Urteil des SozG Bremen vom 31.03.2009

SozG Bremen: wohnung, stadt, notlage, ermessen, stromversorgung, jugend, gesundheit, lieferung, link, darlehen

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 31.03.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 23 AS 547/09 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ver-pflichtet, der Antragstellerin ein Darlehen
über 945,06 Euro zur Tilgung der bei der AUO. Vertrieb A-Stadt GmbH entstandenen Zahlungsrück-stände zu
gewähren. Der Antragsgegnerin wird nachgelassen, den Betrag direkt an die AUO. Vertrieb A-Stadt GmbH zu leisten.
Die Zahlung erfolgt darlehensweise und unter dem Vorbehalt der Rück-forderung. Die Antragsgegnerin hat die
notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragsstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung eines Darlehens, um damit
ihre Stromschulden beim örtlichen Energieversorger begleichen zu kön-nen.
Die 1957 geborene Antragstellerin erhält seit dem Jahre 2005 laufende Leistungen nach dem SGB II von der
Antragsgegnerin. Im Jahre 2006 wurde der Antragstellerin gem. § 1 Abs. 1 dem Bremischen Polizeigesetzes ihre
jetzige Wohnung in der A-Straße in A-Stadt zugewie-sen. Vom 12. bis 14. Dezember 2007 befand sich die
Antragstellerin in Haft (Bl. 105 d.A.). Mit Schreiben vom 15. Dezember 2008 teilte der örtliche Energieversorger, die
AUO. Vertrieb A-Stadt GmbH (AUO.), ihr mit, dass die Stromleistungen für die Zeit vom 29. November 2007 bis zum
25. November 2008 abgerechnet worden seien. Aus der Abrechnung ergebe sich – trotz Berücksichtigung der
geleisteten Zahlungen von insgesamt 1.164,00 Euro – ein verbleibender Zahlbetrag von 614,74 Euro. Dieser Betrag
und der erste Abschlagsbetrag in Höhe von 779,74 Euro seien zum 7. Januar 2009 bei der AUO. zu leisten. Mit
Schreiben vom 26. Januar 2009 mahnte die AUO. die unterbliebene Zahlung an. Mit weiterem Schreiben vom 20.
Febru-ar 2009 erteilte die AUO. der Antragstellerin eine letzte Zahlungsaufforderung vor der Liefer-sperre. Am 11.
März 2009 benachrichtigte die AUO. die Antragstellerin dann über die zwi-schenzeitliche Versorgungsunterbrechung.
Zu diesem Zeitpunkt betrug die Gesamtforderung der AUO. 945,06 Euro (einschließlich diverser Kosten). Mit
Schreiben vom 12. März 2009 an das Amtsgericht Bremen-Blumenthal beantragte die Antragstellerin die Verpflichtung
der AUO., die Stromversorgung wieder aufzunehmen. Sie wies zur Begründung darauf hin, dass die
Abschlagszahlungen für Strom durch die Antragsgegnerin direkt und pünktlich an die AUO. geleistet worden seien.
Sie habe bei der AUO. mehrmals um Ratenzahlung gebeten. Dies sei jeweils abgelehnt worden. Ebenfalls mit
Schreiben vom 12. März 2009 lehnte die Antragsgegnerin die Gewährung eines Darlehens ab. Zur Begründung wird
erklärt, für die Begleichung von Stromschulden könne grundsätzlich kein Darlehen gewährt werden, weil Strom in der
Regelleistung (nach dem SGB II) enthalten sei. Ausweislich des am gleichen Tag gefertigten Aktenvermerks wurde
die An-tragstellerin mündlich auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, Lebensmittel von der Tafel zu beziehen und
von den gesparten Mitteln die Stromnachforderung zu begleichen (Bl. 150 d.A.).
Am 20. März 2009 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt.
Zur Begründung erklärt sie, nach § 22 Abs. 5 SGB II sollten Schul-den übernommen werden, soweit dies zur
Behebung einer mit Wohnungslosigkeit vergleich-baren Notlage gerechtfertigt und notwendig sei. Nach der
Verwaltungsanweisung der Senato-rin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales stellten auch rückständige
Stromzah-lungen eine vergleichbare Notlage dar, sofern eine Lieferungseinstellung drohe. Vorliegend sei die Lieferung
sogar bereits eingestellt worden. Es lägen keine gegen die Übernahme eines Darlehens sprechenden Gründe vor.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten. Sie meint, ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht.
