Urteil des SozG Bremen vom 06.01.2011

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Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 06.01.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 21 AS 2626/10 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird ab-gelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abge-lehnt.
Gründe:
I. Die Antragstellerin (im folgenden Ast.) begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Übernahme der Kosten der
außerschulischen Nachhilfe in den Fächern Spanisch, Mathematik und Deutsch.
Die minderjährige Ast. befindet sich zusammen mit ihrer Mutter im laufenden Bezug von Leis-tungen nach dem SGB
II. Die Ast. besucht die achte Klasse des gymnasialen Bereiches der R.-Schule in A-Stadt. Sie erhält Unterricht unter
anderem in den Fächern Mathematik, Deutsch und Spanisch.
Mit Schreiben vom 27.10.2010 beantragte die Ast. bei der Antragsgegnerin (im folgenden Ag.) die Übernahme der
Kosten für die Inanspruchnahme einer außerschulischen Nachhilfe. Zur Begründung führte sie aus, dass sie Defizite
in den oben genannten Fächern habe und deshalb die Versetzung erneut gefährdet sei. Die Ast. sei nicht in der Lage,
die Defizite selb-ständig auszugleichen. Ihre Eltern seien auf Grund ihrer sprachlichen Defizite außer Stande, die Ast.
ergänzend zu unterrichten. Die Schule verfüge über keine Förderangebote. Da die Ast. einen Migrationshintergrund
habe, sollte es auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegen, in ihrem konkreten Fall die Benachteiligung
von Kindern mit einem sol-chen Hintergrund zu fördern und ihnen zu einem höheren Schulabschluss zu verhelfen. Die
Kosten der Nachhilfe beliefen sich über einen Zeitraum von zehn Monaten auf monatlich 159,00 EUR und solle beim
"Studienkreis" durchgeführt werden.
Am 23.12.2010 stellte die Ast. den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anord-nung. Zur Begründung
wiederholt sie im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Antrag. Darüber hinaus meint sie, seien Rechtsgrundlage für
ihren Anspruch auf Übernahme der Nachhilfe die §§ 67-69 SGB XII oder § 21 Abs. 6 SGB II.
Die Antragstellerin beantragt,
1. im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Kosten für die
Inanspruchnahme einer außerschuli-schen Nachhilfe zu übernehmen. 2. der Antragstellerin für das Verfahren
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Prozessbevollmächtigten zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie bezieht sich auf den Inhalt des Ablehnungsbescheides vom 28.12.2010. Mit diesem lehnte die Ag. den Antrag auf
Übernahme der Kosten für Nachhilfeunterricht ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Kosten für Nachhilfeunterricht
in der Regel nicht übernommen werden könnten, da vorrangig schulische Angebote wie Förderkurse zu nutzen seien.
Die Kosten für Nachhilfeunterricht könnten nur im Einzelfall übernommen werden. Voraussetzung hierfür sei aber,
dass es einen besonderen Anlass gebe, z.B. eine langfristige Erkrankung oder einen Todesfall in der Familie. Zudem
müsse die Aussicht auf Überwindung des Nachhilfebedarfes innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten,
längstens jedoch bis zum Schuljahresende bestehen. Dieser Nachweis sei nicht erbracht worden. Außerdem fehle es
an Nachweisen zur Höhe der Kosten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreites wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Leistungsakte Bezug
genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist statthaft, aber unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung we-sentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft
machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-
Ladewig, aaO, Rn. 29, 36). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche
belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss
die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet
zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte
Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein
Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, be-misst sich
an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei
reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a.a.O.).
Nach diesen Grundsätzen ist ein Anordnungsanspruch zu verneinen, da die Ast. keinen mate-riell-rechtlichen
Anspruch auf Übernahme der Nachhilfekosten hat.
1. In Übereinstimmung mit dem LSG Schleswig-Holstein (Beschluss vom 26.10.2010, Az. L 3 AS 181/10 B ER, L 3
AS 181/10 B ER PKH) geht das Gericht davon aus, dass alleinige An-spruchsgrundlage für den von der Ast. geltend
gemachten Anspruch nunmehr § 21 Abs. 6 SGB II ist und diese Norm auch für Sozialgeldempfänger anwendbar ist.
Für eine etwaige analoge Anwendung der Vorschriften des SGB XII besteht nach Inkrafttreten des § 21 Abs. 6 SGB II
kein Raum mehr, da diese Vorschrift im Bereich des SGB II abschließend die Gewäh-rung eines Mehrbedarfes
aufgrund atypischer Bedarfslagen abdeckt.
