Urteil des SozG Cottbus vom 19.01.2009

SozG Cottbus: berufliche tätigkeit, praktikum, berufsausübung, ermessen, innere medizin, auflösende bedingung, ausstattung, rehabilitation, prothese, hörgerät

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Gericht:
SG Cottbus 14.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 5 R 458/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 26 Abs 2 Nr 6 SGB 9, § 31 SGB
9, § 33 Abs 8 S 1 Nr 4 SGB 9, §
15 Abs 1 S 4 SGB 9, § 15 Abs 1
S 1 SGB 6
Rehabilitation - Abgrenzung medizinischer und beruflicher
Mehrbedarf - Digitale Hörhilfe zur Ausübung des Berufs des
Berufskaufmanns in der Pflegedienstleitung eines
Krankenhauses - Erforderlichkeit zur Berufsausübung -
ausschließliche Verwendung für den Beruf - Freistellung von der
Zahlung des Eigenanteils
Leitsatz
1.) Zur analogen Anwendung von § 15 SGB IX im Falle eines Freistellungsanspruchs.
2.) Zur Anspruchsgrundlage und den Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von
digitalen Hörhilfen als Leistung im Sinne des SGB IX.
3.) Es ist im Rahmen der Auslegung der Wendung der "Erforderlichkeit für die
Berufsausübung" nicht notwendig, dass im Rahmen eines sog. Vorteilsvergleichs die Vorteile
des Mehrbedarfs ausschließlich im beruflichen Bereich des Betroffenen liegen dürfen (Abkehr
von SG Cottbus S 5 R 305/05 vom 15.11.2006).
4.) Diese Auslegung hat dahingehend zu erfolgen, dass jeder Nachteil, der im Beruf
ausgeglichen werden soll, nicht schon durch eine Nachteilsausgleichung im Privaten
abgedeckt ist.
Tenor
1.) Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von dem von ihm zu leistenden Teilbetrag für
digitale Hörhilfen der Firma K. in Höhe von 3.742,56 Euro freizustellen.
2.) Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, nach Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das
Sozialgericht Cottbus, um die Kostentragungspflicht des von dem Kläger selbst zu
leistenden Eigenanteils, nach Abzug des von der Beigeladenen geleisteten
Pauschalbetrages, für die Anschaffung digitaler Hörhilfen.
Der am geborene Kläger ist gelernter Koch und von Geburt an hörgeschädigt. Für seine
Arbeit als Koch hat der Kläger zu keiner Zeit ein Hörgerät, gleich welcher Art, beantragt,
oder benutzt. Mit Bescheid vom 14. Oktober 2003 bewilligte die Beklagte dem Kläger
eine Weiterbildungsmaßnahme zum Bürokaufmann in der Zeit vom 3. Februar 2004 bis
2. Februar 2006, als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Während dieser Zeit
absolvierte der Kläger zwei Praktika bei seinem jetzigen Arbeitgeber, dem N., einem
Krankenhaus in G. Das erste Praktikum absolvierte der Kläger in der Zeit vom 6.
September bis 26. November 2004. Das zweite Praktikum absolvierte er in der Zeit vom
25. Juli bis 14. Oktober 2005. Am 18. Januar 2006 schloss der Kläger seine Prüfung im
Rahmen der Umschulung mit Erfolg ab und wurde mit Wirkung zum 19. Januar 2006 bei
dem N. (im folgenden Arbeitgeber) als Sachbearbeiter in der Pflegedienstleitung
eingestellt.
Der behandelnde HNO-Arzt Dr. M. verordnete wegen der hochgradigen
Innenohrschwerhörigkeit am 7. Dezember 2004 Hörhilfen für beide Ohren. Am 10. Januar
2005 beantragte der Kläger daher bei der Beklagten einen Kostenzuschuss für digitale
Hörgeräte wegen eines berufbedingten Mehraufwandes gegenüber den von der
Beigeladenen zu leistenden „Kassenmodelle“. Erst nach dem Antrag bei der Beklagten
beantragte der Kläger, über seinen Hörgeräteakustiker, unter dem 20. Januar 2005, bei
der Beigeladenen die Leistung der „Kassenpauschale“. Unter den Beteiligten ist insofern
vor
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vor
nicht
nach Eingang seines Antrages auf die Beigeladene verwiesen hat.
