Urteil des SozG Bremen vom 20.04.2009

SozG Bremen: eigenes verschulden, härtefall, ausbildung, universität, mittellosigkeit, stadt, folgekosten, hauptsache, interessenabwägung, heizung

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 20.04.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 23 AS 599/09 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin darlehnsweise
Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 699,40 Euro im Monat in der Zeit vom 1. April bis zur Erlangung des
Magisters, längstens aber bis zum 30. September 2009 zu gewähren. Die Leistungsgewährung erfolgt vorläufig und
unter dem Vorbehalt der Rückforderung.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin – die als Studentin derzeit ihre Magisterarbeit verfasst – begehrt die Weitergewährung von
Leistungen nach dem SGB II.
Die 1967 geborene Antragstellerin studiert seit 1997 an der Universität A-Stadt Kulturwissenschaft (Nebenfächer:
Germanistik und Kunstwissenschaft). Sie finanzierte während des Studiums ihren Lebensunterhalt mit
Nebenbeschäftigungen. Im Oktober 2007 endete die Beschäftigung der Antragstellerin als Veranstaltungskoordinatorin
beim Universum A-Stadt. Seit Oktober 2007 bezog sie zunächst neben Arbeitslosengeld (I) darlehnsweise Leistungen
von der Antragsgegnerin, der Trägerin der Grundsicherung in A-Stadt. Bei der Leistungsgewährung legte die
Antragsgegnerin die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 300,00 Euro (seit November 2007)
sowie Heizkosten in Höhe von 48,40 Euro zu Grunde (Bl. 50a d. A.). Ab dem 1. April 2008 ließ sich die Antragstellerin
vom Studium beurlauben (Urlaubssemester), und erhielt die Leistungen von der Antragsgegnerin als Zuschuss
(Bescheid der Antragsgegnerin vom 1. April 2008 für die Zeit ab dem 1. April 2008). Mit Schreiben vom 3. März 2009
teilte die Antragstellerin der Antragsgegnerin mit, dass sie sich zum Sommersemester 2009 regulär zum Studium
zurückmelden werde, um ihr Studium abzuschließen. Sie beantrage daher die Weiterbewilligung von darlehnsweisen
Leistungen als Härtefall. Zum Abschluss des Studiums fehlten noch die Magisterarbeit sowie die mündliche
Abschlussprüfung. Sie werde die Magisterarbeit zum 1. April 2009 anmelden und rechne damit, das Studium dann
innerhalb von höchstens vier Monaten abschließen zu können (Bl. 139). Mit Bescheid vom 13. März 2009 lehnte die
Antragsgegnerin den Antrag ab. Zur Begründung verwies sie auf § 7 Abs. 5 und Abs. 6 SGB II (Leistungsausschluss
für Auszubildende). Den hiergegen mit Schreiben vom 17. März 2009 erhobenen Widerspruch begründete die
Antragstellerin damit, dass sie anderweitige Leistungen für den Abschluss des Studiums nicht erhalten könne.
Leistungen nach dem BAföG kämen wegen Überschreitung der Altersgrenze und der Fachsemesteranzahl nicht in
Betracht. Aus demselben Grunde kämen auch Bildungskredite nicht in Frage. Sie könne den Abschluss des Studiums
auch nicht aus bestehendem Vermögen bestreiten. Sie sei ohne eigenes Verschulden im Oktober 2007 arbeitslos
geworden und könne seither ihren Lebensunterhalt und ihr Studium auch nicht mehr selbst finanzieren. Für eine
weiterführende Berufsperspektive fehle es ihr dank ihrer Nebentätigkeiten zwar nicht an Berufserfahrung; ohne einen
Studienabschluss helfe ihr dies jedoch wenig. Sofern sie das Studium ohne Abschluss beende, stehe sie ohne
jeglichen Ausbildungsabschluss da. Den Abschluss könne sie innerhalb von zwei bis vier Monaten erwerben. Mit
Schreiben vom 23. März 2009 forderte die Antragsgegnerin bei der Antragstellerin eine ausführliche Begründung des
Widerspruchs und Nachweise an, warum die Antragstellerin ihre Ausbildung bisher nicht abgeschlossen hat.
