Urteil des SozG Darmstadt vom 03.12.2009

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Sozialgericht Darmstadt
Urteil vom 03.12.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 18 KR 42/09
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 10,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 13.1.2009 zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Vergütung der Gebühr Nr. 230 des Leistungsverzeichnisses der
Hebammenvergütungsvereinbarung (Beratung mittels Kommunikationsmedium) innerhalb der ersten 10 Tage nach der
Geburt.
Die Klägerin ist Hebamme und betreute unter anderem die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte K., die am
14.11.2008 Mutter wurde. Am 19.11.2008 verließ die Versicherte mit ihrem Kind das Krankenhaus und verbrachte den
ersten Tag zuhause. Dort führte die Klägerin einen Hausbesuch durch und stellte der Beklagten hierfür einen Betrag in
Höhe von 26,52 EUR nach Gebührennummer 180 des Vergütungsverzeichnisses zuzüglich eine Zuschlags für den
ersten Besuch nach der Geburt in Höhe von 5,71 EUR (Gebühr Nr. 190) in Rechnung. Nach dem Hausbesuch zeigte
sich eine Trinkschwäche, die das Abpumpen von Muttermilch erforderlich machte. In diesem Zusammenhang hatte
die Versicherte Fragen an die Hebamme und rief im Laufe des Abends zweimal bei ihr an. Für diese Telefonat machte
die Klägerin eine Vergütung von je 5,10 EUR nach der Gebühr Nr. 230 gegenüber der Beklagten geltend.
Die Rechnung übersandte die Klägerin am 18.12.2008 an die Rechnungsprüfstelle der Beklagten. Mit Schreiben vom
16.1.2009 teilte die Beklagte der Klägerin, dass die Gebühr Nr. 230 (Beratung mittels Kommunikationsmedium) in den
ersten 10 Tagen nach der Geburt nicht abrechenbar sei. Dies gelte jedenfalls dann, wenn am selben Tag bereits ein
Hausbesuch stattgefunden habe. Aus Kulanz werde in entsprechender Anwendung der Vorgängervorschrift eine
Ausnahme gemacht, wenn die telefonische Beratung einen Hausbesuch ersetze.
Mit ihrer am 18.2.2009 erhobenen Klage macht die Klägerin 10,20 EUR für die telefonische Beratung geltend.
Die Klägerin meint, die frühere Regelung, nach der eine telefonische Beratung nur zu vergüten war, wenn am selben
Tag kein Hausbesuch stattgefunden habe, sei von den Vertragsparteien bewusst nicht in die aktuelle Vereinbarung
übernommen worden. Nach der "Allgemeinen Bestimmung" a) des Abschnitts C. des Leistungsverzeichnisses sei die
Abrechenbarkeit der Gebühr Nr. 230 nicht beschränkt. Leistungsbeschränkungen für die ersten 10 Tage nach der
Geburt seien in der Bestimmung b) geregelt. In dem dortigen Katalog der beschränkten Leistungen sei die Nr. 230
aber nicht aufgenommen worden. Die dortige Beschränkung beziehe sich nur auf die Gebühren Nr. 180 (Hausbesuch),
200 (Besuch in einem Krankenhaus) und 210 (Besuch in einer von einer Hebamme geleiteten Einrichtung). Der Sinn
und Zweck der unbeschränkten Abrechenbarkeit der Gebühr Nr. 230 liege darin, dass dem erhöhten Beratungsbedarf
der Eltern innerhalb der ersten 10 Tage nach der Geburt Rechnung getragen werden solle. Sie sollen die Hebamme
auch "wegen jeder Kleinigkeit" anrufen dürfen.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 10,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.1.2009 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, aus der "Allgemeinen Bestimmung" b) des Abschnitts C. des Leistungsverzeichnisses ergebe
sich, dass die Gebühr Nr. 230 in den ersten 10 Tagen nach der Geburt generell nicht abrechenbar sei. Die Gebühr sei
dort nicht aufgeführt. Es fehle dementsprechend an einer Anspruchsgrundlage. Diese Auslegung werde durch einen
Vergleich mit der Vorgängervorschrift gestützt, in der die Nr. 230 – unter Einschränkungen – noch genannt gewesen
sei. Der Sinn und Zweck der Nichtabrechenbarkeit liege im Schutz der Versicherten. Es solle kein Anreiz geschaffen
werden, in den ersten 10 Tagen nach der Geburt Hausbesuche durch einen bloß telefonischen Kontakt zu ersetzen.
Der unmittelbare Kontakt sei in dieser Zeit von überragender Wichtigkeit. Lediglich aus Kulanzgründen sei die
Beklagte bereit, die Gebühr Nr. 230 in entsprechender Anwendung der Vorgängerregel zu zahlen, wenn am selben Tag
kein Hausbesuch stattgefunden habe.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen
Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von 10,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 13.1.2009 gegen die Beklagte.