Weiter ist unstreitig, dass der Kläger im Rahmen von Testphasen verschiedene Modelle
der Firma K. Hörgeräte getestet hat. Ein einfaches, analoges Modell kam hierbei bei dem
ersten, bei dem Arbeitgeber abgeleisteten Praktikum zum Einsatz. Bei dem zweiten
Praktikum beim Arbeitgeber kam ein digitales Modell, welches u. a. über ein
Telefonprogramm verfügt, zur Anwendung. Ausweislich des Testblattes erreicht der
Kläger ohne Hörhilfen in einem normalen Gespräch eine Silbenverständlichkeit von 45 %,
mit den analogen Hörhilfen eine Silbenverständlichkeit von 70% und mit den digitalen
Hörhilfen eine Silbenverständlichkeit von 80-85%. Wegen der weiteren Einzelheiten des
Testberichts wird auf Blatt 17ff. der Verwaltungsakte der Beigeladenen verwiesen.
Der Arbeitgeber bescheinigte dem Kläger, unter anderem, unter dem 24. Mai 2005 und
in der Arbeitgeberauskunft vom 19. Juni 2007, dass der Kläger beide Praktika mit hohem
Maß an Einsatzbereitschaft und gutem Fachwissen absolvierte, dass er aber im Rahmen
des ersten Praktikums nicht den Anforderungen an den ihm in Aussicht gestellten
Arbeitsplatz gerecht werden würde, insbesondere durch den mangelnden Ausgleich
seiner Hörfähigkeit könne er so nicht übernommen werden. Im Rahmen des zweiten
Praktikums hoben sich diese Vorbehalte des Arbeitgebers auf. Die Leistungen des
Klägers und sein verbessertes Hörvermögen ließen schließlich eine Festeinstellung zu.
Mit Bescheid vom 9. März 2005 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Nach
den, der Beklagten vorliegenden, berufskundlichen Informationen sei für einen
Bürokaufmann kein Mehrbedarf für die Versorgung der Ohren, gegenüber dem
Grundbedarf notwendig. Ein berufsbedingter Mehraufwand läge daher schon deshalb
nicht vor. Hiergegen legte der Kläger am 22. März 2005 Widerspruch ein, der mit
Widerspruchsbescheid vom 27. April 2005 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung
führte die Beklagte aus, dass das medizinische Anforderungsprofil für einen
Bürokaufmann nur ein normales Hörvermögen beschreibt, ein berufsbedingter
Mehraufwand daher nicht vorliegen könne.
Der Kläger hat am 17. Mai 2005 Klage vor dem Sozialgericht Cottbus erhoben, mit der er
sein Begehren weiter verfolgt. Unter gleichem Datum beantragte der Kläger den Erlass
einer einstweiligen Anordnung (Az.: S 5 R 445/05 ER). Der Kläger ist weiterhin der
Auffassung, es läge ein berufbedingter Mehraufwand vor. Sein Arbeitgeber hätte ihn
ohne die digitalen Hörhilfen nicht übernommen, da er den Anforderungen an die
Tätigkeit in einem Büro mit einfachen, analogen Hörhilfen nicht gewachsen sei. Er
verweist dazu insbesondere auf die Störgeräusche beim Telefonieren mit analogen
Hörhilfen, die mit den Telefonprogrammen der digitalen Hörgeräte nicht aufträten. Er
behauptet weiterhin, er würde die Hörgeräte für den privaten Bereich gar nicht haben
wollen. Im Privaten wären die analogen Modelle für ihn ausreichend, er würde die Geräte
auch auf der Arbeit lassen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen den Kläger von dem von ihm zu leistenden Teilbetrag für
digitale Hörhilfen der Firma K. in Höhe von 3.742,56 Euro freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie an, dass kein berufbedingter Mehraufwand nachgewiesen sei.
Es sei weiterhin möglich, dass sie gar nicht die richtige Beklagte sei, da ggf. die volle
Leistung von der Beigeladenen zu erbringen wäre. Selbst wenn aber der Kläger eine
Verbesserung seines Gehörs für die Tätigkeit eines Bürokaufmannes benötigen würde,
so würde die mit analogen Geräten erreichte Silbenverständlichkeit von 70% ausreichen.
