Urteil des SozG Bremen vom 07.10.2009

SozG Bremen: darlehen, hauptsache, erlass, zuschuss, aufschub, fernseher, dringlichkeit, winter, geldleistung, versicherung

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 07.10.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 23 AS 1829/09 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechts-schutzes verpflichtet, dem Antragsteller ein Darlehen für
die Anschaffung einer Hose in Übergröße in Höhe von 89,95 Euro zu gewähren. Das Darlehen ist in 9 Raten zu jeweils
8,90 Euro und in einer weiteren Rate zu 9,85 Euro zu tilgen. Die Auszah-lung der Leistung erfolgt vorläufig. Sie steht
unter dem Vorbe-halt der Rückforderung. Im Übrigen – soweit der Kläger Leistungen für die Anschaffung der Hose als
nicht zurückzuzahlenden Zuschuss begehrt – wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen
außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu 70 vom Hundert.
Gründe:
I.
Der Antragsteller (d. Ast.) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen nach dem SGB II zur
Anschaffung einer Hose in Übergröße.
Der 41 Jahre alte allein stehende Antragsteller steht im laufenden Leistungsbezug bei der Antragsgegnerin, der
Trägerin der Grundsicherung in A-Stadt. Er ist nach einem Gutachten von Dr. AOU. vom ärztlichen Dienst der
Bundesagentur für Arbeit vom 10. September 2009 in seiner Leistungsfähigkeit durch eine massive Übergewichtigkeit
mit Folgeerkrankungen und durch eine psychische Beeinträchtigung deutlich eingeschränkt. Am 27. August 2009
bean-tragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für die Anschaf-fung einer Hose. Die
Antragsgegnerin lehnte den Antrag am 28. August 2009 ab. Zur Begrün-dung erklärte sie, der Antragsteller sei in der
Lage, die beantragte Leistung aus eigenen Kräf-ten und Mitteln in vollem Umfange zu decken, so dass eine
Kostenübernahme nicht möglich sei. Hiergegen erhob der Antragsteller am 22. September 2009 Widerspruch. Er
erklärte, er besitze derzeit nur eine Hose. Diese sei – wie der Antragsgegnerin bekannt sei – "völlig ka-putt". Die
Kosten für eine erforderliche neue Hose in Übergröße seien beträchtlich. Sie betrü-gen etwa 89,95 Euro. Dies mache
25 % der ihm nach dem SGB II bewilligten Regelleistung aus. Aus den laufenden Leistungen nach dem SGB II könne
er eine solche Anschaffung ohne Gefährdung seiner Existenz nicht tätigen. Der Widerspruch wurde mit
Widerspruchsbescheid vom 25. September 2009 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es, es
handele sich nicht um einen unabweisbaren Bedarf im Sinne des § 23 Abs. 1 SGB II, weil er durch die nächste
Regelleistung gedeckt werden könne. Außerdem hätte ein entsprechender Bedarf angespart werden können. Am 29.
September 2009 hat der Antragsteller Klage hier-gegen erhoben, über die noch nicht entschieden ist (Az. S 23 AS
1840/09).
Ebenfalls am 29. September 2009 hat d. Ast. beim Sozialgericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
beantragt. Er begehrt die Gewährung eines Zuschusses – hilfsweise eines Darlehens – zur Anschaffung einer Hose in
Übergröße. Seine einzige Hose sei völlig ver-schlissen und habe mittlerweile viele Löcher. Sie sei nicht mehr tragbar.
Außerdem verkaufe er auf der Straße eine Zeitung. Schon deshalb sei es ihm nicht zuzumuten, die zerschlissene
Hose weiter zu tragen. Die Mittel für die Anschaffung der neuen Hose könne er nicht aus ei-genen Mitteln
bereitstellen. Er hat die Richtigkeit seiner Angaben eidesstattlich versichert.
