Urteil des SozG Darmstadt vom 06.03.2006

SozG Darmstadt: therapie, körperliche unversehrtheit, multiple sklerose, arzneimittel, verfügung, krankenversicherung, hauptsache, erlass, konsens, gefahr

Sozialgericht Darmstadt
Beschluss vom 06.03.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Darmstadt S 13 KR 41/06 ER
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig die Kosten einer intravenösen
Therapie mit dem Immunglobulin Polyglobin-10%® im Rahmen der ärztlichen Verordnung als Sachleistung bis zum
Erlass des Widerspruchsbescheides, längstens jedoch für die die Dauer von 6 Monaten zu übernehmen. Im Übrigen
wird der Antrag abgelehnt.
2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Übernahme der Kosten für eine
Immunglobulintherapie mit dem Arzneimittel Polyglobin 10%®.
Immunglobuline (Ig) sind Eiweißstoffe, die von den weißen Blutkörperchen nach Kontakt des Körpers mit Antigenen
(Viren, Bakterien, Pilzen, Pollen) gebildet werden und als "Abfangstoffe" (Antikörper) im Blut, in den
Gewebeflüssigkeiten und den Körpersekreten vorhanden sind. Immunglobuline erkennen und binden Antigene. Sie
werden aus menschlichem Blutplasma (Spenderblut) hergestellt. Das Medikament Polyglobin-10%® (Hersteller: Bayer
Vital GmbH) ist zur Substitutionsbehandlung bei primären Immunmangelsyndromen (z.B. Agammaglobulinamie,
Wiskott-Aldrich-Syndrom, Kinder mit angeborenem AIDS mit rezidivierenden Infektionen) sowie zur Immunmodulation
bei idiopathischer (autonomer) thrombozytischer Purpura ITP bei Erwachsenen und Kindern, Kawasaki-Syndrom,
Guillaume-Barré-Syndrom zugelassen. Eine Zulassung zur Behandlung von Multipler Sklerose besteht zurzeit nicht.
Die 1980 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Bei der Antragstellerin besteht seit
Februar 2002 eine schubförmig-remittierend verlaufende Multiple Sklerose (MS) unter anderen mit den Symptomen
Müdgkeitssyndrom, progredientes Schmerzsyndrom im Genitalbereich, Gedächtnisstörungen, Blasen- und
Darmfunktionsstörungen mit Inkontinenz. Außerdem bestehen Herzrhythmusstörungen (LGL-Syndrom). Von Juni 2002
bis Januar 2005 wurde eine Immunprophylaxe mit Glatirameracetat (Copaxone®). Diese Therapie wurde eingestellt,
da die Antragstellerin zwischenzeitlich schwanger wurde. Einen Antrag auf Übernahme einer potspartalen Therapie mit
Immunglobulinen während der Stillzeit vom 05.04.2005 wies die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 07.06.2005
zurück. Die Antragstellerin hat am 06.09.2005 ihre Tochter geboren. Unmittelbar nach der Geburt kam es zum 6. MS-
Schub einhergehend mit Sensibilitätsstörungen und Kraftminderung im linken Arm.
Die Antragstellerin wurde postpartal auf das Interferon-Beta-Präparat Rebif 22® eingestellt. Die Rebif 22® –
Behandlung wurde jedoch wegen auftretender Nebenwirkungen abgebrochen. Anschließend wurde die Antragstellerin
mit dem Interferon-Beta-Präparat Betaferon-1b® behandelt. Am 04.12.2005 ereignete sich ein weiter MS-Schub mit
Gangstörung links und Schmerzen in der linken Hüfte. Dieser Schub wurde zusätzlich mit Cortison behandelt. Unter
der Betaferon-1b®-Behandlung traten wiederum verschiedene Nebenwirkungen auf. Die Antragstellerin setzte am
06.02.2006 die Therapie mit Betaferon-1b® ab.
Die Antragstellerin beantragte am 09.02.2006 die Übernahme der Kosten einer Immunglobulintherapie mit der
Begründung, eine Behandlung mit Copaxon® und Interferonen sei kontraindiziert. Dem Antrag lag ein Attest des
Neurologen Dr. M. vom 08.12.2005 bei.
Die Antragsgegnerin beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) mit der
Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens. Dieser führte in seinem Gutachten vom 10.02.2006 aus, die
Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden Einsatz, wie vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom
19.03.2002 (Az.: B 1 KR 37/00 R) formuliert, seien vorliegend nicht erfüllt. Ob im Falle der Antragstellerin tatsächlich
eine Kontraindikation für eine Behandlung mit Beta-Interferonen oder mit Glatirameracetat bestehe, könne nicht
abschließend beurteilt werden. Jedenfalls seien bisher keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse veröffentlicht,
die über Qualität und Wirksamkeit von intravenösen Immunglobulin-Therapien bei Multipler Sklerose zuverlässige,
wissenschaftlich nachvollziehbare Aussagen zulassen und die in einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen
voraussichtlichen Nutzen begründen könnten.