Die bis zu 85%ige Silbenverständlichkeit mit digitalen Hörhilfen sei zum einen unnötig für
den Beruf des Bürokaufmannes, zum anderen auch nur eine geringe Verbesserung, die
nicht ins Gewicht fallen könne. Die Beklagte bezweifelt, dass der Kläger zu dem
streitgegenständlichen Beruf ohne die digitalen Hörhilfen nicht in der Lage sei, da dieser
zwei Praktika bei dem Arbeitgeber mit Erfolg abgeschlossen habe. Es fehle auch an der
ausschließlichen Berufsbezogenheit des Mehraufwandes. Insofern verweist die Beklagte
auf ein Urteil der Kammer in einem anderen Fall (Az.: S 5 R 305/05). Schließlich dürfe die
Beklagte ohnehin nicht zur Leistung verpflichtet werden, da ihr ein Auswahlermessen
bezüglich der konkreten Sachleistung zustünde, das ihr, jedenfalls wegen des
Beschlusses der Kammer im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, genommen
worden sei.
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Mit Beschluss vom 2. Februar 2006 verpflichtete das Sozialgericht Cottbus die Beklagte
den Kläger bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit Hörhilfen zu versorgen, die
über ein Richtmikrofon, ein Telefonprogramm und eine automatische
Programmumschaltung verfügen. Die hiergegen eingereichte Beschwerde zum
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Az.: L 6 B 377/06 R ER), wurde mit Beschluss
vom 29. Mai 2006 zurückgewiesen. Mit Bescheid vom 15. Juni 2006 gewährte die
Beklagte daher dem Kläger die über dem Festbetrag der Krankenkasse liegenden
Kosten für die Anschaffung von Hörhilfen. In dem Bescheid werden dem Kläger die
Kosten für das von ihm favorisierte Modell übernommen. Der Bescheid enthält folgende
(wörtliche) Wendung: „Vorsorglich machen wir Sie darauf aufmerksam, dass der
Ausführungsbescheid gegenstandslos wird, wenn im Hauptsacheverfahren vor dem
Sozialgericht Cottbus zum Aktenzeichen S 8 R 458/05 ein gegenteiliges Urteil ergeht. In
diesem Fall sind die auf Grund dieses Bescheides gezahlten Leistungen an uns zu
erstatten.“ Die Beklagte hat den Differenzbetrag gegenüber der Kassenzuzahlung an
den Hörgeräteakustiker des Klägers überwiesen.
Mit Beschluss vom 12. Juli 2007 wurde die Barmer Ersatzkasse dem Verfahren
beigeladen.
Am 5. Dezember 2008 erfolgte eine mündliche Verhandlung vor der Kammer. Im
Rahmen der Verhandlung wurde ein Vergleich geschlossen, der unter
Widerrufsvorbehalt, bis 15. Januar 2009, durch die Beklagte stand. Die Beteiligten
erklärten sich für den Fall des Widerrufes mit einer Entscheidung nach § 124 Absatz 2
SGG einverstanden. Wegen der Einzelheiten des Vergleiches wird auf das
Sitzungsprotokoll der Kammer verwiesen. Mit Schriftsatz vom 12. Januar 2009 widerrief
die Beklagte den Vergleich.
Wegen des weiteren Ergebnisses der Beweisaufnahme, wegen des Sach- und
Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird
auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der
Beigeladenen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung
war, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Nach dem ausdrücklich erklärten Einverständnis der Beteiligten war die Kammer befugt
ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Absatz 2 SGG zu entscheiden.
I.
Die Klage ist, soweit über das Klagebegehren noch zu entscheiden war, zulässig und
begründet. Durch den Bescheid der Beklagten vom 15. Juni 2006 macht diese klar, dass
sie der Ausstattung des Klägers mit den digitalen Hörhilfen auf Dauer nachkommt. Der
Bescheid weist am Ende nur den Hinweis auf, dass im Falle einer gegenteiligen
Entscheidung des Sozialgerichts der Bescheid vom 15. Juni 2006 gegenstandslos wird
und die Kosten für die Hörhilfen zu erstatten sind. Er ist insofern ein bedingter
Leistungsbescheid. Die Bedingung umfasst allerdings nicht die Rückgabe der Hörhilfen.