Außerdem bat sie um eine Bestätigung der Universität, wann mit dem Abschluss der Ausbildung zu rechnen sei.
Am 27. März 2009 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie
ist der Auffassung, die Antragsgegnerin sei zur vorläufigen Fortzahlung der Leistungen verpflichtet. Sie, die
Antragstellerin, habe sich seit Eintritt der Arbeitslosigkeit intensiv um eine Beschäftigung bemüht. Die Bewerbungen
lägen der Antragsgegnerin vor. Die meisten potenziellen Arbeitgeber hätten ein abgeschlossenes Studium
vorausgesetzt. Der Antragstellerin sei mehrfach der Rat erteilt worden, zunächst ihr Studium abzuschließen. Deshalb
habe die Antragstellerin sich dazu entschlossen, den Magisterabschluss zu erwerben. Der die Magisterarbeit
betreuende Professor habe ihr zwischenzeitlich erklärt, sie könne das Studium in frühestens drei bzw. spätestens
sechs Monaten abschließen. Zur Erlangung des Studienabschlusses müsse sie, die Antragstellerin, immatrikuliert
sein. Während einer Beurlaubung könne kein Magisterabschluss verliehen werden. Sie – die Antragstellerin – verfüge
über keinerlei finanzielle Reserven. Ihr Dispositionskredit sei ausgeschöpft. Sie sehe keine Möglichkeiten, sich Mittel
bei Freunden oder Verwandten zu leihen. Die Antragstellerin hat eine Bescheinigung der Universität vorgelegt, nach
der sie im Rahmen ihrer Magisterabschlussprüfung eine Klausur im Fach Kulturwissenschaft (sehr gut), eine
Nebenfachprüfung in Germanistik (gut) und eine im Fach Kunstwissenschaft (gut) abgelegt und bestanden hat. Sie hat
weiter ihren Antrag auf Zulassung der Magisterarbeit eingereicht.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten. Sie meint, die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf
Leistungen nach dem SGB II, weil sie als Studierende gem. § 7 Abs. 5 Satz 1 vom Leistungsanspruch
ausgeschlossen sei. Es läge auch kein Härtefall im Sinne dieser Vorschrift vor. Die Antragstellerin habe bereits im
April 2008 gegenüber der Arbeitsvermittlerin erklärt, dass sie ein Urlaubssemester eingelegt habe, um ihre
Magisterarbeit schreiben zu können und dass sie plane, diese bis Oktober 2008 fertig zu stellen. Da das Studium
gleichwohl nicht beendet worden sei, sei zweifelhaft, ob von aktivem Bemühen um einen Abschluss ausgegangen
werden könne. Es sei zudem zweifelhaft, ob die Magisterarbeit tatsächlich zwischenzeitlich angemeldet worden sei.
Jungen Menschen sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich zumutbar, ihr Studium
durch eine Nebentätigkeit zu finanzieren.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig und
begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft
machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-
Ladewig, aaO, Rn. 29, 36). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche
belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss
die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet
zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte
Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein
Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, bemisst sich
an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei
reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a.a.O.).
