Urteil des SozG Bremen vom 22.07.2009

SozG Bremen: aufschiebende wirkung, heizung, wohnung, sanktion, stadt, wasser, kündigung, gas, miete, erlass

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 22.07.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 26 AS 1128/09 ER
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstel-lerin gegen den Änderungsbescheid vom 30.04.2009
wird in-soweit angeordnet, als dort für den Zeitraum 01.05.2009 bis 31.07.2009 ein Minderungsbetrag aufgrund von
Sanktionen be-rücksichtigt wurde. Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anord-nung verpflichtet, der
Antragstellerin für den Zeitraum 01.07.2009 bis 30.09.2009 Kosten für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe
zu gewähren. Die Auszahlung der Leistungen erfolgt vorläufig. Sie stehen unter dem Vorbehalt der Rückforderung. Die
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin hat die An-tragsgegnerin zu erstatten.
Gründe:
I. Die 1969 geborene Antragstellerin beansprucht im Eilverfahren die Gewährung höherer Kosten der Unterkunft sowie
Rechtsschutz gegen eine Sanktionierung. Sie stellte am 19.03.2009 - soweit ersichtlich erstmals - bei der
Antragsgegnerin einen Antrag auf Gewäh-rung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem
Zweiten Buch Sozialge-setzbuch (SGB II) und steht seitdem im durchgehenden Leistungsbezug.
Die Antragstellerin wohnte bis März 2009 zusammen mit ihrem Ehemann und den beiden 1989 und 1992 geborenen
gemeinsamen Töchtern in W ... Seit Mitte März 2009 lebt die An-tragstellerin von ihrem Ehemann dauerhaft getrennt.
Nach ihren Angaben sei die Trennung nicht einvernehmlich erfolgt. Ihr Ehemann sei ihr gegenüber gewalttätig
gewesen. Um weitere Eskalationen zu vermeiden, habe sie die gemeinsame Wohnung verlassen müssen. Ihr Ehe-
mann terrorisiere sie und versuche sie dazu zu bewegen, wieder zu ihm zu ziehen. Die beiden Töchter wohnen nach
wie vor bei dem Ehemann der Antragstellerin.
In der Zeit vom 03.02.2009 bis zum 23.03.2009 übte die Antragstellerin in einem Baumarkt eine Teilzeitbeschäftigung
aus. Aus dieser Tätigkeit erzielte sie insgesamt einen Bruttolohn von 1.306,68 Euro. Im März betrug der Nettolohn -
auch aufgrund einer für die Antragstellerin ungünstigen Steuerklasse - 408,11 Euro. Aufgrund ihres Wegzuges nach A-
Stadt kündigte sie das Arbeitsverhältnis.
Nachdem die Antragstellerin zunächst bei Bekannten unterkam, mietete sie zum 01.04.2009 eine 2-Zimmer Wohnung
im Bremer Stadtteil D. an. Der Mietvertrag war anfänglich bis Ende Juni 2009 befristet. Die Wohnung ist ungefähr 50
qm groß. Die Nettokaltmiete beträgt 400,00 Euro. Hinzu kommen (kalte) Betriebskosten in Höhe von monatlich 40,00
Euro sowie eine Pauschale für Gas, Strom und Wasser in Höhe von zunächst 180,00 Euro (jeweils 60,00 Eu-ro).
Seit dem 01.04.2009 arbeitet die Antragstellerin an einer Tankstelle bzw. in einer Kfz-Werkstatt als Verkäuferin auf
400,00 Euro-Basis. In einem Schreiben des Betriebsinhabers vom 23.03.2009 heißt es: "Ab dem 01.07.2009 besteht
für Frau A. die Option in meiner Firma in eine Festanstellung mit 25 Wochenstunden zu wechseln."