Anspruchsgrundlage ist Nr. 230 des Leistungsverzeichnisses der Hebammenvergütungsvereinbarung in Verbindung
mit § 2 Abs. 1 der Vereinbarung. Die Hebammenvergütungsvereinbarung regelt gem. § 12 des Vertrags über die
Versorgung mit Hebammenhilfe gem. § 134a SGB V die Vergütung für erbrachte Leistungen einer Hebamme durch die
Gesetzliche Krankenversicherung.
Die Gebühr Nr. 230 fällt in Höhe von je 5,10 EUR für jede Beratung der Wöchnerin mittels Kommunikationsmitteln an.
In den ersten 10 Tagen nach der Geburt ist die Gebühr Nr. 230 ohne Einschränkung abrechenbar. Eine Beschränkung
ergibt sich insbesondere nicht aus dem Buchstaben b) der "Allgemeinen Bestimmungen" des Abschnitts C. des
Leistungsverzeichnisses. Der Buchstabe b) enthält folgende Regelung:
b) In den ersten zehn Tagen nach der Geburt ist an demselben Tag jeweils ein Besuch nach Nummer 180, 200 oder
210 berechnungsfähig. [ ]
Der Wortlaut der Regelung ist für die Auslegung unergiebig. Er ist nicht eindeutig. Dem Wortlaut nach könnte die
Regelung lediglich die Anzahl der berechnungsfähigen Besuche pro Tag beschränken und damit keine Aussage zur
Nr. 230 enthalten. Man kann aber ebenso gut aus der Nichterwähnung der Nr. 230 in der Vorschrift den Schluss
ziehen, dass innerhalb der ersten 10 Tage nur Besuche abrechnungsfähig sein sollen, andere Gebührentatbestände
dagegen nicht (so wohl Sozialgericht Gotha Urteil vom 7.9.2009 – S 38 KR 1558/09 unveröffentlicht).
Systematisch muss der Zusammenhang des Buchstaben b) mit des parallelen Regelung des Buchstaben c) beachtet
werden. Buchstabe b) enthält Abrechnungsbeschränkungen für die ersten 10 Tage nach der Geburt. Buchstabe c)
beschränkt die Abrechenbarkeit von Leistungen für die Zeit ab dem 11. Tag bis acht Wochen nach der Geburt.
Buchstabe c) enthält folgende Regelung:
c) In dem Zeitraum zwischen dem elften Tag nach der Geburt bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Geburt sind
insgesamt bis zu 16 Leistungen nach Nummer 180, 200, 210 oder 230 berechnungsfähig, weitere Leistungen nach
Nummer 180, 200, 210 oder 230 dabei jedoch nur nach Maßgabe der Allgemeinen Bestimmung nach Buchstabe d). [ ]
In Buchstabe c) ist also die Gebühr Nr. 230 explizit aufgeführt. Auch diese Erkenntnis ist aber für die Auslegung der
Regelung des Buchstaben c) letztlich nicht zielführend. Denn ebenso wie bei der grammatikalischen Auslegung lässt
sich aus der Nennung der Nr. 230 kein eindeutiger Schluss ziehen. Man könnte vertreten, dass nur ab dem 11. Tag
eine Beschränkung der Abrechenbarkeit der Nr. 230 vorliegen soll. Aus der Nichtnennung in Buchstabe b) kann aber
andererseits auch hier wieder geschlossen werden, dass eine Abrechenbarkeit vor dem 11. Tag gänzlich
ausgeschlossen sein soll, weil nur die dort genannten Gebühren-Nummern berechnungsfähig sein sollen.
Eine Auslegung vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Gebührentatbestände war der Kammer nicht
mit hinreichender Sicherheit möglich. Zwar haben sich beide Prozessbeteiligten zu der Regelungshistorie geäußert.
Der tatsächliche Wille der Vertragsparteien war für die Kammer aber in Ermangelungen authentischer Quellen nicht
ermittelbar.