Auf dieser Grundlage lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit Bescheid vom 16.02.2006 ab. Über einen
Widerspruch der Antragstellerin wurde bisher nicht entschieden.
Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 17.02.2006, der beim Sozialgericht Darmstadt am gleichen Tag
eingegangen ist, den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung trägt die Antragstellerin vor: Ein
Anordnungsanspruch liege vor, denn die Voraussetzungen des zulassungsüberschreitenden Einsatzes von des
Immunglobulinpräparat Polyglobin-10%® seien erfüllt. Im Falle der Antragstellerin sei zwischenzeitlich von einer
lebensbedrohlichen Situation auszugehen. Sie habe die Beta-Interferon-Therapie wegen starker Nebenwirkungen - u.a.
auch depressive Episoden mit Suizidgedanken - abgesetzt und werde zurzeit medikamentös nicht versorgt.
Zwischenzeitlich lägen auch ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse für einen zulassungsüberschreitenden
Einsatz von Immunglobulinen bei Multipler Sklerose vor, die auf einen Behandlungserfolg schließen lassen.
Ergänzend verweist die Antragstellerin auf das Attest des Dr. M. vom 08.12.2005 und den Bericht des Dr. T. vom
14.02.2006 (Blätter 35 bis 38 der Geichtsakte). Der Antragstellerin sei es auch nicht möglich, die Kosten einer
Immunglobulintherapie mit Polyglobin-10%® in Höhe von ca. 1.600,- EUR monatlich vorzulegen. Zur
Glaubhaftmachung legt die Antragstellerin u.a. einen aktuellen Sozialhilfebescheid vom 01.11.2005 vor.
Die Antragstellerin beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten
für die erstmals am 02.03.2005, zuletzt erneut am 09.02.2006 beantragte Immunglonulintherapie in vollem Umfang zu
übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
Nach Auffassung in der Antragsgegnerin seien die vom Bundessozialgericht geforderten Voraussetzungen einer
Leistungspflicht außerhalb der zugelassenen Indikationen nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin verweist ergänzend auf
das Gutachten des MDK vom 10.02.2006.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte
und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und statthaft. Rechtsgrundlage ist die Vorschrift des
§ 86 b Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Antrag ist auch begründet. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form der Regelungsanordnung gemäß §
86 b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt voraus, dass eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint, d.h. dass dem Antragsteller ohne eine entsprechende Regelung schwere und unzumutbare Nachteile
entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann
(Anordnungsgrund) und ihm aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen bei summarischer Prüfung der Rechtslage
ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung bzw. Unterlassung zusteht (Anordnungsanspruch). Dem
Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht jedoch grundsätzlich nur vorläufige
Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon im vollen Umfang das gewähren, was er nur im
Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG)
gilt das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache nur dann nicht, wenn eine Regelung zur Gewährung eines effektiven
Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d.h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller
unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (Meyer-
Ladewig SGG Kommentar, 7. Auflage, § 86 b Rn. 31; BVerfG NJW 1989, 827).
Ein Anordnungsanspruch ist zu bejahen, denn eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten ergibt, dass diese
zumindest offen sind.
Der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V normierte Anspruch des Versicherten auf Bereitstellung der
für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12
Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als
zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand
der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Anforderungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts
der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist (Urteil vom 8. Juni 1993 - BSGE 72, 252 = SozR 3-2200 § 182 Nr. 17
- Goldnerz-Creme; Urteil vom 8. März 1995 - SozR 3-2500 § 31 Nr. 3 - Edelfosin; Urteil vom 23. Juli 1998 - BSGE 82,
233 = SozR 3-2500 § 31 Nr. 5 - Jomol). Denn ein Arzneimittel kann auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist,
grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich
die Zulassung nicht erstreckt.
Eine solche zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. Off-Label-Use) liegt hier vor, weil eine arzneimittelrechtliche
Zulassung des nach § 77 Abs. 2 Arzneimittelgesetz (AMG) zuständigen Paul-Ehrlich-Institutes von Polyglobin-10%®
nur für die Behandlung bestimmter Autoimmunkrankheiten (vgl. oben) besteht; eine Zulassung zur Behandlung einer
schubförmig-remittierend verlaufenden Multiplen Sklerose
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R) ist wegen des Vorrangs
des Arzneimittelrechts ein Off-Label-Use zu Lasten der Krankenversicherung auf die Fälle beschränkt, in denen
einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits
die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines
Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn
es
(1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn
(2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn
(3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein
Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen
Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen
werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn
- entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen
Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit
respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen
- oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und
Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare
Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen
Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Die erste Voraussetzung ist unstreitig zu bejahen. Auch wenn es sich bei der multiplen Sklerose nicht um eine akut
lebensbedrohliche Erkrankung handelt, so ist doch von einer schwerwiegenden, die Lebensqualität auf Dauer
nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung auszugehen. Auch der MDK Hessen bestätigt dies in seinem Gutachten
vom 10.02.2006.