Bereits mit Bescheid vom 30.03.2009 (nicht in der Leistungsakte, vgl. Bl. 17 ff. Gerichtsakte) bewilligte die
Antragsgegnerin für den Zeitraum 19.03.2009 bis 30.09.2009 laufende Leistun-gen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes. Ab dem 01.04.2009 gewährte die Antragsgegnerin an Kosten für Unterkunft und Heizung monatlich
444,00 Euro (384,00 Euro Bruttokaltmiete unter Berücksichtigung eines Ortsteilszuschlages von 20 % für D.
zuzüglich 60,00 Euro Heiz-kosten).
Nach entsprechender Anhörung senkte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 20.04.2009 die Leistungen der
Antragstellerin für den Zeitraum 01.05.2009 bis 31.07.2009 um 105,00 Euro monatlich mit der Begründung ab, die
Antragstellerin habe ihre Beschäftigung bei der Firma X. Baumarkt zum 23.03.2009 durch eigene Kündigung gelöst.
Konkrete Aussichten auf einen Anschlussarbeitsplatz hätten nicht bestanden. Seit dem 01.04.2009 übe sie lediglich
eine ge-ringfügige Tätigkeit aus.
Mit Änderungsbescheid vom 30.04.2009 (nicht in der Leistungsakte, vgl. Bl. 7 ff. Gerichtsakte) bewilligte die
Antragsgegnerin für den Zeitraum 19.03.2009 bis 30.09.2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter
Berücksichtigung der Sanktion.
Mit Schreiben vom 05.05.2009 legte die Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 30.04.2009 ein. Sie
verwies darauf, dass sich der lange Fahrtweg nach ihrem Umzug nach A-Stadt nicht mehr gelohnt habe. Sie gehe
zudem davon aus, dass es ihr mittelfristig gelingen werde, finanziell unabhängig zu werden. Die Miete sei zudem -
zumindest vorüber-gehend - in tatsächlicher Höhe zu übernehmen. Ihr sei bewusst, dass die Miete zu hoch sei. Es
sei allerdings geplant, dass ihre eine Tochter nach dem Sommerferien zu ihr ziehe. Zudem sei ein räumlicher Abstand
zu ihrem Ehemann unumgänglich gewesen. Sie habe sich in einer Notlage befunden und schnell eine Wohnung finden
müssen, was - ohne Einkommensnach-weise - schwierig gewesen sei.
Am 17.06.2009 hat die Antragstellerin zudem den vorliegenden Eilantrag gestellt.
Sie beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, den von ihr gezahlten Mietzins in voller Höhe anzuerkennen sowie die ihr
gegenüber verhängte Sanktion (monatlich 105,00 Euro) zurückzunehmen.
Die Antragsgegnerin hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt. Mit Schriftsatz vom 29.06.2009 hat sie darauf
hingewiesen, dass durch Änderungsbescheid vom 26.06.2009 nunmehr zunächst Kosten der Unterkunft und Heizung
für den Zeitraum 01.04.2009 bis 30.06.2009 in Höhe von insgesamt 597,88 Euro (620,00 Euro abzüglich 22,12 Euro
"Energie-pauschale") übernommen würden. Für die Zeit ab dem 01.07.2009 würden aufgrund der Be-fristung des
Mietvertrages vorerst keine Kosten übernommen. Im Hinblick auf die Sanktion verbleibe es bei der ursprünglichen
Entscheidung.
Auf telefonische Nachfrage vom 08.07.2009 hat die Antragstellerin erklärt, der Arbeitsvertrag sei zum 01.07.2009
nicht aufgestockt worden. Wann ihre Tochter einziehe, sei noch unsicher.
Die Antragstellerin hat zudem am 13.07.2009 einen neuen Mietvertrag vorgelegt. Danach ist das Mietverhältnis bis
zum 31.12.2009 verlängert worden. Die Bruttowarmmiete (inklusive Strom) beträgt nunmehr 550,00 Euro. Dabei wurde
die Pauschale für Gas, Strom und Wasser von 180,00 Euro auf 110,00 Euro gesenkt. Die Antragsgegnerin ist
daraufhin gebeten worden kurzfristig zu erklären, ob die Kosten der Unterkunft vorerst in tatsächlicher Höhe übernom-
men werden. Eine Reaktion ist nicht erfolgt.