Dem ursprünglich verfolgten Klagebegehren der Ausstattung mit digitalen Hörhilfen ist
die Beklagte insofern mit Dauerwirkung nachgekommen. Die Kammer wertet dies daher
als konkludente Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom 9. März 2005 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2005, so dass dieser hier nicht mehr
Gegenstand der Verhandlung und mithin nicht mehr aufzuheben war. Der
„Ausführungsbescheid“ vom 15. Juni 2006 war hier auch weder abzuändern, noch
aufzuheben, da mit diesem dem Klägerbegehren (bedingt) entsprochen wurde. Die den
Kläger allein noch beschwerende Bedingung kann aber auf Grund der hier erfolgten
Verurteilung nicht mehr eintreten, so dass der „Ausführungsbescheid“, nach der hier
erfolgten Verurteilung, für den Kläger keine Beschwer mehr enthält. Ob hier ggf. durch
Feststellungsklage hätte entschieden werden können lässt die Kammer ausdrücklich
offen. Es hat, nach Ansicht der Kammer, aber keine Auswirkung auf die Entscheidung, da
auch ein Feststellungsinteresse, wegen der verbliebenen Beschwer, durch die auflösende
Bedingung im „Ausführungsbescheid“, gegeben ist.
II.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Freistellung von der
Differenz der Kosten der Hörhilfen und dem von der Beigeladenen geleisteten Anteil der
Grundversorgung gegen die Beklagte.
1.) Unter den Beteiligten ist unstreitig, dass die Beklagte erstangegangener
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1.) Unter den Beteiligten ist unstreitig, dass die Beklagte erstangegangener
Rehabilitationsträger im Sinne von § 14 des neunten Buchs des Sozialgesetzbuches –
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) ist. Es ist weiterhin
unstreitig, dass die Beklagte den Anspruch des Klägers nicht wegen Unzuständigkeit
innerhalb von zwei Wochen abgelehnt und der Beigeladenen zur Entscheidung
abgegeben hat.
Die Beklagte ist daher „formell“ richtiger Angegangener und im Prozess passiv
legitimierter Rehabilitationsträger. Die Ausführungen des Bundessozialgerichts im Urteil
vom 21. August 2008 (Az.: B 13 R 33/07 R) hierzu sind daher nicht Gegenstand der
Urteilsfindung und werden im Übrigen erfüllt.
2.) Durch die Entscheidung der Kammer im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Az.: S
5 R 445/05 ER), kann der Kläger nicht mehr die Ausstattung mit den
streitgegenständlichen Hörhilfen verlangen und tut dies auch nicht. Da mit Bescheid
vom 15. Juni 2006 die streitgegenständliche Leistung von der Beklagten in Form der
Überweisung des Differenzbetrages an den Hörgeräteakustiker des Klägers auch
erbracht wurde und der Kläger mithin zu keiner Zeit selbst die Zahlung zu leisten hatte,
scheidet auch eine Erstattung des zu erbringenden Eigenanteils analog § 15 SGB IX im
Rahmen der vom Bundessozialgericht im o. g. Urteil ausgearbeiteten Grundsätze aus.
Der Kläger kann hier nur begehren von der Zahlung des Eigenanteils (Differenz von den
tatsächlichen Kosten zu der von der Beigeladenen geleisteten Pauschale im Rahmen der
Grundversorgung) durch die Beklagte freigestellt zu werden. Einen Freistellungsanspruch
regelt das Gesetz allerdings ebenfalls nicht. Entsprechend der Ausführungen des
Bundessozialgerichts kann allerdings für einen Freistellungsanspruch nichts anderes
gelten als für einen Erstattungsanspruch. Auch im Falle der Freistellung ist § 15 SGB IX
analog anzuwenden. Es liegt insofern eine planwidrige Reglungslücke seitens des
Gesetzgebers vor (vgl. BSG aaO zitiert nach Juris, Rn 22). Die analoge Anwendung des §
15 SGB IX ist sachgerecht, da der Rechtsgedanke hier vergleichbar ist. Ähnlich § 13 des
fünften Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V), ist die
Zwecksetzung von § 15 SGB IX die Vermeidung finanzieller Nachteile des Betroffenen
wegen des Versagens des Sachleistungsprinzips (sog. Systemversagen), vgl. Götze in
Hauck/Noftz SGB IX, Stand 2005, § 15 Rn 13 f., sowie Noftz in Hauck/Noftz SGB V § 13
Rn 42. Der Erstattungsanspruch ist gerichtet auf die Ausgleichung der konkret
entstandenen Kosten, vgl. Götze in Hauck/Noftz SGB IX § 15 Rn 14, sowie Noftz in
Hauck/Noftz SGB V § 13 Rn 57. Spiegelbildlich wäre der Freistellungsanspruch die
Abstandnahme des Rehabilitationsträgers von der Geltendmachung der ihm konkret
entstandenen Kosten gegenüber dem Betroffenen (so wohl auch Noftz in Hauck/Noftz
SGB V § 13 Rn 47). Diese Zwecksetzungen sind identisch, so dass in analoger
Anwendung die Reglung des § 15 SGB IX sowohl für die Fälle der Erstattung, als auch für
Fälle der Freistellung gegenüber dem Leistungserbringenden, gilt.
