass wegen Fehlens eines Transportproteins
besonders langkettige Fettsäuren sich im Körper anreichern und zu schwerwiegenden
endokrinologischen und neurologischen Schädigungen sowohl der peripheren Nerven
als auch des Rückenmarks, zum Teil auch des Gehirns führen. Ihrer Erkrankung wegen
stand die Klägerin u.a. vom 10. bis zum 15.08.2003 in Behandlung des Chefarztes der
Neurologischen Klinik des Sächsischen Krankenhauses I L, im Rahmen derer die
Klägerin mit spezifischen kurzkettigen, ungesättigten Fettsäuren (GTO und GTE im
Verhältnis 4:1 sog. Lorenzo s Öl) zur Normalisierung der langkettigen Fettsäurewerte
versorgt wurde.
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Dieser beantragte im August 2003 die Übernahme der Therapiekosten für die
Behandlung mit den Spezialölen und führte aus, die Verabreichung der Spezialöle
verhindere neben einer Basisdiät die Ansammlung der krankmachenden langkettigen
Fettsäuren; zwar seien die Erkenntnisse über die X-ALD noch jung, die in der Therapie
erwachsener Patienten gewonnenen Erkenntnisse sprächen jedoch deutlich für den
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Nutzen der Therapieform, als eine Stabilisierung der klinischen Symptomatik und im
Einzelfall Besserungen erreicht
bzw. bei noch symptomlosen Trägern das Auftreten der Erkrankung verzögert oder
verhindert werden könne; die Kosten beliefen sich monatlich, abhängig vom
Körpergewicht auf 600,- bis 1.000,- Euro.
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Nachdem hierzu der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Westfalen-
Lippe (sozialmedizinische Gutachten nach Aktenlage von Dr. T vom 01.04. und
28.07.2004) die Auffassung vertreten hatte, bei den Spezialölen handele es sich um
diätetische Lebensmittel, nämlich Ölgemische, welche im Rahmen eines diätetischen
Gesamtplanes Nahrungsfette als Nahrungsgrundbaustein im Rahmen einer
vollbilanzierten Diät ersetzen und soweit als solche von der Leistungspflicht
ausgeschlossen seien, da auch die geltenden Arzneimittelrichtlinien derartige
Ölgemische in seinen Regelungen über eine ausnahmsweise Versorgung nicht
erwähnten, lehnte die Beklagte am 03.08.2004 eine Kostenübernahme ab.
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Hiergegen erhob die Klägerin am 23.08.2004 Widerspruch, mit welchem sie geltend
machte, zur Behandlung ihrer Erkrankung ständen außer der Versorgung mit den
Spezialölen keine Alternativen zur Verfügung; die Therapie sei auch in ihrem Falle
erfolgreich, da sich die krankhaft erhöhten Fettsäuren normalisiert hätten. Entgegen der
Auffassung der Beklagten handele es sich bei dem Ölgemisch auch nicht um diätetische
Lebensmittel, sondern Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes, da es nicht im
Rahmen eines diätetischen Gesamtplanes Nahrungsbestandteile ersetzen solle,
sondern durch die spezielle Zusammensetzung langkettige Fettsäuren abbauen bzw.
