Urteil des SozG Darmstadt vom 27.12.2010

SozG Darmstadt: psychiatrische behandlung, krankengeld, verfügung, arbeitsunfähigkeit, ärztliche behandlung, klagerücknahme, akteneinsicht, hessen, klagebegehren, rechtsschutzinteresse

Sozialgericht Darmstadt
Gerichtsbescheid vom 27.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 13 KR 199/10
Hessisches Landessozialgericht L 1 KR 27/11
Es wird festgestellt, dass die am 2. Dezember 2009 erhobene Klage zurückgenommen ist.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in materiell-rechtlicher Hinsicht um die Zahlung von Krankengeld, prozessual ist die Frage
einer fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) streiterheblich.
Der durch einen Fachanwalt für Sozialrecht vertretene Kläger war in der Zeit vom 8. September 2008 bis zum 25.
November 2008 arbeitsunfähig erkrankt und bezog in der Zeit ab 20. Oktober 2008 Krankengeld durch die Beklagte.
Die Beklagte veranlasste eine sozialmedizinische Untersuchung des Klägers durch den MDK Hessen. Die dortige
Untersuchung fand am 25. November 2008 statt. Im Gutachten vom 27. November 2008 kam Dr. S. zu der
Einschätzung, dass der Kläger aus medizinischer Sicht nicht weiter arbeitsunfähig sei. Er sei prinzipiell in der Lage,
einer leichten Tätigkeit mit qualitativen Einschränkungen vollschichtig nachzugehen.
Mit Schreiben vom 25. November 2008 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Arbeitsunfähigkeit ende am 25.
November 2008. Nachdem der Kläger eine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 28. November 2008 durch
die Gemeinschaftspraxis Dr. B. vorgelegt hatte, aus der sich ergab, dass eine psychiatrische Behandlung veranlasst
sei, teilte die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 1. Dezember 2008 mit, dass die Krankengeldzahlung zum 25.
November 2008 ende.
Dagegen legte der Kläger am 30. Dezember 2008 Widerspruch ein, welchen die Beklagte nach Einholung eines
weiteren sozialmedizinischen Gutachtens nach Aktenlage durch den MDK Hessen (Dr. G.) vom 9. April 2009 mit
Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2009 zurückwies.
Dagegen hat der Kläger am 2. Dezember 2009 Klage bei dem Sozialgericht Darmstadt erhoben.
Die Kammer hat dem Kläger mit Verfügung vom 21. Januar 2010 Akteneinsicht gewährt, Frist zur Klagebegründung
und Antragstellung bis 5. März 2010 gesetzt und zugleich angefragt, für welchen Zeitraum der Kläger Krankengeld
begehre. Nachdem der Kläger Akteneinsicht genommen hatte, hat er durch seinen Prozessbevollmächtigten mit
Schriftsatz vom 5. März 2010 mitgeteilt, es entziehe sich der Kenntnis seines Prozessbevollmächtigten, für welchen
weiteren Zeitraum Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen des behandelnden Arztes für den Kläger vorliegen würden.
Diese seien auch nicht in der übersandten Leistungsakte der Beklagten zu ersehen. Sobald hierzu Kenntnisse
vorhanden seien, könne der Verpflichtungsantrag mit einem Endzeitpunkt benannt werden.
Mit Verfügung vom 8. März 2010, die mit vollständiger Unterschrift durch den Kammervorsitzenden gezeichnet ist und
die in beglaubigter Form dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 10. März 2010 mittels Empfangsbekenntnis
zugestellt worden ist, hat der Kammervorsitzende folgendes Schreiben an den Prozessbevollmächtigten des Klägers
gerichtet: "Ich weise auf die Vorschrift des § 102 Abs. 2 SGG hin. Danach gilt die Klage als zurückgenommen, wenn
der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Sie haben auf die
Verfügung des Gerichts vom 21. Januar 2010, einen Antrag zu stellen, worin der begehrte Zeitraum für das
Krankengeld zeitlich erfasst wird, trotz Fristsetzung nicht adäquat reagiert. Es steht immer noch nicht fest, welches
Klagebegehren konkret verfolgt wird. Sachermittlungen einzuleiten, ist nicht opportun. Ich fordere Sie auf, die o.g.
Verfügung umgehend zu erledigen."
Mit Verfügung vom 11. Juni 2010 ist dem Kläger mitgeteilt worden, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als
zurückgenommen gelte, da er das Verfahren trotz gerichtlicher Aufforderung nicht fristgerecht betrieben habe.