§ 15 Absatz 1 Satz 4 SGB IX ist, in analoger Anwendung, daher die Anspruchsgrundlage
für das Begehren des Klägers hier. Dessen Voraussetzungen sind auch erfüllt. Die
Beklagte hat den Anspruch des Klägers auf Ausstattung mit einer Sachleistung (hier
digitale Hörhilfen) zu Unrecht abgelehnt. Der Kläger hat einen Anspruch auf Ausstattung
mit digitalen Hörgeräten gegen die Beklagte (dazu unter a). Die Beklagte hat diesen
Anspruch zu Unrecht abgelehnt (dazu unter b) und der Kläger hat im Übrigen alles in
seinem Können stehende getan um sich systemkonform zu verhalten und Mehrkosten
zu vermeiden, insbesondere hat er sich die Hörgeräte erst nach der konkreten
Verbescheidung durch die Beklagte in dem durch den Bescheid der Beklagten
vorgegebene Maße besorgt (dazu unter c).
a) Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Ausstattung mit digitalen
Hörhilfen aus § 33 Absatz 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX i. V. m. § 16 des sechsten Buches
Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI).
aa) Die allgemeinen persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die
Gewährung der Leistung zur Teilhabe liegen, dies ist unter den Beteiligten soweit
unstreitig, vor. Ebenso unstreitig ist, dass die Ausschlussgründe des § 12 SGB VI nicht
vorliegen.
bb) Es ist allerdings zu beachten, dass der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben nachrangig ist zu medizinischen Rehabilitationsleistungen (BSG aaO Rn 17).
Der Anspruch nach § 33 Absatz 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX ist daher ausgeschlossen, wenn
die Leistung schon nach § 26 Absatz 2 Nr. 6, § 31 SGB IX, i. V. m. § 15 Absatz 1 Satz 1
SGB VI zu erbringen wäre.
Die Gewährung medizinischer Rehabilitation ist primär Aufgabe der Krankenkassen, aber
durch die ausdrückliche Verweisung in § 15 SGB VI leisten auch die
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durch die ausdrückliche Verweisung in § 15 SGB VI leisten auch die
Rentenversicherungsträger Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Im Übrigen ist
durch das BSG klar gestellt worden, dass nach § 14 SGB IX der erstangegangene Träger,
soweit er den Leistungsfall nicht innerhalb zwei Wochen abgegeben hat, ggf. auch
Leistungen nach den Vorschriften des eigentlich zuständigen Leistungsträgers zu
erbringen hat (vgl. BSG aaO Rn 30). Zwar wäre die Leistung der medizinischen
Rehabilitation grds. durch die Leistung des Festbetrages erfüllbar (vgl. BSG aaO Rn 39),
dies kann aber nicht gelten, wenn das zum Festbetrag verfügbare Hörgerät die
Behinderung eines Betroffenen nicht voll kompensieren kann (vgl. BSG aaO Rn 41). Die
Leistungsverpflichtung im Rahmen der medizinischen Rehabilitation besteht grds. nur für
solche Hilfsmittel, die zur Ausübung elementarer Grundbedürfnisse erforderlich sind,
hierzu gehört allerdings auch das elementare Grundbedürfnis eine berufliche oder
andere Gleichwertige Tätigkeit auszuüben. (BSG aaO Rn 43). Wenn das begehrte
Hilfsmittel den Betroffenen in die Lage versetzen soll überhaupt eine sinnvolle Tätigkeit
auszuüben (vgl. Hohmann in Wiegand SGB IX Teil 1, Stand 11/2008 § 33 Rn 181).