1. Es liegt bei vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage ein Anordnungsanspruch vor.
a) Die Antragstellerin hat nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage Anspruch auf die Gewährung von
Leistungen nach dem SGB II. Zwar ist der Anspruch der Antragstellerin auf Leistungen dem Grunde nach gem. § 7
Abs. 5 Satz 1 SGB II ausgeschlossen, weil das Studium, das die Antragstellerin absolviert, dem Grunde nach
förderungsfähig nach dem BAföG ist. Die Kammer geht jedoch davon aus, dass ein besonderer Härtefall vorliegt, in
dem gem. § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen erbracht werden
können. Ein solcher besonderer Härtefall liegt dann vor, wenn außergewöhnliche, schwerwiegende, atypische und
möglichst nicht selbst verschuldete Umstände vorliegen, die einen zügigen Ausbildungsverlauf verhinderten oder eine
sonstige Notlage hervorrufen (Bundessozialgericht, Urteil vom 6. September 2007 – B 14/7b As 28/06 R -; Spellbrink,
in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, Rdn. 101 zu § 7 m.w.N.). Daneben ist ein besonderer Härtefall auch dann
anzunehmen, wenn der wesentliche Teil der Ausbildung absolviert ist und der bevorstehende Abschluss lediglich an
Mittellosigkeit zu scheitern droht (so u.a. Hessisches Landessozialgericht (LSG), Beschluss vom 7. November 2006 –
L 7 AS 200/06 ER; LSG Baden – Württemberg, Beschluss vom 9. März 2007 – L 7 As 925/07 ER-B). Insofern ist eine
Interessenabwägung vorzunehmen, bei der zu berücksichtigen ist, welche Folgekosten der Abbruch der Ausbildung
hätte (Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, Rdn. 102 zu § 7). Diese Voraussetzungen sind im
vorliegenden Fall – jedenfalls nach dem Kenntnisstand des Gerichts im Eilverfahren – gegeben. Die Ausbildung ist zu
einem wesentlichen Teil absolviert. Es fehlen zur Erlangung des Abschlusses lediglich noch die Magisterarbeit und
die Magisterprüfung. Die Antragstellerin hat durch Vorlage von Belegen nachgewiesen, dass die Zulassung der
Magisterarbeit beantragt ist. Dass sie zur Ablegung der verbleibenden Prüfungsteile fähig ist, hat sie durch die bereits
abgelegten Prüfungsteile, die gut bzw. sehr gut bewertet wurden, belegt. Die verbliebenen Prüfungen werden
zusammen nach Mitteilung der Universität nur noch höchstens sechs Monate dauern. Der bevorstehende Abschluss –
die Magisterprüfung – droht zudem an der Mittellosigkeit der Antragstellerin zu scheitern, da diese keine anderweitigen
Finanzierungsquellen hat. Auch geht die vorzunehmende Interessenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin aus. Der
Vortrag der Antragstellerin, dass sie mit Abschluss auf dem Arbeitsmarkt bessere Aussichten hat, erscheint plausibel
und ist durch die Aussagen der potenziellen Arbeitgeber bestätigt. Damit ist davon auszugehen, dass der Abbruch
des Studiums höhere Folgekosten hätte als eine kurzfristige darlehnsweise Unterstützung.
b) Die Leistungen für Härtefälle gem. § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II umfassen nicht nur die Regelleistung, sondern auch
die Leistungen für Unterkunft und Heizung (siehe bereits der Beschluss der Kammer vom 18. Februar 2009 - S 23 AS
217/09 ER -). Dies ergibt sich daraus, dass § 7 SGB II keine Norm allein für die Regelleistung ist, sondern den
Zugang zum (gesamten) System des SGB II definiert und steuert (Spellbrink, a.a.O., Rdn. 1 zu § 7). Daraus folgt
zugleich, dass auch der Ausschluss gem. § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II – aber auch der hier streitige Härtefall – nicht nur
für die Regelleistung, sondern auch für die Unterkunfts- und Heizkosten (hier: 348,40 Euro) gilt. Im Übrigen würde die
Härtefallregelung im Wesentlichen ins Leere greifen, wenn sie lediglich für die Regelleistung, nicht aber die
Unterkunfts- und Heizkosten gelten würde.
c) Die Regelleistung ist in Höhe von 351,00 Euro zu gewähren.
2. Es ist auch ein Anordnungsgrund gegeben. Der Antragstellerin ist aufgrund ihrer Mittellosigkeit ein Abwarten bis
zum Ausgang des Widerspruchsverfahrens nicht zumutbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.