das Entstehen langkettiger Fettsäuren verhindern solle. Dementsprechend habe auch
das Sozialgericht Marburg in einem Urteil vom 18.11.2003 eine Übernahme der Kosten
für die Behandlung mit dem Ölgemisch konstatiert. Widerspruchsunterstützend legte sie
im Übrigen ein befürwortendes Schreiben von Herrn L vom Sächsischen Krankenhaus I
vom 23.09.2004 nebst beigefügtem Vortrag über Diagnostik und Therapie der X-ALD im
Erwachsenenalter vor; dabei wies Herr L darauf hin, dass aufgrund der Seltenheit der
Erkrankung klinisch kontrollierte Studien zum Wirksamkeitsnachweis einer spezi-
fischen Therapie unmöglich seien, aus therapeutischer Sicht jedoch signifikante Korre-
lationen zwischen der Normalisierung überlangkettiger Fettsäuren und Therapie mit den
Spezialölen festzustellen seien, so dass die Behandlung mit diesen, welche weltweit in
spezialisierten Zentren durchgeführt werde, unumstritten seien; dabei hielt er eine
Versorgung der Klägerin in analoger Anwendung der Ausnahmeregelungen nach den
Arz-
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neimittelrichtlinien für möglich. Nachdem hierzu Dr. X, MDK Westfalen-Lippe, in einem
sozialmedizinischen Gutachten nach Aktenlage (vom 12.10.2004) ausgeführt hatte,
ohne Zweifel handele es sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine schwere, für
welche Behandlungsalternativen nicht zur Verfügung ständen, jedoch sei, da das
Ölgemisch wesentlicher Bestandteil täglicher Ernährung im Rahmen eines Diätplanes
darstelle, ein diätetisches Präparat, wies die Beklagte den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 13.04.2005 zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 21.04.2005 erhobene Klage, mit welcher die Klägerin ihr
Begehren weiter verfolgt. Sie vertritt die Auffassung, entsprechend den
Rechtsausführungen des Sozialgerichts Marburg handele es sich bei dem Ölgemisch
um ein Arzneimittel; unabhängig davon sei, sollte das Ölgemisch als Lebensmittel zu
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qualifizieren sein, eine Leistungspflicht der Beklagten gegeben, da für diesen Fall die
Arzneimittelrichtlinien eine planwidrige Regelungslücke aufwiesen, welche
verfassungskonform auszufüllen sei. Dementsprechend habe auch das Sozialgericht
Aurich in einem weiteren Urteil vom 08.02.2005 eine Leistungspflicht der
Krankenkassen ausgesprochen.
Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.08.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.04.2005 zu verurteilen, die Kosten für die Versorgung
mit den Spezialölen GTO/GTE – sog. Lorenzo s Öl – ab August 2004 zu übernehmen.
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Die Beklagte, welche zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 29.03.2006, zu
welchem Sie unter dem Hinweis, dass auch im Falle ihrer Abwesenheit entschieden
werden könne, ausblieb hat in ihren vorbereitenden Schriftsätzen beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie sieht eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für das
nachgesuchte Ölgemisch nicht gegeben und verweist dabei auf Urteile des
Landessozialgerichts Berlin vom 19.01.2005 (Az.: L 9 KR 98/02) und des Thüringer
Landessozialgerichts vom
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27.09.2004 (Az.: L 6 KR 883/02); handele es sich bei den Ölen um Arzneimittel, sei eine
Leistungspflicht, da sie dann als Fertigarzneimittel zu qualifizieren seien, nicht gegeben,
weil bereits eine arzneimittelrechtliche Zulassung fehle; im anderen Falle könnten unter
Berücksichtigung der geltenden Arzneimittelrichtlinien die Öle auch nicht
ausnahmsweise in die Versorgung als den Arzneimitteln gleichgestellte
Ernährungskomponenten einbezogen werden. Antragsunterstützend verweist sie im
Übrigen auf eine Abhandlung des Fachreferates Arzneimittel des MDK Westfalen-Lippe
vom Mai 2004 und vertritt die Auffassung, es fehlten auch aussagekräftige und
nachvollziehbare Erkenntnisse hinsichtlich der Wirksamkeit der Behandlung der X-ALD
mit den Ölgemischen, deren Unbedenklichkeit und des therapeutischen Nutzens. Hierzu
verweist die Klägerin auf eine entgegnende kritische Abhandlung von Herrn L vom
Februar 2005.
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Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren
Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der
Beklagten verwiesen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Kosten für ihre
Behandlung mit Lorenzo s Öl bzw. Erstattung der ihr nach Ablehnung der Versorgung
durch die Beklagte durch die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten gemäß § 13 Abs.
3 des 5. Sozialgesetzbuches -SGB V-, da die Beklagte es mit dem angefochtenen
Bescheid vom 03.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2005
zu Unrecht abgelehnt hat, ihr die nachgesuchten Spezialöle GTO/GTE als Sachleistung
zur Verfügung zu stellen.