Letztlich muss für die Auslegung deshalb der Sinn und Zweck der Norm maßgeblich sein. Hier spricht nach
Auffassung der Kammer mehr für die Argumentation der Klägerin als für die der Beklagten. Dass die
Nichtabrechenbarkeit einer (bloß) telefonischen Beratung in den ersten 10 Tagen nach der Geburt dem Schutz der
Versicherten dient, leuchtet nur auf den ersten Blick ein. Zwar ist es nachvollziehbar, dass die Beratungsqualität
höher ist, wenn ein Hausbesuch durchgeführt wird und dieser nicht durch eine (abrechenbare) telefonische Beratung
ersetzt wird. Die Beklagte führt diese Argumentation aber gleich selbst ad absurdum, weil sie durch ihre
"Kulanzregelung" genau den gegenteiligen Effekt erzeugt: Sie macht eine telefonische Beratung ja gerade
abrechenbar, wenn ein Hausbesuch am selben Tag nicht stattgefunden hat. Dies ist aber im Ergebnis auch nicht
entscheidend. Die Kammer ist überzeugt davon, dass die Abrechenbarkeit der telefonischen Beratung nicht dazu
führt, dass Hebammen keine oder weniger Hausbesuche durchführen. Dies wäre nicht nur mit dem Selbstverständnis
dieser Berufsgruppe kaum vereinbar, es wäre auch wirtschaftlich nicht attraktiv. Für einen Hausbesuch wird eine rund
fünffach höhere Gebühr fällig. Auch die Fahrtkosten der Hebamme werden ersetzt. Die einen Hausbesuch ersetzende
Telefonate dürften für die Hebamme auch keine deutliche Aufwandsverringerung mit sich bringen. Der Zeitaufwand
dürfte in etwa derselbe sein, eventuell ist der telefonische Zeitaufwand sogar höher, weil mit dem geübten Auge der
Hebamme leicht aufklärbare Sachverhalte telefonisch eher schwer zu ermitteln wären.
Die Kammer schließt sich im Übrigen der Argumentation des Klägervertreters an, dass es der typischen
Interessenlage der jungen Eltern entspricht, gerade unmittelbar nach der Geburt die Hebamme als ständige
Ansprechpartnerin zu haben. Dies dient auch dem Schutz des Kindes. Denn durch eine private Abrechnung jedes
Telefonats im Verhältnis der Hebamme zu den Eltern würde – letztlich zulasten des Kindeswohls – für die Eltern eine
finanzielle Hemmschwelle geschaffen, die Hebamme auch bei kleineren Problemen zu kontaktieren, um immerhin ein
5,10 EUR "teures" Telefonat zu sparen.
Nach alledem ist die Regelung des Buchstaben b) nach Auffassung der Kammer so zu verstehen, dass eine
Abrechnungsbeschränkung für die Gebühr Nr. 230 hierin nicht getroffen wird. Die Gebühr Nr. 230 ist damit in den
ersten 10 Tagen nach der Geburt unter den – im Hebammenvergütungsrecht allerdings nach herrschender Meinung
abgemilderten – Voraussetzungen des Wirtschaftlichkeitsgebots gem. § 12 Abs. 1 SGB V unbeschränkt
berechnungsfähig.
Im vorliegenden Fall ergeben sich aus der Akte keine Hinweise darauf, dass an der Notwendigkeit der Beratung zu
zweifeln sein könnte.
Die Nebenentscheidung beruht auf § 288 Abs. 1, Abs. 2 BGB. Die bürgerlich-rechtliche Regelung über Verzugszinsen
ist gem. § 61 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) auch im Sozialrecht anwendbar (so im Ergebnis auch
BSG Urteil vom 3.8.2006 – B 3 KR 7/06 R, BSG Urteil vom 8.9.2009 – B 1 KR 8/09 R, worin dasselbe Ergebnis aus §
69 Satz 4 SGB V hergeleitet wird a. A. BSG Urteil vom 28.9.2005 – B 6 KA 71/04 R Rn. 32, worin zwar über § 61
Satz 2 SGB X eine Anwendbarkeit von Prozesszinsen bejaht wird, unter Bezugnahme der ständigen Rechtsprechung
des BSG aber ein Anspruch auf Verzugszinsen verneint wird). Der Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe
gem. § 134a SGB V und die auf ihm beruhenden Vereinbarungen stellen ein Rechtsgeschäft im Sinne eines öffentlich-
rechtlichen Vertrags dar, an dem ein Verbraucher nicht beteiligt ist. Der Zinssatz beträgt daher 8 Prozentpunkte über
dem Basiszinssatz. Verzinsungsbeginn ist der Verzugsbeginn, § 286 BGB. Ab dem 13.1.2009 ist die Beklagte in
Verzug, § 286 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Die Zahlung der Hebammenvergütung ist nach der Abrechnungsvereinbarung drei
Wochen nach Zugang der Rechnung fällig. Die Rechnung datiert vom 18.12.2008. Sie ist der Beklagten spätestens
am 22.12.2008 zugegangen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 154 Abs. 1
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Sache von grundlegender Bedeutung ist. Nach
Mitteilung des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung entstehen vergleichbare Abrechnungsstreitigkeiten
in einer Vielzahl von Fällen, so dass die praktische Bedeutung der Rechtsfrage trotz des geringen Streitwerts in
diesem Einzelfall insgesamt hoch ist.