2. Die Voraussetzungen des § 21 Abs. 6 SGB II liegen im Falle der Ast. jedoch nicht vor. Nach dieser Vorschrift
erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur
einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbe-darf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die
Zuwendungen Dritter sowie durch Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach
erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Eine weitergehende Definition der Unabweisbarkeit im Sinne
dieser Vorschrift hat der Gesetz-geber jedoch nicht vorgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung vom 9. Februar 2010 (Az. 1 BvL 01/09, 1 BvL 03/09, 1 BvL 04/09) einen solchen Sonderbe-darf auf die
Deckung eines menschenwürdigen Existenzminimums bezogen. Danach hat sich auch die Auslegung des Begriffs
"unabweisbar" zu richten. Ausweislich der Gesetzesbegrün-dung (BR-Drs.17/1465 S. 8 f.) soll der Anspruch auf
Deckung des besonderen Bedarfes unter den Aspekten des nicht erfassten atypischen Bedarfs sowie eines
ausnahmsweise höheren, überdurchschnittlichen Bedarfs angesichts seiner engen und strikten Tatbestandsvorausset-
zungen auf wenige Fälle begrenzt sein (so auch das dem Gesetz zu Grunde liegende Urteil des BVerfG a.a.O.). Die
Unabweisbarkeit des Bedarfes könnte daher schon deshalb abzulehnen sein, weil es möglicherweise an einer
atypischen Bedarfslage im Sinne der Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts und der Gesetzesbegründung
fehlen dürfte, wie es das SG Bremen, Be-schluss vom 06.05.2010, Az. S 23 AS 409/10 ER, bereits vertreten hat:
Dort heißt es: "Der hier geltend gemachte Nachhilfebedarf bei (normaler) Lern- und Rechenschwäche ist je-doch kein
ungewöhnlicher ("atypischer") Bedarf, denn ein nicht unerheblicher Anteil der Schüle-rinnen und Schüler benötigt
Nachhilfeunterricht. Nach einem Bericht des WDR vom April 2010 erhält jeder dritte Gymnasiast Nachhilfeunterricht
(http://www.wdr.de/tv/servicezeit/fami-lie/sendungsbeitraege/2010/0414/04 nachhilfe.jsp). Es fehlt damit für den
geltend gemachten atypischen Bedarf an der im Urteil des Bundesverfassungsgerichts geforderten Atypik."
Dies dürfte nach wie vor gelten, so dass bereits aus diesem Grund auch im vorliegenden Fall die erforderliche Atypik
generell abzulehnen sein könnte.
Diese Frage kann hier letztlich jedoch offen bleiben, da im konkreten Fall der Ast. eine Unab-weisbarkeit im Sinne des
§ 21 Abs. 6 SGB II aus anderen Gründen nicht gegeben ist. Unabweisbar ist ein Bedarf nicht schon, wenn er für
denjenigen, der den Anspruch hat, ledig-lich günstig ist. Erforderlich ist vielmehr, dass bei Verzicht auf die
beanspruchte Leistung das menschenwürdige Existenzminimum nicht sichergestellt ist (so auch LSG Schleswig-
Holstein, aaO). Nachhilfebedarf ist dementsprechend nach Ansicht der Kammer vom Leistungsträger nur dann zu
übernehmen, wenn unter anderem besondere Umstände im Einzelfall dies erfor-derlich machen (so auch SG Dessau-
Roßlau, Beschluss vom 20.04.2010, Az. S 2 AS 802/10 ER). Solche Umstände stellen nach der Geschäftsanweisung
der Ag. Nr 08/10 vom 17.02.2010 z.B. eine langfristige Erkrankung oder ein Todesfall in der Familie dar. Diese zeigt
auch, dass die dort genannten Fälle nicht abschließend sind, so dass weitere besondere Fälle miterfasst werden
könnten. Als ein solcher wurde z.B. auch eine Lese- und Rechtsschreibstö-rung angesehen (SG Dessau-Roßlau, aaO;
i.E. auch SG Halle, Beschluss vom 19.03.2010, Az. S 7 AS 1072/10 ER). Nach Auffassung der Kammer liegen
solche besondere Umstände im Falle der Ast. jedoch nicht vor. Eine entsprechende Lese- oder Rechtsschreibstörung
wurde von der Ast. nicht vorgetragen. Dies dürfte auch angesichts der Schulentwicklung der Ast., sie besucht
immerhin das Gymna-sium, nicht vorliegen. Einen besonderen Umstand stellt auch nicht die Tatsache dar, dass die
Ast. einen Migrati-onshintergrund aufweist und ihre Eltern ihr in schulischer Hinsicht nicht helfen können, da sie weder
