Urteil des SozG Bremen vom 01.10.2010

SozG Bremen: aufschiebende wirkung, wichtiger grund, ärztliche untersuchung, entziehung, rückgriff, leistungsbezug, anfechtungsklage, umdeutung, verwaltungsakt, rechtsschutz

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 01.10.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 18 AS 1928/10 ER
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13.09.2010 gegen den Bescheid vom 03.09.2010 in Gestalt des
Bescheides vom 23.09.2010 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten inzwischen nur noch über die Entziehung von Leistungen gegenüber dem Antragsteller zu
1.).
Die Antragsteller wohnen zusammen in der D-Str. in Bremen. Mit Schreiben vom 12.08.2010 (Bl. 358 der
Leistungsakte, LA) erhielt der Antragsteller zu 1.) eine Einladung zur ärztlichen Untersuchung und Aufforderung zur
Mitwirkung: Danach sollte er sich am 25.08.2010 um 8.30 Uhr im Ärztlichen Dienst einfinden. Diesen
Untersuchungstermin hat der Antragsteller zu 1.) unstreitig nicht wahrgenommen. Mit Leistungsbescheid vom
26.08.2010 bewilligte die An-tragsgegnerin Leistungen für den Zeitraum vom 01.10.2010 bis zum 31.03.2011. Mit
Versa-gungs-/Entziehungsbescheid vom 03.09.2010 wurden die Leistungen für alle Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft ganz entzogen, und zwar mit der Begründung, dass der Untersuchungs-termin am 25.08.2010
nicht wahrgenommen worden ist. Gegen diesen Bescheid legten die Antragsteller mit Schriftsatz vom 13.09.2010 über
ihre Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein.
Am 29.09.2010 haben die Antragsteller das Sozialgericht Bremen um die Gewährung einst-weiligen Rechtsschutzes
ersucht. Mit Bescheid vom 23.09.2010 wurde der Versagungs-/Entziehungsbescheid vom 03.09.2010 hinsichtlich der
Entziehung der Leistungen für die An-tragstellerin zu 2. und bezüglich der entzogenen Kosten der Unterkunft
aufgehoben. Nicht aufgehoben wurde die Entziehung der Regelleistung für den Antragsteller zu 1.) in Höhe von 323,00
EUR (Bl. 368-369 d.LA). Gegen diesen Bescheid vom 23.09.2010 legte der Prozessbe-vollmächtigte der Antragsteller
erneut Widerspruch ein, und zwar mit Schreiben vom 27.09.2010, und zwar nur für den Antragsteller zu 1.). Für die
Antragstellerin zu 2.) wurde das Eilverfahren inzwischen durch angenommenes Anerkenntnis erledigt. Der
Antragsteller zu 1.) trägt vor, in einem weiteren vor dem Gericht anhängigen Verfahren sei insbesondere die Fra-ge
streitig, ob sich der Antragsteller zu 1.) auf Veranlassung der Antragsgegnerin einer medi-zinischen Begutachtung
unterziehen müsse. Der Antragsteller zu 1.) sei aus nachvollziehba-ren Gründen dazu nicht verpflichtet. Er sei
uneingeschränkt erwerbsfähig. Ab dem 01.10.2010 stünden keine finanziellen Mittel mehr zur Bestreitung des
Lebensunterhalts zur Verfügung.
Der Antragsteller zu 1.) beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13. September 2010 gegen den
Bescheid der Antragsgegnerin vom 03.09.2010 herzustellen.
hilfsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13.09.2010 gegen den Be-scheid vom 03.09.2010 und
des Widerspruchs vom 27.09.2010 gegen den Be-scheid vom 23.09.2010 herzustellen.
wiederum hilfsweise Die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller zu
1.) weitere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt, 1. den Antrag teilweise abzulehnen und 2. zu entscheiden, dass Kosten gemäß § 193
Sozialgerichtsgesetz (SGG) nur entsprechend dem Erfolg des Eilverfahrens zu erstatten sind.
Die Antragsgegnerin trägt vor, der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz könne nur insoweit Erfolg haben, als ab
01.10.2010 für die Antragstellerin zu 2.) das ALG II vollumfänglich und für den Antragsteller zu 1.) in Höhe des auf ihn
entfallenden Anteils der Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) gewährt werde, die Regelleistung von 323,00 EUR
monatlich dagegen versagt werde. Sie verweise insoweit auf ihren Beschluss vom 23.09.2010. Der Antragsteller zu
1.) verweigere die ärztliche Untersuchung. Ein wichtiger Grund für dieses Verhalten sei weder vorgetragen noch
ersichtlich. Nach der Rechtsfolgenbelehrung im Schreiben vom 12.08.2010 seien die Voraussetzungen für eine
Versagung im oben genannten Umfang nach § 62 i.V.m. § 66 Abs. 1 und Abs. 3 SGB I erfüllt.