Es fehle am Vorliegen einer mit drohender Wohnungslosigkeit ver-gleichbaren Notlage. Die Wohnung der
Antragstellerin werde durch die Einstellung der Strom-versorgung nicht unbenutzbar. Außerdem seien die Folgen der
Stromsperre nicht schwerwie-gend. Die Antragstellerin habe bestätigt, dass sie aus medizinischen Gründen nicht auf
Strom verbrauchende technische Geräte angewiesen sei. In der Wohnung lebten außerdem keine kleinen Kinder.
Schließlich sei auch der Betrieb eine Kühlschrankes nicht zwingend erforder-lich. Es sei der Antragstellerin zumutbar,
ihre Lebensmittel täglich einzukaufen, so dass eine längere Lagerung nicht erforderlich ist. Es erscheine nicht als
unzumutbar, für eine begrenzte Zeit auf Stromlieferungen zu verzichten. Auch die Gewährung eines Darlehens gem. §
23 SGB II komme nicht in Betracht, weil es sich bei der Stromversorgung nicht um einen unab-weisbaren Bedarf
handele.
Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der An-tragsgegnerin verwiesen.
II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf Erlass einer einstwei-ligen Anordnung ist
zulässig und begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung we-sentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft
machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-
Ladewig, aaO, Rn. 29, 36). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche
belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss
die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet
zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte
Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein
Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, be-misst sich
an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei
reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a.a.O.).
1. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 22 Abs. 5 SGB II. Danach können auch Schul-den übernommen
werden, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden und soweit die Schuldenübernahme zur
Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer ver-gleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen
werden, wenn dies gerechtfer-tigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Hierunter fällt
auch eine Übernahme von Kosten, die in der Regelleistung enthalten sind, insbesondere Stromschul-den. Dies gilt vor
allem dann, wenn eine andere Entscheidung dazu führen würde, dass die Wohnung unbewohnbar würde (Lang/Link, in:
Eicher/Spellbrink, SGB II Kommentar, 2. Aufl., 2008, § 22 Rdnr. 106). Nach diesen Vorgaben besteht im vorliegenden
Fall für die Antrags-gegnerin die Verpflichtung, die Stromschulden der Antragstellerin zu übernehmen.
Zwar stellt § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II die Entscheidung über die Übernahme von Schulden zur Sicherung der
Unterkunft grundsätzlich in das Ermessen des Leistungsträgers ("können"). Bei der Ermessensentscheidung über die
Übernahme von Energiekostenrückständen hat dieser dann im Rahmen einer umfassenden Gesamtschau alle
Umstände des Einzelfalles zu be-rücksichtigen, so etwa die Höhe der Rückstände, die Ursachen, die zu dem
Energiekosten-rückstand geführt haben, die Zusammensetzung des von einer eventuellen Energiesperre bedrohten
Personenkreises (insbesondere Mitbetroffenheit von Kleinkindern), Möglichkeiten und Zumutbarkeit anderweitiger
Energieversorgung, das in der Vergangenheit gezeigte Ver-halten, etwa ob es sich um einen erstmaligen oder einen
wiederholten Rückstand handelt, Bemühungen, das Verbrauchsverhalten anzupassen sowie einen erkennbaren
Selbsthilfewil-len (vgl. (Berlit, in: LPK-SGB II, 2. Aufl., 2007, § 22 Rdnr. 118 m.w.N.). Eine solch umfassende
Gesamtabwägung kann in dem vorliegenden Eilverfahren nicht erfolgen, da dieses nur eine summarische Prüfung
vorsieht. Allerdings hat die Antragstellerin bislang weder eine gesund-heitliche Härte noch eine Mitbetroffenheit von
Kindern glaubhaft gemacht hat, was zunächst gegen eine Reduzierung des Ermessens der Antragsgegnerin spricht.