Die Erkrankung der Antragstellerin ist nach summarischer Prüfung auch nicht anders therapierbar. Der MDK Hessen
bestätigt in seinem Gutachten vom 10.02.2006, dass es bislang keine Therapie der Multiplen Sklerose gibt, die
während einer Schwangerschaft postpartal bzw. während der Stillzeit oder bei Kontraindikationen für eine Behandlung
mit Beta-Interferonen oder mit Glatirameracetet als wirksam und unbedenklich gilt. Soweit der MDK im Gutachten in
Frage stellt, ob im Falle der Antragstellerin tatsächlich Kontraindikationen für eine Behandlung mit Beta-Interferonen
oder Glatirameracetet vorliegen, hat dies die Antragstellerin – zumindest im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes – durch Glaubhaftmachung mittels eines ausführlichen Berichtes des Dr. T. vom 14.02.2006 (Blätter
35 bis 38 der Gerichtsakte) widerlegt. Dr. T. beschreibt ausführlich die Behandlung nach der Geburt der Tochter am
06.09.2005 und den aufgetretenen Nebenwirkungen unter der Therapie mit den Beta-Interferonen Rebif 22® und
Betaferon-1b®. Die Umstellung von Copaxone® (vor der Schwangerschaft) auf Rebif 22® (nach der Entbindung) sei
erfolgt, da sich trotz Therapie mit Copaxane® eine stetige Verschlechterung abgezeichnet habe (5 MS-Schübe in 3
Jahren), so Dr. T. Außerdem seien sowohl unter der Therapie mit Rebif 22® als auch unter der Behandlung mit
Betaferon-1b® schwer-wiegende Nebenwirkungen aufgetreten.
Ob die dritte Voraussetzung erfüllt ist, d.h. ob aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem
betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist, kann im Rahmen des vorliegenden
Eilverfahrens nicht abschließend beurteilt werden. Zunächst ist festzustellen, dass bisher für kein Immunglobulin-
Präparat eine Zulassung zur Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose besteht oder beantragt
wurde. Das nach § 77 Abs. 2 AMG für die Zulassung von Immunglobulin-Präparaten zuständige Paul-Ehrlich- Institut
stellt in einem Bericht vom 20.10.2005 zur "Therapie der schub-förmigen Multiplen Sklerose mit intravenösen
Immunglobulinen" (Internet: www.pei.de) außerdem fest, dass die Voraussetzung für eine Zulassung eines
bestimmten Produktes, nämlich eine kontrollierte, adäquat durchgeführte Phase-III-Studie für ein Immunglobulin-
Präparat nicht vorliegt. Das Paul-Ehrlich-Institut verweist jedoch auch darauf, dass die Anwendung von
Immunglobulinen bei schubförmig verlaufender Multiplen Sklerose aufgrund positiver Forschungsberichte über die
Reduktion der Schubrate von den Leitlinien zur Therapie der Multiplen Sklerose z.B. durch die Leitlinie der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie (DGN) oder durch Veröffentlichungen der MS-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG)
zumindest dann empfohlen werden, wenn andere zugelassene Arzneimittel nicht wirken oder kontraindiziert sind. In
seinem Bericht stellt das Paul-Ehrlich-Institut den bisherigen Stand der Veröffentlichungen dar und zitiert aktuelle
Studien, die eine signifikante Reduktion der Schubrate unter der Anwendung von Immunglobulinen bestätigen. Die
Feststellungen des Bundessozialgerichts im Urteil vom 19.03.2002 (Az.: B 1 KR 37/00 R; off-labe-use von
Sandoglobulin®) zum Forschungsstand des Einsatzes von Immunglobulinen bei primär-chronisch progredienter
Multiplen Sklerose können vorliegend nicht herangezogen werden, da die Antragstellerin unter einer schubförmig-
remittierend verlaufenden Multiplen Sklerose leidet; für diese Verlaufsform sind andere Forschungsergebnisse
einschlägig. Die Mitteilungen des Paul-Ehrlich-Institutes in einem Bericht vom 21.11.2001, auf welchen sich das
Bundessozialgericht bezieht, sind im Übrigen nicht mehr aktuell, denn zwischenzeitlich wurden weitere
Forschungsergebnisse aus 2002 und 2004 ausgewertet. Das Sozialgericht Berlin bestätigt in seinem Urteil vom
12.04.2005 nach Einholung eines Sachverständigengutachtens (Az.: S 81 KR 323/99, www.sozialgerichtsbarkeit.de),
dass in Deutschland zwischenzeitlich Konsens über die Wirksamkeit des Einsatzes von Immunglobulinen bei
schubförmig-remittierend verlaufender Multipler Sklerose bestehe. Inwieweit die insgesamt positiven
Forschungsergebnisse im Hinblick auf eventuelle Qualitätsmängel (z.B. Einsatz verschiedener Immunglobulin-
Präparate, kleine Patientenzahlen, fehlende Angabe des eingesetzten Präparates) tatsächlich zu relativieren sind,
kann im Rahmen des Eilverfahrens allerdings nicht abschließend beurteilt werden. Insbesondere können die
Ergebnisse der Studien zur Frage des Einsatzes von Immunglobulinen in einer Behandlungssituation, die mit der der
Antragstellerin vergleichbar sind, nicht abschließend überprüft werden. Eine abschließende Beurteilung - ggf. durch
Einholung eines Sachverständigengutachtens - ist angesichts der Eilbedürftigkeit im vorliegenden Verfahren nicht zu
leisten.