Die Leistungsakte der Antragsgegnerin hat dem Gericht vorgelegen, und zwar Band I und Band II.
II. 1. Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 13.09.2010
gegen den Versagungs-/Entziehungsbescheid vom 03.09.2010 in Gestalt des Bescheides vom 23.09.2010 ist
zulässig und begründet. Der Bescheid vom 03.09.2010 in Gestalt des Bescheides vom 23.09.2010 stellt sich als
offensichtlich rechtswidrig dar.
1.1 Der Antrag war dahingehend auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 13.09.2010
angeordnet werden soll, so dass der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 26.08.2010 Gültigkeit hat, d.h. ab
Oktober 2010 bis einschließlich März 2011 der volle Leistungsbezug im Raum ist. Der erste ergangene Versagungs-
/Entziehungsbescheid vom 03.09.2010 wurde durch den Versagungs-/Entziehungsbescheid vom 23.09.2010
jedenfalls nach dem Wortlaut nicht ganz aufgehoben und es wurde nur teilweise eine neue Entzie-hungsbegründung
und ein neuer Umfang angegeben, nämlich nur noch bezogen auf den An-tragsteller zu 1.). Dieser hat auch nur (noch)
Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.09.2010 erhoben. Der ursprüngliche Versagungs-/Entziehungsbescheid
bleibt deshalb nach wie vor im Streit. Der weitere Bescheid vom 23.09.2010 ist jedoch unter Berücksichti-gung von §
86 SGG zum Gegenstand des Vorverfahrens geworden. Die Antragsgegnerin hat lediglich fehlerhaft eine
Rechtsmittelbelehrung aufgeführt. Eines erneuten Widerspruchs hat es vielmehr gar nicht bedurft.
1.2 Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen
Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die auf-schiebende Wirkung ganz oder
teilweise anordnen. Gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in den durch Bundesgesetz
vorgeschriebenen Fällen. Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen
Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende
Wirkung. Dies gilt auch für den angefochtenen Versagungs-/Entziehungsbescheid, da dieser den Wegfall der Leistung
vorsieht. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom
03.09.2010 war mithin statthaft.
1.3 Der Antrag ist auch begründet. Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wir-kung durch das Gericht
ist, dass das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am
Vollzug des Bescheides überwiegt. Das ist in ent-sprechender Anwendung des § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG dann der
Fall, wenn ernstliche Zwei-fel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die
Voll-ziehung für den Adressaten eine unbillige nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur
Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungs-aktes bestehen dann, wenn der Erfolg des
Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als der Misser-folg (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage,
2008, § 86a RdNr. 27a). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der
Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Fol-genabwägung zu
entscheiden, welchem Interesse bis zu einer Entscheidung in der Hauptsa-che Vorrang einzuräumen ist (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05).
1.4 Es bestehen im vorliegenden Fall ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Versagungs-
/Entziehungsbescheides vom 03.09.2010 in der Fassung des weiteren Bescheides vom 23.09.2010. Die
Antragsgegnerin konnte den Leistungsentziehungsbescheid vorliegend nicht auf § 66 SGB I stützen.
Das LSG Sachsen-Anhalt hat in seinem Beschluss vom 20.02.2009 – L 5 B 376/08 AS ER- in einem ähnlich
gelagerten Fall wörtlich ausgeführt: " Nach § 66 SGB I kann der Leistungsträger eine Sozialleistung ganz oder teilwei-
se entziehen, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 60
bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird. In
Betracht kommt hier eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 62 SGB I. Wer Sozialleistungen bean-tragt oder
erhält, soll sich danach auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen
Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit die-se für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. Nach
§ 37 SGB I gelten das Erste und das Zehnte Buch des Sozialgesetzbuches für alle Sozialleistungsbereichs des
Sozialgesetzbuches, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt. Die in §§ 60 bis 67 SGB I
niedergelegten Mit-wirkungsobliegenheiten bleiben mithin (ergänzend) anwendbar, solange und soweit die Regelungen
über die besonderen Mitwirkungsobliegenheiten dies nicht aus-schließen, also den Lebenssachverhalt nicht