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Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V erstreckt sich der Anspruch auf
Krankenbehandlung auch auf die Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln. Gemäß § 31
Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit
apothekenpflichtigen Arznei-mitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder
durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Der Begriff
des Arzneimittels wird im SGB V selbst nicht erläutert. Nach der Definition des
Arzneimittelgesetzes (AMG) sind darunter Substanzen zu verstehen, deren
bestimmungsmäßige Wirkung darin liegt,
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Krankheitszustände zu erkennen, zu heilen, zu bessern, zu lindern oder zu verhüten (§ 2
Abs. 1 AMG). Nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 AMG sind Lebensmittel im Sinne des § 1 des
Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes (LMBG) keine Arzneimittel.
Lebensmittel sind nach § 1 Abs. 1 LMBG Stoffe, die dazu bestimmt sind, in
unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu
werden. Nach den ineinander-greifenden Vorschriften des § 2 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 AMG
und § 1 Abs. 1 LMBG kann ein Erzeugnis nicht gleichzeitig Arznei- und Lebensmittel
sein. Die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel oder Lebensmittel orienitiert sich
an objektiven Merkmalen der über-wiegenden Zweckbestimmung, wie diese sich für
einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verwender dieser
Mittel darstellt und wie sie der pharmazeutischen und medizinischen Wissenschaft
entspricht.
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In diesem Sinne sind die in Lorenzo s Öl enthaltenen ungesättigten Fettsäuren als
Lebensmittel zu qualifizieren. Sie dienen in erster Linie der Ernährung und sind gerade
nicht dazu bestimmt, durch ihre Anwendung am oder im menschlichen Körper
Funktionen des Körpers zu beeinflussen. Ihre durch den vorrangigen
Verwendungszweck begründete Eigenschaft als Lebensmittel verlieren sie auch nicht
dadurch, dass sie speziell zur Einnahme in erhöhter Dosierung durch X-ALD-Patienten
hergestellt werden, vielmehr ergibt sich ihre Funktion gerade daraus, dass sie
lebenswichtige Fettsäuren dem Körper zuführen, der die sonst in der Ernährung
verwendeten Fettsäuren nicht aufnehmen und verarbeiten kann. Dementsprechend wird
Lorenzo s Öl auch von der Herstellerfirma als Nahrungsergänzungsmittel vertrieben. Für
eine derartige Qualifikation spricht des weiteren auch der Umstand, dass die
zuständigen Aufsichtsbehörden gegen den Vertrieb der Öle trotz fehlender
arzneimittelrechterlicher Zulassung nicht eingeschritten sind; einer solchen Zulassung
hätte es arzneimittelrechtlich bedurft, weil es sich bei den Ölen um Fertigarzneimittel
handeln würde, was das Landessozialgericht Berlin in seinem Urteil vom 19.01.2005
zutreffend ausgeführt hat. Auch Herr L als verordnender Arzt sieht insoweit Lorenzo s Öl
als diätetisches Lebensmittel im Sinne des § 1 Abs. 1 der Diätverordnung (DiätV) an,
wonach diätetische Lebensmittel solche Lebensmittel sind, die für eine besondere
Ernährung bestimmt sind; nach § 1 Abs. 4 DiätV sind diätetische Lebensmittel für
besondere medizinische Zwecke hergestellte Erzeugnisse, die auf be-sondere Weise
verarbeitet und für die diätetische Behandlung von Patienten bestimmt sind; sie dienen
der ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten mit eingeschränkter,
behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorbtion, Verstoff-
wechselung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel.
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Als Lebensmittel wäre Lorenzo s Öl grundsätzlich von der Versorgung ausgeschlossen.