Überhaupt eine berufliche Tätigkeit kann der Kläger aber ohne weiteres auch ohne die
begehrten digitalen Hörhilfen, mit den analogen Hörhilfen, ausüben. Damit ist der
Anspruch nach § 26 Absatz 2 Nr. 6, § 31 SGB IX, i. V. m. § 15 Absatz 1 Satz 1 SGB VI
hier nicht vorrangig.
cc) Die Voraussetzungen des § 33 Absatz 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX i. V. m. § 16 SGB VI
liegen hingegen im Falle des Klägers vor. Die hier begehrten digitalen Hörhilfen sind zum
Ausgleich der Hörbehinderung des Klägers erforderlich um eine bestimmte
Berufsausübung, hier die des Bürokaufmannes in der Pflegedienstleitung eines
Krankenhauses, zu ermöglichen. Abzustellen ist insofern auf den konkret ausgeübten
Beruf (vgl. Hohmann aaO § 33 Rn 178 f.).
Die Argumentation der Beklagten, die Silbenverständlichkeit von 70% reiche für die
Berufsausübung aus, entbehrt jeglicher Grundlage. Ausweislich der medizinischen
Stellungnahmen der Beklagten sind diese Behauptungen von einer Ärztin für innere
Medizin bzw. einem Arzt für Rheumatologie aufgestellt worden. Die von der Beklagten
eingereichte Begutachtungsanleitung Schwerhörigkeit -Begutachtungsanleitung zur
apparativen Versorgung bei Funktionsstörungen des Ohres-, stütz die medizinische
Auffassung der Beklagten in keiner Weise. Die gesamte Begutachtungsanleitung geht
auf die Frage der Silbenverständlichkeit nicht ein. Wegen des Inhaltes der
Begutachtungsanleitung wird ausdrücklich auf die Verwaltungsakte der Beklagten
verwiesen. Die Argumentation der Silbenverständlichkeit verfängt aber auch schon
deshalb nicht, weil diese allein in Bezug auf normale Gespräche zwischen zwei Personen
zugeschnitten ist. Der Vortrag des Klägers geht aber dahin, dass gerade in Situationen
mit mehreren Gesprächsteilnehmern, oder bei Telefonaten, das Hörvermögen mit
einem analogen Hörgerät drastisch leidet. Es obliegt der vollen Überzeugung der
Kammer, dass Gespräche mit mehr als einer Person und auch häufige Telefonate, sowie
die Kombination dieser beiden Gesprächssituationen, im Bereich der Berufsausübung
eines Bürokaufmanns in der Pflegedienstleitung eines Krankenhauses so häufig
auftreten, dass ein Arbeitgeber den Betroffenen, wenn er dieser Situation nicht
gewachsen wäre, nicht einstellen, oder entlassen würde. Im Falle des Klägers wird dies
durch die Erklärungen seines Arbeitgebers gedeckt. Dieser hat deutlich gemacht, dass
er den Kläger ohne die Funktionalität seines Gehörs, wie er sie durch die digitalen
Hörgeräte im Rahmen des zweiten Praktikums erreicht hat, nicht übernommen hätte
und ihn auch jetzt nicht weiter beschäftigen könnte. Aus diesem Grunde scheitert auch
der pauschale Verweis der beklagten auf die allgemeine Stellenbeschreibung des
Bürokaufmannes. Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (s. o.) kann dies ggf. von
Bedeutung sein. Im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben hingegen
nicht, da hier die konkrete Tätigkeit vorrangig zu beurteilen ist. (vgl. insofern Hohmann
aaO Rn 178 f.)
Die Argumentation, die abgeschlossenen Praktika sprächen dagegen, dass der Kläger
die Tätigkeit als Bürokaufmann ohne digitale Hörgeräte meistern könnte ist unbehelflich.
Zum einen verkennt die Beklagte, dass ein Praktikum nicht durch eine Prüfung oder
ähnliches abgeschlossen wird, sondern völlig unabhängig von den Leistungen bis zum
Ende gebracht werden kann, zum anderen berücksichtigt die Beklagte nicht, dass das
erste Praktikum den Arbeitgeber des Klägers grade nicht überzeugt hätte diesen
einzustellen und dass gerade dieses Praktikum mit dem analogen Gerät durchgeführt
wurde. Das zweite Praktikum hingegen, das der Kläger dann mit den digitalen
Hörgeräten absolvierte, überzeugte den Arbeitgeber den Kläger fest einzustellen.