Bei der Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens,
der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit sich jederzeit verwirklichen kann, verlangt Art. 19 Abs. 4
Grundgesetz eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht
unterscheidet (vgl. BVerfG 79,69, 74; 94, 166, 216; NJW 2003 1236 f) oder – sollte eine solche Prüfung – wie
vorliegend - nicht zeitnah möglich sein – eine Abwägung der widerstreitenden Interessen. In Anlehnung an die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist eine Folgenabwägung
vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer
Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht
erging, obwohl dem Versicherten die Streit befangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden,
wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl kein Anspruch hierauf besteht. Für das vorläufige
Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass diese die Grundrechte der Versicherten auf
Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, die zu schützen und zu fördern Pflicht aller staatlichen Organe ist
(BVerfGE Beschluss vom 19.03.2004, Az.: 1 BvR 131/04), zur Geltung zu bringen haben (Art. 2 Abs. 2 GG). Besteht
die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des
Hauptsacheverfahrens stirbt oder schwere oder irrevisible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die
begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon
überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem
Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu
verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die
begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert,
weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere
Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der
Folgenabwägung ablehnen.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der skizzierten Grundsätze ist
vorliegend im Rahmen einer Folgenabwägung ein Anordnungsanspruch zu bejahen. Denn die Antragstellerin leidet
nicht nur unter einer von einer schwerwiegenden, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden
Erkrankung; aufgrund der glaubhaft gemachten Nebenwirkungen gegen Beta-Interferone steht zur Zeit keine
medikamentöse Therapie zur Verfügung. Gegenüber dem elementaren (Lebens-)Interesse der Antragstellerin müssen
die finanziellen Interessen der Antragsgegnerin, die beim Fehlen eines Leistungsanspruches die Behandlungskosten
ggf. von Antragsstellerin nicht zurückerhalten kann – die Antragsgegnerin trägt insofern das Insolvenzrisiko –
zurücktreten (vgl. auch Hessisches Landessozialgericht – HLSG - Beschluss vom 27.10.2005, Az.: L 8 KR 190/05
ER für Herceptin®).
Ergänzend wird auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 (Az.: 1 BvR 347/98) verwiesen.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht über eine so genannte neue Behandlungsmethode im Falle einer
lebensbedrohlichen und unheilbaren Krankheit und nicht über einen zulassungsüberschreitenden Einsatz eines
Fertigarzneimittels zu entscheiden hatte, so können nach Auffassung des Gerichts dennoch grundsätzliche Aussagen
des Bundesverfassungsgerichtes – zumindest in einem Verfahren des Eilrechtsschutzes – herangezogen werden.
Stehen für eine lebensbedrohliche Erkrankung schulmedizinisch lediglich symptomatische Behandlungsmethoden zu
Verfügung, ist die gesetzliche Krankenversicherung verpflichtet, die Kosten der "neuen" Behandlungsmethode - hier:
off-label-use von Polyglobin-10%® - zu übernehmen, "wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung
oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" (so das Bundesverfassungsgericht, a.a.O.) besteht.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund, denn die Antragstellerin hat durch Vorlage eines Sozialhilfebescheides
glaubhaft gemacht, dass sie die voraussichtlichen Kosten der Immunglobulin-Therapie mit Polyglobin-10%® in Höhe
von ca. 1.600,- EUR nicht bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens vorfinanzieren kann. Zudem ist Eile
geboten, denn aufgrund der glaubhaft gemachten Nebenwirkungen gegen Beta-Interferone steht zurzeit keine
medikamentöse Therapie zur Verfügung.
Die Befristung der vorläufigen Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin trägt dem erheblichen Aufwand der zur
Verfügung zu stellenden Mittel Rechnung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.