Ausnahmen vom Ausschluss der Lebensmittel sieht § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V vor,
welches bestimmte Lebensmittel als den Arzneimitteln gleichgestellte
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Ernäherungskompo-nenten ansieht. Nach dieser Bestimmung hat der Gemeinsame
Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V festzulegen, in
welchen medizinisch notwendigen Fällen Aminosäuremischungen, Eiweißhidrolysate,
Elementardiäten und Sondennahrung ausnahmsweise in die Versorgung mit
Arzneimitteln einbezogen werden kann; bei den hier streitgegenständlichen Ölen
handelt es sich weder um Aminosäuremischungen noch um Eiweißhidrolysate; die
Klägerin erhält auch keine Nahrungszufuhr durch Verwendung einer Sonde noch stellen
die Öle Elementardiäten, welche nach Nr. 20.1 i der Arzneimittelrichtlinien (AMR)
Gemische von Nahrungsgrundbausteinen, Vitaminen und Spurenelementen sind, dar.
Es gebietet sich jedoch eine entsprechende Anwendung des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V,
da nach Auffassung des Gerichts eine planwidrige Regelungslücke vorliegt, die durch
entsprechende Anwendung in verfassungskonformer Auslegung aufzufüllen ist. Zur
Notwendigkeit derartiger (verfassungskonformer) Auslegung der
krankenversicherungsrechtlichen Regelungen hat insoweit das
Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 06.12.2005 (Az.: 1 BvR 347/98),
bezogen auf eine nicht durch den Bundesausschuss anerkannte neue Untersuchungs-
und Behandlungsmethode (§§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, 135 Abs. 1 SGB V) Folgendes
grundsätzlich ausgeführt:
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-Vorrangiger Prüfungsmaßstab für die Auslegung leistungsrechtlicher Vorschriften des
Krankenversicherungsrechts ist Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem
grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip.
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-.Das Grundrecht aus Artikel 2 Abs. 1 GG schützt den beitragspflichtigen Versicherten,
welcher keinen Einfluss auf Höhe seines Beitrages und auf Art und Ausmaß der ihm im
Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistungen hat, dessen Rechte und Pflichten
vielmehr einseitig durch Gesetz und die hierauf beruhenen Rechtsakte gestaltet werden,
vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung; hieraus lässt sich in der
gesetzlichen Krankenversicherung zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf
bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten, jedoch sind gesetzliche oder
auf Gesetze beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin
zu überprüfen, ob sie im Rahmen des Artikel 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind.
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-Aus dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip folgt, dass der Schutz des Einzelnen in
Fällen von Krankheit in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine
Grundaufgabe des Staates ist. Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen
Krankenversicherung hat sich an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu
orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Artikel 2 Abs. 2 Satz 1
GG zu stellen.
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Hieraus folgt, dass behördliche und auch gerichtliche Verfahren der im Grundrecht auf
Leben enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidungen des Grundgesetzes
gerecht werden müssen und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen
Vorschriften des Krankenversicherungsrechts zu berücksichtigen sind; die Grundrechte
gebieten insoweit eine grundrechtsorientierte Auslegung der maßgeblichen Vorschriften
des Krankenversicherungsrechts, insbesondere in Fällen der Behandlung einer
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, da das Leben einen
Höchstwert inner-halb der grundgesetzlichen Ordnung darstellt.
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Hieraus folgend hat das Bundesverfassungsgericht es für mit Artikel 2 GG i.V.m. dem
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grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar gesehen, den Versicherten,
welcher an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für
welche anerkannte Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer
bestimmten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn diese eine auf Indizien
gestütze, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine
spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, jedenfalls nach gewissenhafter
fachlicher Einschätzung des ärztlichen Anwenders, verspricht. Hierzu hat das
Bundessozialgericht (BSG) im Rahmen des an ihn vom Bundesverfassungsgericht
zurückverwiesenen Streitfalles und dessen vergleichsweise Erledigung am 27.03.2006
darauf hingewiesen, dass, je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die
Situation sei, desto geringer die Anforderungen an die ernsthaften Hinweise auf einen
nicht ganz entfernt liegenden Behandlungserfolg seien, wobei es zuletzt die vom
Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zum Anspruch von Versicherten auf
ärztliche Behandlung auch auf den Bereich der Arzneimittelversorgung übertrug, soweit
ausfüllungsbedürftige Versorgungslücken bestünden (Urteil vom 04.04.2006 -B 1 KR
7/05 R-).