Auch der Verweis auf die ablehnende Entscheidung der Kammer vom 15. November
2006 in dem Verfahren S 5 R 305/05 geht fehl. Der dort entschiedene Sachverhalt ist mit
dem hier vorliegenden Sachverhalt überhaupt nicht zu vergleichen. In dem 2006
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dem hier vorliegenden Sachverhalt überhaupt nicht zu vergleichen. In dem 2006
entschiedenen Rechtsstreit ging es um eine Klägerin, welche ihre berufliche Tätigkeit
über einen Zeitraum von vier Jahren mit den analogen Hörhilfen ausüben konnte und
ausgeübt hat. Sie war mithin in der Lage ihre arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen.
Der Kläger hier hat nur eine kurze Zeit (erstes Praktikum) mit den analogen Hörhilfen
gearbeitet und konnte in dieser Zeit wegen des schlechten Hörvermögens seinen
Arbeitgeber nicht überzeugen ihn einzustellen. Sofern das Urteil der Kammer von 2006
auf die Ausschließlichkeit (welche im Gesetz nicht ausdrücklich verankert ist und lediglich
im Rahmen der Auslegung der Wendung der „Erforderlichkeit zur Berufsausübung“
überhaupt entscheidungsrelevant wird) der Benutzung der Hörhilfen im Bereich der
Berufsausübung abstellt und hierbei den Schluss zieht, dass jeder Mehrbedarf, der auch
im privaten Bereich noch vorhanden ist und aus dem der Betroffenen Nutzen, sowohl im
Beruf, als auch im Privaten zieht, geht dies wohl zu weit. Die Kammer distanziert sich
hiermit ausdrücklich von dieser Rechtsauffassung und stellt insofern klar, dass die
Betrachtungsweise nicht dergestalt erfolgen darf, dass jeder Vorteil der im Privaten, wie
auch im beruflichen Bereich gleichsam vorhanden ist zum Wegfall der Berufsbezogenheit
führt. Viel mehr muss für jeden konkreten Einzelfall folgende Überlegung angestellt
werden; jeder Nachteil, der im Beruf ausgeglichen werden soll, darf nicht schon durch
eine Nachteilsausgleichung im Privaten abgedeckt sein.
Würde auf die bloße Vorteilsbetrachtungsweise abgestellt werden, wären Leistungen
nach § 33 Absatz 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX undenkbar. Jeder Mehrbedarf für den Beruf stellt
einen Gewinn auch im privaten Bereich dar. Weder der Kammer, noch den Beteiligten
war es in der mündlichen Verhandlung möglich eine spezifische Nachteilsausgleichung
im Beruf zu benennen, die nicht auch einen gleichen Vorteil im privaten Bereich nach
sich gezogen hätte. Ein plastisches Beispiel mag der Verlust eines Beines sein. Im
privaten Bereich ist der Betroffene ggf. auf eine Gehstütze verweisbar. Im beruflichen
Bereich hingegen müsste eine Prothese angeschafft werden. Es liegt auf der Hand, dass
die Prothese dem Betroffenen im privaten Bereich ebenso hilfreich ist, dies ändert aber
nichts daran, dass der Betroffene diese vornehmlich für den beruflichen Bereich
benötigt. Dieser Vergleich kann soweit gehen, dass der Betroffene die Prothese einzig
auf seiner Arbeitsstätte hinterlässt und dort nutzt, im privaten aber mit einer Gehstütze
lebt. Es wäre allerdings aus Sicht der Kammer, unter dem Blickwinkel des Artikels 1 des
Grundgesetzes, mit der Achtung der Menschenwürde nicht vereinbar dem Betroffenen in
dem Beispiel tatsächlich zuzumuten seine Prothese nur auf der Arbeit zu nutzen.
Finanziell hätte dies im Übrigen zur Folge, dass sowohl die Gehstütze, als auch die
Prothese bezahlt werden müssten. Es würden also doppelte Kosten entstehen, die dem
Grundsatz der Wirtschaftlichkeit entgegenstehen würden.
Nicht anders verhält es sich mit der Hörhilfe des Klägers. Dieser hat im gesamten
Verfahren mehrfach deutlich und auch glaubhaft gemacht, dass er für den privaten
Bereich mit den analogen Geräten voll zufrieden wäre und die digitalen Geräte allein für
den Beruf benutzen würde. Die Kammer erachtet es aber aus den o. g. Erwägungen
nicht für angebracht hier zu einer strengen, tatsächlichen Aufspaltung der Versorgung in
den verschiedenen Lebensbereichen und damit zu der, vorstehend dargestellten,
doppelten finanziellen Belastung der Leistungsträger zu kommen.
dd) Zur vollen Überzeugung der Kammer sind die vom Kläger ursprünglich begehrten
digitalen Hörhilfen hier für die Berufsausübung des Klägers in seinem konkreten Beruf
erforderlich. Die Beklagte hat insofern auch kein Ermessen mehr auszuüben (vgl.