Die Antragsgegnerin ist dem Eilantrag entgegengetreten. Sie meint, es sei bereits zweifelhaft, ob die für einen
Eilantrag erforderliche Eilbedürftigkeit gegeben sei. Es sei nämlich nicht er-sichtlich, dass der Erlass der begehrten
einstweiligen Anordnung notwendig erscheine, um wesentliche Nachteile vom Antragsteller abzuwenden. Dem
Antragsteller seien zuletzt mit Bescheid vom 2. Oktober 2009 monatliche Leistungen in Höhe von 727,43 Euro für die
Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2009 bewilligt worden. Die Zahlungen stünden dem An-tragsteller jeweils
pünktlich zum Monatsanfang zur Verfügung. Es fehle aber auch an der Glaubhaftmachung eines
Anordnungsanspruchs. Dem Antragsteller stünde kein Anspruch auf Gewährung von Geldmitteln für die Anschaffung
einer Hose zu. Der Bedarf für eine Hose sei zweifelsfrei nicht unabweisbar im Sinne von § 23 SGB II. Der
Antragsteller könne die Hose aus der Regelleistung nach und nach ansparen. Die Antragsgegnerin hat schließlich auf
in der Verwaltungsakte enthaltene Stellungnahmen verwiesen.
Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen. Die Verwaltungsakte ist vom Gericht am 29.
September 2009 per Fax unter Fristsetzung zum 6. Oktober 2009 angefordert worden. Die Antragsgegnerin hat die
Verwaltungsakten gleichwohl bisher ohne Begründung nicht vorgelegt.
II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf Erlass einer einstwei-ligen Anordnung ist
zulässig und begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung we-sentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft
machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-
Ladewig, a. a. O., Rn. 28). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche
belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss
die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet
zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte
Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein
Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, be-misst sich
an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei
reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a. a. O.).
1. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben.
a) Zwar hat der Antragsteller keinen Anspruch auf die Gewährung von Mitteln für die Anschaf-fung einer Hose als
(nicht zurückzuzahlendem) Zuschuss. Denn gem. § 20 Abs. 1 SGB II um-fasst die Regelleistung (derzeit 359,00 Euro
monatlich für Erwachsene) u. a. die Kosten für die Kleidung. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Gewährung
eines Zuschusses für die Anschaffung einer Hose ist nicht ersichtlich. Er ergibt sich vorliegend insbesondere nicht
aus § 23 Abs. 3 SGB II. Danach sind zwar bestimmte Leistungen – u. a. solche für die Erstausstat-tung für
Bekleidung (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II) – gesondert zu erbringen. Bei dem vor-liegenden Bedarf handelt es sich
jedoch nicht um einen Erstausstattungsbedarf, sondern um eine Ersatzbeschaffung (siehe zur Unterscheidung
zwischen Erstausstattungsbedarf und Er-satzbeschaffung: Beschluss der Kammer vom 31. Juli 2009 – S 23 AS
1365/09 ER - http://www.sozialgericht-bre-men.de/sixcms/media.php/13/23 AS 1365 09 ER Beschluss
2009073150624%2C40Anonym.pdf ).
b) Es liegt jedoch insofern ein Anordnungsanspruch vor, als der Antragsteller Anspruch auf die Gewährung eines
Darlehens für die Anschaffung einer Hose gem. § 23 Abs. 1 SGB II hat. Nach dieser Vorschrift erbringt der
Grundsicherungsträger bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt
dem Hilfebedürftigen ein entspre-chendes Darlehen, wenn im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und
nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach §
12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden kann. Diese Voraussetzungen sind nach vorläufiger
Prüfung der Sach- und Rechtslage gegeben.
aa) Die Anschaffung einer Hose ist als zur Kleidung zählender Bedarf nach dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 SGB II von
der Regelleistung umfasst.
bb) Der Bedarf ist – entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin – auch unabweisbar. Ein Bedarf ist unabweisbar,
wenn die Abdeckung des Bedarfs keinen Aufschub duldet (Lang/Blüggel, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008,
§ 23 Rn. 27). Als Beispiel wird in der Kommentarliteratur auf Wintermäntel im Winter verwiesen (Lang/Blüggel, a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben ist die Anschaffung der neuen Hose für den Antragsteller unabweisbar. Die Anschaffung
kann auch nicht hinausgeschoben werden. Dem Antragsteller ist nicht zuzumu-ten, dass er nur noch mit einer völlig
verschlissenen und löchrigen Hose ausgehen kann.
