Urteil des SozG Chemnitz vom 02.02.2007

SozG Chemnitz: gemeinsamer haushalt, unterhalt, versicherung, wohngemeinschaft, zusammenleben, hauptsache, glaubhaftmachung, wahrscheinlichkeit, deckung, zivilprozessordnung

Sozialgericht Chemnitz
Beschluss vom 02.02.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 6 AS 2684/06
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, vorläufig davon auszugehen, dass Herr F. nicht zur Bedarfsgemeinschaft der
Antragstellerin gehört. II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren notwendig entstandene außergerichtliche
Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Mit Bescheid vom 29.03.2006 bewilligte die Antragsgegnerin der am ...1967 geborenen Antragstellerin Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Zeitraum 01.05.2006 bis 31.10.2006. Der Bescheid
enthielt den Hinweis, dass als weiteres Mitglied der Bedarfsgemeinschaft der Antragstellerin der Sohn der
Antragstellerin, ... (geboren am ...1990), angesehen wird.
Mit Schreiben vom 21.08.2006 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zur Mitwirkung nach § 60 SGB I auf.
Es sollte geprüft werden, ob die Antragstellerin mit Herrn ... in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebt.
Mit Schreiben vom 03.09.2006 wies die Antragstellerin darauf hin, sie lebe mit Herrn ... nicht in einer Verantwortungs-
und Einstehungsgemeinschaft, sondern in einer Wohngemeinschaft. Gemeinsame Konten oder
Verfügungsberechtigungen seien nicht vor-handen. Es gebe kein gegenseitiges Einstehen in den Not- und
Wechselfällen des Lebens. Sie erhalte von Herrn ... keine finanzielle Unterstützung. Der Wohnungsmietvertrag sei nur
von ihr unterschrieben. Die Miete werde geteilt.
Mit Erklärung vom 04.09.2006 bestätigte Herr ... die Angaben der Antragstellerin. Er sei gegenüber der Antragstellerin
nicht zum Unterhalt verpflichtet. Es bestehe keine gemeinsame finanzielle Planung, sondern Eigenständigkeit.
Mit Bescheid vom 18.10.2006 wurden der Antragstellerin Leistungen ab 01.10.2006 ganz versagt. Die Antragstellerin
sei ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen. Die ange-forderten Unterlagen und Nachweise seien nicht vorgelegt
worden.
Am 10.11.2006 stellte die Antragstellerin Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Sie habe gegen den
Aufhebungsbescheid der Antragsgegnerin vom 18.10.2006 bereits Widerspruch eingelegt. Jedoch habe sie seit
Oktober 2006 keinerlei Leistungen mehr bezogen. Deswe-gen mache sich der Eilantrag erforderlich.
Mit Schriftsatz vom 27.11.2006 wies die Antragsgegnerin darauf hin, die Antragstellerin bewohne seit 1989 mit Herrn
... und mit dem gemeinsamen Sohn ... gemeinsame Wohnungen. Entsprechend des zum 01.08.2006 neu eingefügten
§ 7 Abs. 3 a Nr. 1 und 2 SGB II sei daher zu vermuten, dass zwischen der Antragstellerin und Herrn ... der
wechselseitige Wille bestehe, Verantwortung füreinander zu tragen und für-einander einzustehen. Daher gehöre Herr ...
zur Bedarfsgemeinschaft der Antrag-stellerin.
Mit Erklärung vom 01.12.2006 bestätigte Herr ... in einer eidesstattlichen Versi-cherung, er sei weder verpflichtet noch
bereit, die Antragstellerin finanziell zu unterstützen. Jeder trage die Kosten der Wohnung zu 50 %. Er zahle nur
Unterhalt für ... Er führe sein eigenes Leben und gebe sein Geld ausschließlich zur Befriedigung eigener Bedürfnisse
und zur Erfüllung eigener Verpflichtungen aus.
Die Antragstellerin bestätigte mit einer eidesstattlichen Versicherung vom 10.01.2007, dass sie von Herrn ... kein
Geld für den Lebensunterhalt erhält.
Mit Schreiben vom 21.01.2007 legte die Antragstellerin Kopien von Kontoauszügen vor. Danach erhielt die
Antragstellerin z.B. jeweils am 05.10.2006 Zahlungen per Überweisung von Herrn ... in Höhe von 170,00 EUR für den
Unterhalt ... und in Höhe von 188,00 EUR als Mietanteil Wohngemeinschaft.
II.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in
Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden
Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach
Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig
erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch,
also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen
Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die
Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.
Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine
Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anord-nungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw.
Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsanspruch) zu verringern sind und umgekehrt.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein beweg-
liches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG &8722; Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rn. 27 und 29 m.w.N.).
Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder un-begründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung
abzulehnen, weil ein schützenswer-tes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen
offensichtlich be-gründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem
Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen
Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offe-nem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine
vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwä-
gung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des An-tragstellers umfassend in die
Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bun-desverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte
schützend und fördernd vor die Grund-rechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05).
Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)
i.V.m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei sind, soweit im Zusammenhang mit dem
Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch,
sondern abschließend zu prüfen (Bundesverfassungsgericht, a.a.O.). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen
lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde
Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des
Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Rn. 16 b, 16 c, 40).
Die Antragstellerin hat nach Ansicht des Gerichts einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Das Gericht geht nicht davon aus, dass die Antragstellerin und Herr ... in einem ge-meinsamen Haushalt leben. Damit
gehört Herr ... nicht zur Bedarfsgemeinschaft der Antragstellerin.
Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus
eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann
und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält.
Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft le-ben, das Einkommen und
Vermögen des Partners zu berücksichtigen.
Zur Bedarfsgemeinschaft gehören gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II in der ab 01.08.2006 geltenden Fassung als
Partner der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem
gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen
ist, Verantwor-tung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
Gemäß § 7 Abs. 3a SGB II wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander
einzustehen, vermutet, wenn Partner
1. länger als ein Jahr zusammenleben,
2. mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4. befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.
Die Vorschrift des § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II ist nach Ansicht des Gerichts so zu verstehen, dass zunächst ein
gemeinsamer Haushalt vorliegen muss und das Zusammenleben in diesem gemeinsamen Haushalt zusätzlich noch
eine bestimmte Qualität haben muss ("so zu-sammenlebt"). Diese Qualität des Zusammenlebens muss eine Ebene
erreichen, auf der der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinan-der
einzustehen. Ob eine solche Ebene erreicht ist oder eine solche Qualität des Zusam-menlebens zumindest zu
vermuten ist, wird in § 7 Abs. 3a SGB II dann näher erläutert.
Zunächst ist jedoch nach Ansicht des Gerichts zu prüfen, ob ein gemeinsamer Haushalt vorliegt. Ein gemeinsamer
Haushalt wird nur geführt, wenn auch eine Wirtschaftsgemeinschaft vorliegt (vgl. Brühl in: Lehr- und Praxiskommentar
von Münder zum SGB II, Rn. 49 zu § 7 SGB II).
Sowohl Herr ... (eidesstattliche Versicherung vom 01.12.2006) als auch die Antrag-stellerin (eidesstattliche
Versicherung vom 10.01.2007) haben erklärt, dass ein gemeinsames Wirtschaften nicht vorliegt. Es gibt keine
gemeinsamen Konten oder Kontovollmach-ten. Herr ... hat überdies in der eidesstattlichen Versicherung vom
01.12.2006 erklärt, er sei nicht bereit, die Antragstellerin finanziell zu unterstützen.
Dieser Vortrag wird gestützt durch die Vorlage der Kontoauszüge, beispielsweise denjeni-gen vom 07.10.2006. Daraus
ist ersichtlich, dass Herr ... am 05.10.2006 einen Betrag von 188,00 EUR Mitanteil Wohngemeinschaft an die
Antragstellerin überwiesen hat, weiter-hin einen Betrag 170,00 EUR als Unterhalt für ...
Damit liegt ein gemeinsames Wirtschaften aus Sicht des Gerichts nicht vor. Die Antrag-stellerin und Herr ... führen
keinen gemeinsamen Haushalt im Sinn des § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II. Schon deswegen gehört Herr ... nicht zur
Bedarfsgemeinschaft der Antragstellerin. Eine Prüfung der Qualität des Zusammenlebens der Antragstellerin und des
Herrn ... ist damit nicht mehr erforderlich.
Schon damit liegt nach Ansicht des Gerichts ein Anordnungsanspruch vor. Nachdem ande-re Möglichkeiten der
Antragstellerin, ihren Lebensunterhalt zu sichern, nicht ersichtlich sind, liegt auch eine Eilbedürftigkeit und somit ein
Anordnungsgrund vor. Der Anord-nungsanspruch indiziert hier gleichsam den Anordnungsgrund.