Hohmann aaO § 33 Rn 179 f.). Eventuelle Ermessenserwägungen betreffen nur noch die
Auswahl des konkreten Gerätes, nicht aber mehr dessen Leistungsumfang und (im
vorliegenden Fall), ggf. die Grundsätze über das Systemversagen (dazu unter c).
b) Diesen Anspruch hat die Beklagte zum einen formell durch Bescheid vom 9. März
2005 abgelehnt, zum anderen erfolgte die Ablehnung zu Unrecht. Der Kläger hatte einen
konkreten Rechtsanspruch gegen die Beklagte auf Ausstattung mit Sachleistungen (s.
unter a) und das Ermessen der Beklagten ist ausgeübt worden, bzw. unbeachtlich (vgl.
dazu unter c).
c) Durch das Urteil des BSG vom 21. August 2008 (aaO) wurde offen gelassen, ob die
Grundsätze des Systemversagens zu beachten sind (BSG aaO Rn 26). Ungeachtet
dessen kommt es hier darauf nicht an, da selbst wenn diese zu beachten wären, diese
Grundsätze eingehalten wurden. Der Kläger hat hier alles in seinem Können stehende
getan um die finanzielle Belastung der Beklagten gering zu halten. Hier verfängt
insbesondere der Einwand der Beklagten nicht, es hätte in ihrem Ermessen gestanden
über die konkrete Sachleistung zu entscheiden und ggf. ein kostengünstigeres Hörgerät,
bei gleicher Leistungsfähigkeit, für den Kläger auszuwählen. Der Beschluss der Kammer
vom 2. Februar 2006 verpflichtete die Beklagte nämlich nur „den Kläger bis zum
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vom 2. Februar 2006 verpflichtete die Beklagte nämlich nur „den Kläger bis zum
Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit Hörhilfen zu versorgen, die über ein
Richtmikrofon, ein Telefonprogramm und eine automatische Programmumschaltung
verfügen“. Die Beklagte hat dann in ihrem Ausführungsbescheid vom 15. Juni 2006 das
von dem Kläger favorisierte Modell kostenmäßig übernommen. Es hätte ihr, auch nach
dem Beschluss der Kammer, freigestanden, ihr Ermessen dahingehend auszuüben ein
anderes Modell, mit den gleichen technischen Voraussetzungen, deren Erforderlichkeit
festgestellt wurde und worüber kein Ermessen auszuüben war, (dazu unter a)
auszuwählen. Von Ihrer Wahlmöglichkeit hat die Beklagte offenbar keinen Gebrauch
gemacht. Ob die Beklagte sich im Zeitpunkt des Erlasses des Ausführungsbescheides
darüber im Klaren war, dass sie Ermessen habe und dieses nun nicht ausgeübt hat, oder
ob die Beklagte durch die Auswahl des konkreten Gerätes ihr Ermessen dahingehend
doch ausgeübt hat, vermag die Kammer heute nicht mehr aufzuklären. Ebenso konnte
nicht mehr ermittelt werden, ob überhaupt ein kostengünstigeres Modell zur Verfügung
stand und wie hoch dessen Kosten konkret gewesen wären. Die Beklagte hat ihren
Vortrag dahingehend auch nicht genügend substantiiert, dass die Kammer von Amts
wegen hätte Nachforschungen anstellen können. Diese Unaufklärbarkeit des
Sachverhaltes geht zu Lasten desjenigen, der einen Vorteil daraus ziehen will (st. Rpsr.
seit BSG 24. Oktober 1957, 10 R V 946/55). Es wäre im Übrigen auch
Vertrauensschutzwidrig, wenn die Beklagte sich hier Ihrer Kostentragungspflicht
entziehen könnte, indem Sie behauptet, sie habe ihr Ermessen bei der Bescheidung des
Klägers nicht ausgeübt und daher sei ihm zuzurechnen, dass ggf. ein zu teures Gerät
angeschafft wurde. Aus diesen Gründen war auch keine Kürzung des Anspruches des
Klägers gegenüber der Beklagten vorzunehmen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ergebnis der
Hauptsache.
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