ausdrücklich oder stillschweigend ab-weichend und/oder abschließend regeln (vgl. BSG, Urteil vom 19. September
2008, B 14 AS 45/07 R, juris). Eine solche abweichende Regelung stellt die in § 59 SGB II i.V.m. § 309 Abs. 1 Satz 1
des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches – Arbeitsförderung (SGB III) normierte Pflicht, zu einem ärztlichen oder
psychologischen Untersuchungstermin zu erschei-nen, dar. Zwar normiert auch § 62 SGB I die Pflicht, sich ärztlichen
und psychologi-schen Untersuchungsmaßnahmen zu unterziehen; die Pflicht nach § 59 SGB II i.V.m. § 309 SGB III
ist jedoch auf die spezifischen Zwecke des SGB II ausgerichtet. So regelt § 309 SGB III in Abs. 2 die Zwecke, die
der Leistungsträger mit der Melde-aufforderung in rechtmäßiger Weise verfolgen kann. Meldeaufforderungen zu ande-
ren als dort genannten Zwecken unterfielen nicht dem Regelungssystem des SGB II (offen gelassen in BSG, Urteil
vom 20. März 1980, 7 RAr 21/79, SozR 4100 § 132 Nr. 1 zum Verhältnis von § 66 SGB I zu § 132
Arbeitsförderungsgesetz (AFG), die allgemeine Meldepflicht betreffend). Im SGB II hat der Gesetzgeber - jedenfalls
be-zogen auf die Pflichten in § 59 SGB II - eine in sich geschlossene Regelung getrof-fen, die sowohl die Pflichten als
auch die Rechtsfolgen im Falle der Verletzung die-ser Pflichten (§ 31 Abs. 2 SGB II) normiert. Ein Rückgriff auf die
allgemeinen Rege-lungen des SGB I ist in diesem Fall ausgeschlossen. Vorliegend hat die Antragsgegnerin die
psychologische Untersuchung zum Zwecke der Feststellung der Erwerbsfähigkeit bzw. zur Feststellung der Eignung
des An-tragstellers für die Integration in den Ersten Arbeitsmarkt angeordnet. Diese Zwecke unterfallen der Regelung
des § 309 Abs. 2 Nr. 5 (Prüfung des Vorliegens der Vor-aussetzungen für den Leistungsbezug) und der Nr. 3
(Vorbereitung aktiver Arbeits-förderungsleistungen) SGB III. Der Rückgriff auf die Regelungen des SGB I war der
Antragsgegnerin daher versperrt. Auch eine Umdeutung des Leistungsentziehungsbescheides nach § 66 SGB I in ei-
nen Sanktionsbescheid nach § 31 SGB II kommt nicht in Betracht. Nach § 43 des Zehnten Buches des
Sozialgesetzbuches – Sozialverwaltungsverfahren und Sozial-datenschutz (SGB X) kann ein fehlerhafter
Verwaltungsakt in einen anderen Verwal-tungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von
der er-lassenen Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können
und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Der Bescheid nach § 66 SGB I und einer nach § 31
SGB II verfolgen jedoch unter-schiedliche Ziele. Das ergibt sich bereits aus dem unterschiedlichen Charakter der §§
60 ff., 66 SGB I und des § 31 SGB II. Während der Sanktionstatbestand des § 31 SGB II zwingend eine zeitlich
vorgegebene gestaffelte Sanktionierung anordnet, sieht § 66 SGB I bei Nachholung der geforderten
Mitwirkungshandlung ein Aufleben des Leistungsanspruchs für die Zukunft sowie gemäß § 67 SGB I eine Ermes-
sensausübung hinsichtlich einer nachträglichen Leistungserbringung für die Vergan-genheit vor " Diesen Erwägungen
schließt sich das erkennende Gericht voll inhaltlich an. Auch im vorlie-genden Fall ist es so, dass die Frage der
Untersuchungspflicht streitig ist. Eine Weigerung des Antragstellers zu 1.) in Bezug auf die von der Antragsgegnerin
geforderte ärztliche Untersu-chung ist deutlich erkennbar, womit ein Verstoß gegen die Pflichten aus § 59 SGB II im
Raum sein könnte. Eine solche Pflichtverletzung kann dann unter Berücksichtigung der vorstehen-den
Rechtsauffassung aber auch "nur" zu einer Sanktion im Rahmen des § 31 Abs. 2 ff. SGB II führen, nicht jedoch zu
einer Versagung nach § 66 SGB I. § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB II sieht vielmehr eine Sanktionsmöglichkeit (1. Stufe) bei
Nichterscheinen zu einem ärztlichen Unter-suchungstermin vor und stellt damit eine speziellere Regelung dar, so dass
für die Anwen-dung des § 66 SGB I kein Raum bleibt.
Selbst wenn der Antragsgegnerin – wofür mangels anderer Anhaltspunkte hier im Eilverfahren einiges spricht –
zuzugestehen sein mag, dass eine Pflichtverletzung im Raum ist, kommt jedenfalls eine vollständige Aufhebung der
Regelleistung nicht in Betracht. Da die Antrags-gegnerin die vollständige Aufhebung der Regelleistung beim
Antragsteller vorgenommen hat und außerdem eine Umdeutung nicht vorzunehmen war, war auf seinen Widerspruch
hin die aufschiebende Wirkung anzuordnen, und zwar des ursprünglichen Entziehungs-/Versagungsbescheides vom
03.09.2010 in Gestalt des Bescheides vom 23.09.2010.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.