Ausgehend hiervon war § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V auch auf die Versorgung der Klägerin
mit nachgesuchten Spezialölen anzuwenden. Es handelt sich unzweifelhaft bei der X-
ALD um eine lebensbedrohliche Erkrankung, hinsichtlich derer eine
Behandlungsalternative
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nicht zur Verfügung steht. Die von Herrn L vorgenommene Behandlung bietet dies
bezüglich ernsthafte Hinweise auf eine spürbar positive Entwicklung auf den
Krankheitsverlauf im Einzelfall; derartig ernsthafte Hinweise können sich dabei ergeben
aus be-stimmten Vergleichen der Versicherten mit vergleichbar erkrankten Patienten,
Erfahrun-gen bei einer längeren Behandlung, fachliche Einschätzung durch die Ärzte
der Er-krankten sowie der wissenschaftlichen Diskussion. Hinsichtlich der
therapeutischen Wirk-samkeit der nachgesuchten Spezialöle im vorliegenden Fall folgt
aus seinen Darlegungen deren Versorgungsfähigkeit. Aufgrund der langjährigen
praktischen Erfahrung dieses Arztes mit Behandlung einer Vielzahl gleicherkrankter
Patienten kommt seiner Einschätzung besondere Bedeutung zu; angesichts der
Seltenheit der Erkrankung und deren Schwere ist eine wissenschaftlich gesicherte, auf
der Grundlage klinischer oder sonstiger Studien gegründete Evidenz eines
Anwendungserfolges, nicht erforderlich, vielmehr ist, was auch das
Bundesverfassungsgericht konstatiert, maßgebend die Einschätzung des behandelnden
Arztes hinsichtlich eines positiv zugunsten des Versicherten zu beein-flussenden
Krankheitsverlaufs. In diesem Sinne hat Herr L, zuletzt in seiner kritischen
Stellungnahme vom Februar 2005 zum Gutachten des Fachreferates Arzneimittel im
MDK Westfalen-Lippe vom Mai 2004 dargelegt, dass, jedenfalls -wie auch vorliegend-
bei nicht cerebralen Formen der X-ALD-Erkrankung die von ihm gewonnenen Therapie-
ergebnisse eindeutig auf eine günstige, verlaufsbeeinflussende Wirkung der Lorenzo-
Öl-Therapie hinweisen, insoweit bei sachgerechter Anwendung sich erhöhte
überlangkettige Fettsäuren im Serum der Erkrankten normalisieren und, auch über
einen längeren Unter-suchungszeitraum, chronische Nervenzellschädigungen
verhindert werden. Allein die Aussage des Behandlers, bei langjähriger Anwendung
über mehr als 10 Jahre bei fehlenden schwerwiegenden Nebenwirkungen bestehe eine
Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Behandlung mit den nachgesuchten Spezialölen die
Krankheitsprogeression verzögere, konnte keine andere Entscheidung als die
Vorliegende rechtfertigen. Dabei konnte im Rahmen der verfassungskonformen
Auslegung des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V die zugrundeliegende Erkrankung auch im
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Wesentlichen vergleichbar den von genannter Be-stimmung erfassten angeborenen
Enzymmangelerkrankungen, bei welchen der Gesetz-geber bzw. der Gemeinsame
Bundesausschuss die Kostenübernahme für Aminosäuremischungen und
Eiweißhidrolysaten nicht zuletzt im Hinblick auf die mit dieser speziellen Ernährung
verbundenen beträchtlichen Kosten vorgesehen hat, gleichgesetzt werden. Wie Herr L
in seiner kritischen Stellungnahme ausgeführt hat, liegt bei X-ALD fak-tisch ein
Enzymmangel vor, welcher zu einer pathologsichen Anhäufung überlangkettiger
Fettsäuren führt; das MDK-Gutachten des Fachreferats Arzneimittel widerspricht dem
nicht, insoweit es das Krankheitsbild der X-ALD zumindest als möglich, wenn nicht
wahr-scheinlich bestimmt durch einen angeborenen Enzymmangel ansieht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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