der deutschen oder der spanischen Sprache mächtig seien noch über ausreichend Kenntnisse in dem Fach
Mathematik verfügen. Letzteres und die mangelnden Kenntnisse im Spanischen dürfte auch auf Eltern unzähliger
Schüler zutreffen, die keinen Migrationshin-tergrund aufweisen. Das Gericht geht davon aus, dass die Mehrzahl
deutscher bzw. deutsch-stämmiger Eltern, selbst mit höherem Bildungshintergrund, nicht in der Lage sein dürften, in
diesen beiden Fächern ihren Kindern ausreichend Unterstützung zu geben. Bei Kindern, de-ren Eltern selbst keine
höhere Schul- geschweige denn Hochschulausbildung genossen ha-ben, dürfte dies erst recht der Fall sein. Gleiches
gilt nach Auffassung des Gerichts auch für deutschstämmige Kinder im Fach Deutsch. Nach eigener Erfahrung des
Gerichts beschränkt sich der Deutschunterricht in der achten Klasse nicht mehr auf die Erlernung der Rechtschrei-
bung, sondern hat die Ausbildung des Textverständnisses und dessen Wiedergabe in Aufsät-zen zum Gegenstand.
Auch hier dürfte eine unüberschaubare Anzahl an Kindern keine oder wenig Unterstützung aus dem Elternhaus
erfahren. Dieses Problem ist nicht auf Schüler mit Migrationshintergrund beschränkt. Da die Vorschrift des § 21 Abs.
6 SGB II jedoch nach der Gesetzesbegründung und der oben zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
nur auf eine überschaubare Anzahl von Fällen begrenzt sein soll, können die Förderungsmöglichkeiten im Elternhause
keine be-sonderen Umstände auslösen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Eltern der Ast. des Deutschen
nicht mächtig sind. Laut Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge lebten 2009 6,7 Millionen Ausländer
in Deutschland ( vgl. http://www.bamf.de/ cln 180/ nn 442496/ SharedDocs/ An-
lagen/DE/DasBAMF/Downloads/Statistik/statistik-anlage-teil-2-auslaendezahlen, templateId=
raw,property=publicationFile.pdf/statistik-anlage-teil-2-auslaendezahlen.pdf). Selbst wenn die Anzahl der Kinder mit
Migrationshintergrund, deren Eltern Leistungen nach dem SGB II be-ziehen und der deutschen Sprache nicht
ausreichend mächtig sind, signifikant kleiner sein dürfte, steht fest, dass die Anwendung von § 21 Abs. 6 SGB II auf
eine unüberschaubare An-zahl von Fällen ausgedehnt würde. Dies ist weder im Sinne des Gesetzgebers noch des
Bun-desverfassungsgerichts. Soweit die Ast. zu diesem Thema vorträgt, dass ihre Förderung im Interesse der
Bundesrepu-blik Deutschland liege, so ist das Gericht der Auffassung, dass dies mehr eine politische, denn eine
rechtliche Argumentation ist, die der Entscheidung durch das Gericht nicht zugänglich ist. Dieses kann die Interessen
des Gesetzgebers nur insoweit in seine Rechtsprechung einflie-ßen lassen, als dass seine Intentionen Gesetz
geworden und/oder im Rahmen der Gesetzes-begründung ausgeführt sind. Alles andere entzieht sich der rechtlichen
Beurteilung.
Da die Ast. weitere besonderen Umstände nicht glaubhaft gemacht hat, ist der Anspruch aus § 21 Abs. 6 SGB II auf
Übernahme der Kosten des Nachhilfeunterrichts abzulehnen.
Dementsprechend bedarf es der Prüfung des Anordnungsgrundes nicht mehr.
3. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da der Antrag auf Erlass einer einst-weiligen Anordnung
keine Aussicht auf Erfolg verspricht, vgl. § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO. Auf die Ausführungen des Gerichts
unter 1. und 2. wird verwiesen.
4. Im vorliegenden Fall ist gegen diesen Beschluss die Beschwerde gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG von
Gesetzes wegen zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR übersteigt. Die Ast. trägt vor, dass
der Nachhilfeunterricht pro Monat 159,00 EUR kostet. Auf den von ihr begehrten Leistungszeitraum von 10 Monaten
gerechnet ergibt dies einen Be-schwerdewert von 1.590,00 EUR.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.