Dagegen hat sich der Kläger am 16. Juni 2010 gewandt und Fortsetzung des Klageverfahrens begehrt. Es sei nicht zu
ersehen, welchen konkreten Antrag er hätte stellen sollen. Er habe bereits mit Schriftsatz vom 5. März 2010
klargestellt, dass aus der Akte nicht ersichtlich sei, für welchen weiteren Zeitraum Bescheinigungen über die
Arbeitsunfähigkeit vorlägen, so dass ein konkreter Zeitpunkt für die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit nicht hätte benannt
werden können. Das Instrument des § 102 Abs. 2 SGG sei ungeeignet, wenn weitere Unterlagen eingefordert und
diese nicht vorgelegt würden. Der Grundsatz der Amtsermittlung hätte geboten, bei der Beklagten anzufragen, ob und
für welchen Zeitraum Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlägen, da dies aus der übersandten Verwaltungsakte nicht
zu ersehen gewesen sei. Sofern vom Prozessbevollmächtigten des Klägers vorliegende
Arbeitsunfähigkeitsmeldungen übersehen worden sein sollten, hätte es diesbezüglich eines Hinweises bedurft. Aus
den vorliegenden Schreiben des Klägers und dem Schriftverkehr im Widerspruchsverfahren habe sich ergeben,
welches Klageziel der Kläger verfolgt habe. Mit Schriftsatz vom 20. September 2010 hat der Kläger vorgetragen, es
gehe ihm um Krankengeld für den Zeitraum vom 25. November 2008 bis 31. August 2009.
Der Kläger beantragt, die Bescheide der Beklagten vom 25. November 2008 und 1. Dezember 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Krankengeld in
gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 25. November 2008 bis 31. August 2009 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Mit Verfügung vom 1. Juli 2010 hat die Kammer den Beteiligten mitgeteilt, es sei beabsichtigt, den Rechtsstreit durch
Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG zu entscheiden. Mit Verfügung vom 28. Oktober 2010 hat die Kammer den
Beteiligten mitgeteilt, es bleibe bei der entsprechenden Absicht. Mit Schriftsatz vom 11. November 2010 hat der
Kläger mitgeteilt, er sei mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die
Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG
entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der
Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind zuvor gehört worden. Der Kläger hat sich mit einer Entscheidung durch
Gerichtsbescheid ausdrücklich einverstanden erklärt.
Es war festzustellen, dass das Klageverfahren durch fiktive Klagerücknahme seine Beendigung gefunden hat.
Nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung
des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Dabei ist der Kläger gemäß § 102 Abs. 2 S. 3 SGG auf die sich
ergebenden Rechtsfolgen zuvor hinzuweisen.
Die Fiktion einer Klagerücknahme ist für die Fälle eingeführt worden, in denen Anhaltspunkte für ein Desinteresse des
Klägers an der Fortführung des Rechtsstreits bestehen. Danach liegt ein Nichtbetreiben vor, wenn der Kläger sich
überhaupt nicht oder nur unzureichend innerhalb von drei Monaten äußert, so dass nicht oder nur unzureichend
dargelegt ist, dass ein Rechtsschutzbedürfnis im konkreten Fall ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbesteht.
Diese Indizwirkung kann der Kläger dadurch widerlegen, wenn er binnen der dreimonatigen Frist substantiiert darlegt,
dass und warum das Rechtsschutzinteresse trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die
Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist. Dabei muss sich die Betreibensaufforderung hinreichend
konkret auf bestimmte verfahrensfördernde Handlungen beziehen, die der Kläger vorzunehmen hat. Zum Zeitpunkt
des Erlasses der Betreibensaufforderung müssen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des
Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben. Eine Verletzung der sich aus § 103 SGG ergebenden
prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers kann solche Anhaltspunkte liefern und tut dies in der Regel dann,
wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hat. Allerdings muss sich daraus auch der Schluss auf den Wegfall des
Rechtsschutzinteresses an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen können. Denn die Vorschrift
des § 102 Abs. 2 SGG stellt kein Hilfsmittel zur "bequemen Erledigung lästiger Verfahren" oder zur vorsorglichen
Sanktionierung prozessleitende Verfügungen dar (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010, L 5 AS 217/10
mwN).
Vorliegend hat das Gericht dem Kläger mit Verfügung vom 8. März 2010 mitgeteilt, woraus es seine Zweifel am
Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses zieht. Bereits mit Verfügung vom 21. Januar 2010 hatte die Kammer den
Kläger aufgefordert mitzuteilen, für welchen Zeitraum Krankengeld begehrt wird. Nachdem der Kläger dieser Verfügung
in seinem Schriftsatz vom 5. März 2010 in keiner Weise nachgekommen ist, hat die Kammer ihn darauf hingewiesen,
dass sinnvolle Sachermittlungen ohne eine solche Klärung des Begehrens, für welchen Zeitraum Krankengeld verlangt
wird, nicht sinnvoll sind. Diese Verfügung des Gerichts vom 8. März 2010 ist dem Kläger am 10. März 2010 zugestellt
worden. Darauf hat er sich über einen Zeitraum von drei Monaten nicht geäußert.