Der Antragsteller kann auch nicht auf Ansparen verwiesen werden. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall
auch von der Anschaffung eines Fernsehapparates (hierzu: Be-schluss der 23. Kammer vom 02. September 2009 – S
23 AS 1526/09 ER - http://www.sozialgericht-bremen.de/sixcms/media.php/13/23 AS 1526 09 ER Beschluss
20090902Anonym.pdf ), bei der die Kammer es für zumutbar gehalten hat, dass der Bedarf erst nach einer gewissen
Zeit durch Ansparen befriedigt wird. Beide Fälle sind sowohl hinsichtlich ihrer Dringlichkeit, als auch bezüglich der
Höhe der Kosten unterschiedlich. Während die hier streitige Hose ca. 90,00 Euro kostet und daher nicht ohne weiteres
aus der Regelleistung eines Monats an-gespart werden kann, ist die Kammer davon ausgegangen, dass ein
gebrauchter Fernseher über Kleinanzeigen etc. derzeit für ca. 20,00 bis 50,00 Euro erhältlich ist. Die Kammer hat
deshalb bezüglich des Fernsehers die Auffassung vertreten, dass ein solcher Betrag inner-halb weniger Monate
angespart werden kann. Sie hat überdies ausgeführt, dass die Anschaf-fung eines Fernsehers nach ihrer Auffassung
einen solchen Aufschub duldet. Anders verhält es sich jedoch bezüglich der Anschaffung einer Hose, wenn die
einzige Hose – wie hier – völ-lig verschlissen ist. Dem Antragsteller ist es weder zumutbar noch möglich, so lange
das Haus nicht zu verlassen, bis er den Betrag von ca. 90,00 Euro aus der Regelleistung angespart hat.
Diesbezüglich weist die Kammer darauf hin, dass sie nicht daran zweifelt, dass die anzuschaf-fende Hose
mindestens 89,95 Euro kostet. Wegen der ärztlich attestierten (Gutachten von Dr. AOU. vom 10. September 2009)
massiven Übergewichtigkeit des Antragstellers erscheint es glaubhaft, dass der Antragsteller auf günstige Hosen, wie
sie z. B. von Discountern in gängi-gen Größen angeboten werden, nicht zurückgreifen kann.
cc) Der Bedarf kann auch nicht aus dem Vermögen des Antragstellers oder auf andere Weise gedeckt werden.
Vermögen ist nach der eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers nicht vorhanden, ebenso wenig wie andere
Mittel, mit denen die Hose angeschafft werden könnte. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin kann der
Antragsteller auch nicht darauf ver-wiesen werden, die Hose aus der ihm zugeflossenen Regelleistung für den
laufenden Monat anzuschaffen. Es erscheint – jedenfalls im Eilverfahren – glaubhaft, dass der Antragsteller hierdurch
die Befriedigung seiner existenziellen Bedürfnisse gefährden würde. Denn die An-schaffung würde seine insbesondere
für die Befriedigung der Bedarfe Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Haushaltsenergie vorgesehene (§ 20
Abs. 1 SGB II) Regelleistung zu etwa einem Viertel (89,95 Euro von 359,00 Euro) verbrauchen.
2. Der Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit - ergibt sich aus der finanziell prekären Situati-on des Antragstellers.
Die diesbezüglichen Bedenken der Antragsgegnerin teilt die Kammer nicht, was sich bereits aus den bisherigen
Ausführungen ergibt.
3. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwen-dung. Sie entspricht dem
Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten. D. Ast. hat obsiegt, soweit er hilfsweise die Gewährung
eines Darlehens begehrte. Er hat keinen Erfolg gehabt, soweit er darüber hinaus die Gewährung eines Zuschusses
beantragt hat. Die Kam-mer schätzt das Ausmaß des Obsiegens des Antragstellers auf 70/100. Dementsprechend
sind die außergerichtlichen Kosten d. Ast. von der Antragsgegnerin zu 70 vom 100 zu erstat-ten. Gerichtskosten
fallen im vorliegenden Verfahren nicht an.
4. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes für kei-nen Beteiligten 750,00
Euro übersteigt und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit sind (§ 172 Abs. 3
Nr. 1 SGG in Verbindung mit § 144 Abs. 1 SGG). D. Ast. ist beschwert, soweit er die Gewährung eines Zuschusses
in Höhe von 89,95 Euro begehrte und stattdessen nur ein Darlehen erhalten hat. Die Antragsgegnerin ist mit ei-nem
Betrag von 89,95 Euro beschwert. Der Schwellenwert für eine zulässige Berufung liegt bei 750,00 Euro, § 144 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 SGG.