Gleichwohl liegen die Voraussetzung für die darlehensweise Übernahme von Energieschul-den nach § 22 Abs. 5
Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) hier vor. Denn das Ermessen der Antragsgegnerin ist vorliegend gemäß §
22 Abs. 5 Satz 2 SGB II eingeschränkt. Nach dieser Vorschrift sollen Schulden übernommen werden, wenn
ansonsten Wohnungslosigkeit droht. Wie der Wortlaut "sollen" anzeigt, ist das Ermessen des Leistungsträgers in
diesen Fäl-len im Sinne einer positiven Übernahmeentscheidung gebunden (Lang/Link, in: Ei-cher/Spellbrink, SGB II,
2. Aufl., 2008, § 22 Rdnr. 108). Das bedeutet, dass der Leistungsträ-ger in der Regel entsprechende Schulden zu
übernehmen hat und lediglich in atypischen Fäl-len nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Diese
Voraussetzungen sind hier erfüllt. Zwar ist die Antragstellerin nicht im engeren Sinne vom Verlust ihrer Wohnung
bedroht. Allerdings wird die Wohnung der Antragstellerin bereits seit dem 11. März 2009 nicht mehr mit Strom
versorgt. Die Unterbrechung der Stromversor-gung stellt eine der Wohnungslosigkeit nahe kommende Notlage dar (s.
Beschluss der 21. Kammer des Sozialgerichts vom 10. Februar 2009 – S 21 AS 6/09 ER; LSG Berlin-Brandenburg,
Beschl. v. 22.01.2008 - L 28 B 53/08 AS ER, L 28 B 57/08 AS PKH -; Beschl. v. 11.12.2007 - L 28 B 2169/07 AS ER
-; Beschl. v. 22.6.2006 - L 25 B 459/06 AS ER -; SG Karlsruhe, Beschl. v. 03.03.2008 - S 14 AS 879/08 ER; VG A-
Stadt, Beschl. v. 22.10.2008 - S3 V 3413/08; a.A. OVG A-Stadt, Beschl. v. 21.04.2008 - S2 B 141/08; S2 S 142/08 -
). Die 21. Kammer des Sozialgerichts hat hierzu ausgeführt (Beschluss vom 10. Februar 2009 – S 21 AS 6/09 ER -):
"Bereits in der Rechtsprechung der Sozialhilfe war anerkannt, dass die regelmäßige Versor-gung eines Haushaltes mit
(Heiz-)Energie nach den Lebensverhältnissen in Deutschland zum sozialhilferechtlich anerkannten Mindeststandard
gehört (vgl. OVG Münster FEVS 35, 24; Streichsbier, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 34 Rdnr. 6). Die
faktische Unbewohn-barkeit einer Wohnung infolge (drohender) Sperrung der Energie- und Wasserzufuhr steht daher
dem Verlust der Unterkunft gleich (Berlit, in: LPK-SGB II, 2. Aufl., 2007, § 22 Rdnr. 116 m.w.N.; vgl. SG Lüneburg,
Beschl. v. 11.05.2007 - S 30 AS 579/07 ER -). Ist - wie hier - eine Stromsperre bereits vollzogen, ist daher
grundsätzlich von einer Ermessensreduzierung des Leistungsträgers gemäß § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II zugunsten
einer Schuldenübernahme auszugehen, die nur in atypischen Fällen versagt werden kann." Die Kammer schließt sich
dieser Auffassung an. Diese Auffassung steht im Übrigen im Ein-klang mit der Auffassung der Senatorin für Arbeit,
Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales. Nach deren ergänzenden Hinweisen zur Verwaltungsanweisung gem. § 22
SGB II
(http://www.soziales.bremen.de/sixcms/media.php/13/WH%20der%20VAnw%20komplett%20in%20einer%20Fassung
Stand%2001.pdf) sind rückständige Stromkosten - unter bestimmten Umständen ("rückständige Stromkosten, soweit
vor allem Familien mit Kindern die Einstellung der Lieferung droht") - als vergleichbare Notlage anerkannt (S. 42 der
Hinweise). Anhaltspunk-te, die im konkreten Fall ausnahmsweise gegen eine Übernahme der Stromschulden spre-
chen würden, sind nicht ersichtlich.
2. Der Anordnungsgrund folgt daraus, dass die Stromversorgung bereits eingestellt wurde.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.