Dem Antrag war daher wie tenoriert stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Auch wenn man entgegen der Ansicht des Gerichts annehmen wollte, dass die Antragstel-lerin und Herr ... einen
gemeinsamen Haushalt führen und damit eine Bedarfsgemeinschaft bilden, wäre dem Antrag wie tenoriert,
stattzugeben.
Die Antragsgegnerin unterstellt, dass jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft sein Einkommen zur Deckung des
Gesamtbedarfs aller Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft einsetzt. Dieses Verhalten wird nach Ansicht der
Antragsgegnerin von jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft erwartet.
Für den Fall, dass diese Erwartung nicht erfüllt wird, bietet die Antragsgegnerin jedoch keine Lösung an.
Auch im SGB II ist ein solcher Fall der "Erwartungsverweigerung" – soweit ersichtlich – nicht ausdrücklich geregelt.
Jedoch geht das Gericht davon aus, dass der Gesetzgeber ein Mitglied der Bedarfsgemein-schaft nicht für den Fall
schutzlos lassen wollte, dass es von anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft trotz einer etwaigen rechtlichen
Verpflichtung tatsächlich nicht unter-stützt wird. Das Gericht geht davon aus, dass der Gesetzgeber auch innerhalb
der Bedarfs-gemeinschaft keine rechtsfreien Räume schaffen wollte. Daher muss auch ein Fall wie vorliegend durch
die Vorschriften des SGB II lösbar sein.
Diesen Lösungsansatz sieht das Gericht im Text der Vorschrift des § 9 Abs. 1 SGB II ent-halten. Die
Hilfebedürftigkeit ist nach Ansicht des Gerichts zunächst daran zu prüfen, ob jemand tatsächlich in der Lage ist,
seinen Lebensunterhalt zu sichern. Dieses Abstellen auf den tatsächlichen Bereich entnimmt das Gericht dem Wort
"kann" sowie dem Wort "er-hält" im Text des § 9 Abs. 1 SGB II.
Für den Fall, dass jemand tatsächlich nicht in der Lage ist, über die für seinen Lebensunterhalt erforderlichen
Geldmittel zu verfügen, muss Hilfebedürftigkeit auch dann ange-nommen werden, wenn andere Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft über genügend Ein-kommen verfügen, um die Bedarfsgemeinschaft insgesamt zu versorgen.
Nach Ansicht des Gerichts kann die Hilfebedürftigkeit eines einzelnen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft nicht daran
scheitern, dass die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft die Erwartung nicht erfüllen, ihr Einkommen für die
Bedarfsgemeinschaft einzusetzen.
In einem solchen Fall muss die Hilfebedürftigkeit des Einzelnen dann in der Weise vorgenommen werden, dass das
"verweigernde" Mitglied der Bedarfsgemeinschaft rechnerisch aus der Bedarfsgemeinschaft herausgenommen wird.
Im vorliegenden Fall liegt die eben beschriebene Konstellation vor. Die Antragstellerin ist tatsächlich nicht in der Lage,
ihren Lebensunterhalt aus dem (weiteren) Einkommen des Herrn ... sicher zu stellen. Herr ... hat auch mit Erklärung
vom 01.12.2006 die finanzielle Unterstützung der Antragstellerin über den tatsächlich durchgeführten Umfang hinaus
verweigert.
Damit ist entsprechend der Rechtsansicht des Gerichts glaubhaft, dass ein Anordnungsanspruch besteht. Die
Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II an die Antragstellerin scheitert nach den Ausführungen der
Antragsgegnerin an der etwaigen Anrechnung des Einkommens des Herrn ... Diese Anrechnung ist nach Ansicht des
Gerichts, wie ausgeführt, deswegen nicht möglich, weil Herr ... die Weitergabe von weiteren Mitteln aus seinem
Einkommen an die Antragstellerin verweigert. Hier muss zumindest vorläufig die Antragsgegnerin die Hilfebedürftigkeit
der Antragstellerin ohne Berücksich-tigung des weiteren Einkommens des Herrn ... berechnen.
Obwohl für die vorliegende Entscheidung nicht erheblich, möchte das Gericht darauf hinweisen, dass die
Antragsgegnerin gemäß § 33 Abs. 1 SGB II die Möglichkeit hat, etwaige Ansprüche der Antragstellerin gegen Herrn ...
zu verfolgen. § 33 Abs. 1 SGB II normiert einen gesetzlichen Anspruchsübergang. Hier wäre dann ggf. zu klären, ob
durch das SGB II selbst Zahlungsansprüche zwischen den einzelnen Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern normiert sind.