Urteil des SozG Bremen vom 26.06.2009

SozG Bremen: ernährung, hypertonie, unfall, hauptsache, erlass, empfehlung, stadt, erblindung, behinderung, auflage

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 26.06.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 23 AS 1087/09 ER
Der Antrag wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung eines Mehrbedarfs für
kostenaufwändige Ernährung sowie eines Mehrbedarfs bei Erwerbsunfähig-keit.
Der 1957 geborene Antragsteller erlitt in den Jahren 1984 und 1986 schwere Verkehrsunfälle. Bei dem ersten Unfall
erlitt er nach eigenen Angaben einen doppelten Schädelbruch mit Hirn-trauma und Erblindung des linken Auges, einen
gelenknahen Oberarmbruch, zwei Unterarm-brüche, einen Gelenkbruch des linken Ellenbogens, eine
Nervenschädigung der linken Hand, ein Lungentrauma, einen Herzklappenriß, einen zweifachen Oberschenkelbruch
sowie einen endgradigen Unterschenkelkopfbruch. Er lag nach dem Unfall mehr als vier Wochen im Koma. Bei dem
zweiten Unfall erlitt er nach seinen Angaben einen endgradigen Trümmerbruch des Schulterblatts links, einen Bruch
des linken Oberarmgelenkkopfs sowie des Brustbeins und des Oberschenkelhalses, außerdem platze ein
Knochenstück vom Halswirbel ab. Seit 1991 ist ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt. Nach eigener
Einschätzung des Antragstellers hat er durch die Unfälle verschiedene, teils schmerzhafte orthopädische
Behinderungen, eine Erblindung des linken Auges sowie Herz- und Kreislaufbeschwerden bereits bei leichter Be-
lastung, Bluthochdruck und Atemnot zurückbehalten.
Der Antragsteller steht im laufenden Leistungsbezug bei der Antragsgegnerin, der Trägerin der Grundsicherung in A-
Stadt. Bis zum 30. Juni 2009 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen unter Berücksichtigung
eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von 25,56 Euro (Bescheid vom 25. November 2008). Mit
Schreiben vom 25. Mai 2009 (Bl. 89) forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Vorlage der "Anlage MEB" bis
zum 11. Juni 2009 auf. Bereits mit Bescheid vom 26. Mai 2009 bewilligte die An-tragsgegnerin dem Antragsteller
vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. De-zember 2009 ohne Berücksichtigung des Mehrbedarfs.
Sie führte aus, über die Leistungs-erbringung könne nicht abschließend entschieden werden. Die Weitergewährung
des Mehr-bedarfs komme nicht in Betracht, weil nach neueren medizinischen Erkenntnissen – die in die neuen
Empfehlungen des Deutschen Vereins eingeflossen seien - nicht mehr von einem er-höhten Ernährungsbedarf
auszugehen sei.
Am 9. Juni 2009 hat der Antragsteller das Gericht um die Gewährung vorläufigen Rechts-schutzes ersucht. Er erklärt,
er sei am 18. Mai 2009 im Auftrage des Arbeitsamtes von einer Frau Dr. AQR. untersucht worden (hiervon ist in den
von der Antragsgegnerin übersandten Akten nichts enthalten). Diese hätte ihm erklärt, aus dem Befund von Dr. ACD.
vom Kranken-haus Links der Weser ergebe sich keine Herzerkrankung. Er – der Antragsteller – sei damit
leistungsfähig. Nachdem er hierauf erwidert habe, dass sie offenbar nicht urteilsfähig sei, ha-be Dr. AQR. die
Untersuchung abrupt abgebrochen. Er habe dann anschließend den Be-scheid vom 26. Mai 2009 erhalten. Zugleich
habe er ein Schreiben der Antragsgegnerin erhal-ten, wonach er seinen bereits mehrfach nachgewiesenen
Gesundheitszustand nochmals nachweisen sollte. Der Antragsteller hat vier Atteste von Dr. YP. eingereicht. Nach
dem Attest 8. Januar 2007 leidet der Antragsteller an einem Vorhofflimmern, Tachyarrhythmie, einem
Aortenklappenersatz, Hypertonie und Periarthropathia humeroscapularis links. Nach dem At-test vom 16. Juli 2007 ist
die Leistungsfähigkeit des Antragstellers aufgehoben. Das Attest vom 26. Juli 2008 stellt einen Zustand nach
Aortenklappenersatz, eine Amaurosis links und einen Zustand nach Trümmerfraktur des Oberarms und des
Schultergelenks sowie einen Zu-stand nach Oberschenkelfraktur links fest. Nach dem Attest vom 3. Februar 2009 ist
der An-tragsteller arbeits- bzw. leistungsunfähig.
Die Antragsgegnerin meint, ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung könne nach derzeitigem
Kenntnisstand nicht gewährt werden. Mit Schreiben vom 25. Mai 2009 sei der Antragsteller aufgefordert worden, einen
entsprechenden Nachweis vorzulegen, namentlich die Anlage MEB. Erst nach Vorlage könne endgültig über einen
eventuellen Anspruch ent-schieden werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Verwal-tungsakte Bezug
genommen.