Das Gericht hat die Leistungsakte der Antragsgegnerin () beigezogen.
II.1. Soweit sich die Antragstellerin gegen die erfolgte Sanktionierung wendet, bedarf der An-trag in entsprechender
Anwendung des § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Auslegung. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht
über den erhobenen Anspruch, ohne an die Fassung des Antrages gebunden zu sein. Im Hinblick auf die angegriffene
Sanktion genügt es, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin anzuordnen (der sich auch
gegen den Sanktionsbescheid vom 20.04.2009 richten dürfte, sofern dieser gegenüber der Antragstellerin überhaupt
bekanntgegeben wurde, was anhand der Akte nicht überprüft werden konnte). Denn mit dem Bewilligungsbescheid
vom 30.03.2009 existiert bereits eine (bestandskräftige) Bewilligungsentscheidung, auf deren Grundlage die
Antragstellerin die Auszahlung ungekürzter Leistungen verlangen kann.
Der so verstandene und nach §§ 86a Abs. 2 Nr. 4, 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Verbin-dung mit § 39 Nr. 1 SGB II
statthafte Antrag ist begründet. Ein Antrag auf Anordnung der auf-schiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 SGG ist begründet, wenn das private Interesse des Widerspruchsführers, den Vollzug des Bescheides bis zur
Entscheidung im Wi-derspruchsverfahren auszusetzen, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dessen soforti-ger
Vollziehung überwiegt. Die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs ist in der Regel bereits dann anzuordnen,
wenn sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtswid-rig erweist (OVG Bremen, Beschl. v. 10.10.2008 -
S2 B 458/08 -). Ansonsten bedarf es einer Interessenabwägung.
Die aufschiebende Wirkung war aufgrund einer Interessenabwägung anzuordnen. Denn auf der Grundlage der
vorgelegten Verwaltungsvorgänge konnte das Gericht die Sanktionsent-scheidung nicht hinreichend überprüfen. Die
Akte ist im Hinblick auf die entscheidenden Punkte fragmentarisch. So fehlt zum Beispiel nach Blatt 66 der
entsprechende Bescheid. Die folgende Seite ist nicht blattiert. Darauf folgt Blatt 426 (!); darauf wieder eine nicht
blattierte Seite. Es folgt auf Blatt 428 der Vermerk, es sei aufgrund des Eilverfahrens eine Behelfsakte angelegt
worden. Danach folgt weitgehend ungeordnet und nur teilweise blattiert ein Unterla-genkonvolut. In der nicht blattierten
Stellungnahme von Sachbearbeitung und Teamleitung wohl der Integrationsabteilung (Unterschriften und Datum folgen
einige Seiten weiter) wird Bezug genommen auf Telefongespräche mit dem ehemaligen Arbeitsgeber der Antragstelle-
rin, die zwei Tage zuvor stattgefunden haben. Entsprechende Gesprächsvermerke sind nicht Aktenbestandteil.
Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu erahnen. Anscheinend ist die vorgeleg-te Akte zudem
unvollständig, obwohl die Antragsgegnerin (natürlich) zu einer vollständigen Überlassung ihrer Verwaltungsvorgänge
verpflichtet ist. Wenn die Antragsgegnerin sich sicher ist, dass die Sanktion zu Recht erfolgte, mag sie dafür im
Hauptsacheverfahren streiten, nach-dem sie den Sachverhalt weiter ermittelt und ihre Aktenführung in Ordnung
gebracht hat. Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand konnte sich das Gericht davon nicht überzeugen.
Deshalb weist das Gericht nur am Rande darauf hin, dass bisher einiges für das Vorliegen eines wichtigen Grundes
zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses spricht (§ 31 Abs. 4 Nr. 3 lit. b i. V. m. Abs. 1 Satz 2 SGB II bzw. i. V. m. §
144 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Das Gericht hat nach Aktenlage keinen Grund an der Aussage der Antragstellerin zu
zweifeln, ihr Ehemann stelle ihr nach und sei in der Vergangenheit gewalttätig gewesen. Dann aber liegt es auch nahe,
eine neue Beschäftigung zu suchen, die räumlich entfernt von der alten liegt und die dem Ehemann nicht bekannt ist.