Der Kläger begehrt Zahlung von Krankengeld im Sinne einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§
54 Abs. 1 und 4 SGG. Für die Einleitung etwaiger Sachermittlungen ist es notwendig, dass der Kläger mitteilt, für
welchen Zeitraum er Krankengeld begehrt. Denn nur dann können sich Sachermittlungen anschließen etwa dergestalt,
dass geprüft wird, ob Ärzte bei dem Kläger diese Arbeitsunfähigkeit in dieser Zeit festgestellt haben und ob
tatsächlich auch Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Der Kläger kann sich insoweit auch nicht auf mangelnde Kenntnis seines
Prozessbevollmächtigten berufen. Denn er ist verpflichtet, seinem Rechtsanwalt die erforderlichen Informationen zu
liefern. Dies ist dem Kläger auch ohne weiteres möglich. Denn er befand oder befindet sich in ärztlicher Behandlung
und er kann am Besten sagen, ob er krank bzw. arbeitsunfähig war oder aktuell ist und ob bzw. inwieweit ihn die
behandelnden Ärzte für arbeitsunfähig halten. Vorliegend wusste der Kläger aufgrund der von ihm genommenen
Akteneinsicht, dass sich aus der Verwaltungsakte nicht hinreichend ergab, für welche Zeiträume Arbeitsunfähigkeit
vorlag. Dort war allein eine weitere Arbeitsunfähigkeitsfeststellung enthalten, die bis zum 14. Dezember 2008 befristet
war. Daraus ergab sich jedoch auch, dass eine psychiatrische Behandlung veranlasst worden war. Daher war davon
auszugehen, dass die Arbeitsunfähigkeit zum 14. Dezember 2008 womöglich noch nicht beendet war. Allerdings war
nicht erkennbar, von welchen Ärzten die psychiatrische Behandlung aufgenommen worden war. Aufgrund des mit 20.
September 2010 gestellten Antrags ist nunmehr von dem Kläger in der Sache eingeräumt worden, dass zum Zeitpunkt
der Klageerhebung die Arbeitsunfähigkeit bereits beendet war. Es bestand daher zu keinem Zeitpunkt eine
Schwierigkeit oder gar eine Unmöglichkeit, insoweit sachgerecht vorzutragen.
Auch ein Missverständnis schließt die Kammer aus. Der Kläger wird von einem Fachanwalt für Sozialrecht vertreten.
Einem solchen Fachanwalt ist geläufig, welche prozessualen Wirkungen eine fiktive Klagerücknahme gemäß § 102
Abs. 2 SGG hat. Außerdem ist einem solchen Fachanwalt geläufig, worin die Unterschiede zwischen einer - nicht
erfolgten - Anforderung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und der Anfrage, für welchen Zeitraum Krankengeld
begehrt wird, liegen.
Zwar ist das Gericht gemäß § 123 SGG nicht an Anträge gebunden, sondern an das Klagebegehren. Deshalb muss
ein unbestimmter Antrag so ausgelegt werden, dass der Kläger im Zweifel alles zugesprochen haben möchte, was
ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht. Allein aus dem Vortrag des Klägers und der Verwaltungsakte der Beklagten
ist insoweit ein schlüssiger Anspruch des Klägers nicht erkennbar.
Von dem Kläger ist insoweit auch nicht verlangt worden, was ihm nicht ohnehin bekannt ist. Denn er allein hat sich in
ärztliche Behandlung begeben. Er weiß daher genau, in welcher Zeit er krank und arbeitsunfähig gewesen ist und in
welchem Zeitraum die ihn behandelnden Ärzte entsprechende Feststellungen gemacht haben.
Zwar hat das Gericht aufgrund der Untersuchungsmaxime nach § 103 SGG den Sachverhalt zu erforschen. Diese
Ermittlungspflicht wird aber durch die Mitwirkungspflichten der Beteiligten eingeschränkt. Der
Amtsermittlungsgrundsatz normiert keine allgemeine Prüfungspflicht. Insbesondere ergibt sich daraus keine
Verpflichtung der Gerichte, ohne konkrete Anhaltspunkte quasi "ins Blaue" hinein Ermittlungen anzustellen. Eine
Überprüfung ist nur insoweit erforderlich, als substantiierte Einwände erhoben worden sind.
Die Kammer hat den Kläger auch konkret aufgefordert, sich in Bezug auf den Zeitraum zu äußern, für den
Krankengeld gefordert würde. Dabei hätte es die Kammer ohne weiteres ausreichen lassen, im Rahmen etwaiger
Sachermittlungen zu prüfen, auch für die begehrten Zeiträume auch tatsächlich Bescheinigungen durch Ärzte über die
Arbeitsunfähigkeit vorliegen würden. Allerdings kann ein Gericht ohne Mitwirkung des Klägers insoweit keine
zielgerichteten Ermittlungen aufnehmen. Der Kläger hat im Rahmen der ihm gesetzten Frist keinerlei Vortrag gehalten,
warum es ihm selbst nicht möglich gewesen sein soll, sein Begehren in zeitlicher Hinsicht zu umschreiben. Er hat
einfach nicht reagiert und somit für die Kammer eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass ihn der weitere Verlauf des
Rechtsstreits nicht interessiert. Ein Rechtsschutzinteresse war daher nicht mehr zu erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.