II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf Erlass einer einstwei-ligen Anordnung ist
zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7.
Auflage 2002, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen Rechts-schutzverfahren nur einer
summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der An-tragsteller glaubhaft machen, dass ihm aus dem
Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-Ladewig, aaO, Rn. 29, 36). Der
Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche belastende Auswirkungen des Ver-
waltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss die An-ordnung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet zugleich, dass nicht alle Nachteile
zur Geltendmachung vorläufigen Rechts-schutzes berechtigen. Bestimmte Nachteile müssen hingenommen werden
(Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein Abwarten bis zu einer Ent-scheidung in
der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, bemisst sich an den Interessen der Antragssteller
und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer betei-ligter Dritter. Dabei reichen auch wirtschaftliche Interessen
aus (vgl. Binder, a.a.O.).
Es kann dahinstehen, ob ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) vorliegt.
Für den Erlass der Anordnung fehlt es jedenfalls am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs.
1. Der Antragsteller kann wegen der geltend gemachten orthopädischen Leiden nach vorläufi-ger Prüfung der Sach-
und Rechtslage keinen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernäh-rung gem. § 21 Abs. 5 SGB II geltend machen.
Ein solcher Mehrbedarf setzt nämlich voraus, dass eine (besonders) kostenaufwändige Ernährung erforderlich ist
(Lang/Knickrehm, in: Ei-cher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 21 Rn. 49). Bei den vorliegenden orthopädischen Lei-
den ist aber nicht ersichtlich, inwiefern diese eine (besonders) kostenaufwändige Ernährung erforderlich machen
sollten.
2. Auch wegen der nach den vorliegenden ärztlichen Attesten bestehenden Herzleiden ist eine kostenaufwändige
Ernährung nach vorläufiger Prüfung nicht erforderlich. Dies gilt auch für die diagnostizierte Hypertonie. Es erscheint
bereits zweifelhaft, ob wegen der insofern er-forderlichen natriumdefinierten Kost überhaupt ein Mehrbedarf zu
gewähren ist (ablehnend: die neuen Empfehlungen des Deutschen Vereins). Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts
hat die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung wegen Hypertonie abgelehnt. Sie hat dies u.a.
darauf gestützt, dass der Sozialmedizinische Dienst des Gesund-heitsamtes A-Stadt bestätigt hat, dass für
Hypertonie kein ernährungsbedingter Mehrbedarf erforderlich ist (Urteil vom 26. November 2007, Az. S 8 K 2618/06).
Außerdem seien alle re-nommierten Fachgesellschaften der Überzeugung, dass es eine Diabetes-, Hypertonie- oder
Dyslipoproteinämie-Kost nicht mehr gebe. Aufgrund dieser aktuellen wissenschaftlichen Er-kenntnisse habe der
Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge bereits vor Jahren eine Arbeitsgruppe zwecks Überarbeitung der
Ernährungsmehrbedarfe ins Leben gerufen. Der begehrte Mehrbedarf kann aber bereits deshalb nicht gewährt werden,
weil im vorliegen-den Fall nicht ersichtlich ist, dass die für den Antragsteller erforderliche Kost kostenaufwändi-ger ist
als die normale Ernährung. Es ist keiner der Fälle gegeben, für die der Deutsche Ver-ein eine entsprechende
Empfehlung abgegeben hat. Zwar besteht eine solche Empfehlung für natriumdefinierte Kost bei Hypertonie mit
Ödemen und auch bei Hypertonie bei Adipositas (25,56 bzw. 27,00 Euro), aber nicht allgemein bei natriumdefinierter
Kost.
3. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage auch kein
sonstiger Fall gegeben, bei dem ein Mehrbedarf gerechtfertigt wäre. Dies gilt insbesondere für einen Mehrbedarf bei
Behinderung gem. § 21 Abs. 4 SGB II. Da-nach erhalten erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige einen Mehrbedarf,
allerdings nur dann, wenn ihnen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur
Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen gem. § 54 SGB XII erbracht werden.
Dieser Voraussetzungen sind nicht gegeben. Zwar ist der Antragsteller ein erwerbsfähiger behinderter Hilfebedürftiger.
Er erhält aber keine der ge-nannten Leistungen.
4. Auch aus dem Verwaltungsvorgehen der Antragsgegnerin folgt nichts anderes. Es er-scheint zwar fraglich, wieso
die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 25. Mai 2009 zur Vorlage von Unterlagen auffordert und sie
ihm bereits am Folgetag – am 26. Mai 2009 -, und zwar noch vor Ablauf der am Vortag gesetzten Frist einen
Bescheid in der Sache übersendet. Hieraus ergibt sich indes jedenfalls kein Anspruch auf die Gewährung der be-
gehrten Leistungen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
6. Der Beschluss ist nicht anfechtbar, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG, weil in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig
wäre. Der Antragssteller ist mit einem Betrag von (6 mal 25,56 Euro gleich) 153,36 Euro beschwert, der Schwellenwert
für eine zulässige Berufung liegt bei 750,00 Euro, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.