Nicht gefolgt werden kann der Integrationsabteilung der An-tragsgegnerin aber auch insoweit, als ein
Sanktionsbedürfnis damit begründet wird, bei Wechsel der Lohnsteuerklasse hätte der Nettoverdienst aus der alten
Beschäftigung ca. 480,00 Euro betragen. Die Antragstellerin verdient nunmehr 400,00 Euro - eventuell mit der
Möglichkeit, diese Tätigkeit aufzustocken. Unter Berücksichtigung der Fahrtkosten ist nicht ersichtlich, dass die
Antragstellerin durch die Kündigung hilfebedürftiger geworden ist.
2. Soweit die Antragstellerin die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung in tatsäch-licher Höhe verlangt, ist
der nach § 86b Abs. 2 SGG statthafte Antrag auf Erlass einer einst-weiligen Anordnung begründet.
Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist neben einer
besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein An-spruch der Antragstellerin auf die begehrte
Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungs-grund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs.
2 Satz 3 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, ob die Antragsgegnerin das Vorliegen des Anspruchs überhaupt bezweifelt. Für
den Zeitraum vor dem 01.07.2009 hat sie ihn anerkannt. Für den Zeitraum ab dem 01.07.2009 scheiterte dies nach
ihren Angaben alleine an der Vorlage eines verlängerten Mietvertrages, der nunmehr vorgelegt wurde. Der Anspruch
der Antragstellerin folgt aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II. Danach können für eine Übergangszeit auch unange-messene
Kosten für Unterkunft und Heizung anerkannt werden. So liegt der Fall hier. Die Wohnung der Antragstellerin ist zu
teuer. Die Kosten gleichwohl übergangsweise zu über-nehmen, trägt der besonderen persönlichen Situation Rechnung,
in der sich die Antragstelle-rin nach dem Verlassen der ehelichen Wohnung befand. Das Gericht hat - entsprechend
dem laufenden Bewilligungszeitraum - eine Befristung der Übernahme der tatsächlichen Kosten bis Ende September
für sachgerecht gehalten. Alleine die Verlängerung des Mietverhältnisses bis Ende des Jahres begründet
demgegenüber keine Verpflichtung der Antragsgegnerin, bis da-hin überhöhte Kosten zu tragen. Notfalls wird sich die
Antragstellerin um einen Aufhebungs-vertrag zu bemühen haben. Ansonsten hätte es der Hilfeempfänger in der Hand,
durch die Begründung mietvertraglicher Verpflichtungen unangemessen zu wohnen. Bis Ende Septem-ber wird zudem
aller Voraussicht nach klar sein, ob zumindest eine der beiden Töchter zu der Antragstellerin nach A-Stadt nachzieht.
Das Gericht hat im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft darauf verzichtet, eine bestimmte Höhe zu tenorieren. Es
versteht sich von selbst, dass in den Kosten für Unterkunft und Hei-zung die Kosten der Wassererwärmung nicht
enthalten sind, die die Antragstellerin aus der Regelleistung zu finanzieren hat. Gegebenfalls wird die Antragsgegnerin
insoweit einen pau-schalen Abzug vorzunehmen haben. Die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung sind
dem Gericht nicht bekannt, denn es fehlt nach den hier vorliegenden Unterlagen an An-gaben des Vermieters, wie
sich die Pauschale von nunmehr 110,00 Euro monatlich für Gas, Strom und Wasser genau berechnet. Sollten auch
die Beteiligten über entsprechende Anga-ben nicht verfügen, böte sich - wie es bereits zuvor der Anlage zum
ursprünglichen Mietver-trag entsprach - zumindest zunächst eine gleichmäßige Verteilung der Pauschale auf die drei
Positionen an.
In dem tenorierten Umfang hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.