Urteil des SozG Bremen vom 13.01.2011

SozG Bremen: ausgabe, erlass, personenverkehr, beförderung, hauptsache, pflege, behinderung, verfügung, erstreckung, inhaber

Sozialgericht Bremen
Beschluss vom 13.01.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 3 SB 5/11 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke zur
unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr gem. § 145 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX).
Bei dem 1943 geborenen Antragsteller sind durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. September 2005 ein Grad
der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "erhebliche
Gehbehinderung" ("G"), "Berechtigung für eine ständige Begleitung" ("B") und "Hilflosigkeit" ("H") unter
Berücksichtigung der Gesundheitsstörung "Hirnorganisches Abbausyndrom" festgestellt.
Der Antragsteller bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 982,66 EUR monatlich. Er lebt in
einer vollstationären Einrichtung der Pflege. Das Amt für Soziale Dienste gewährt auf Grund eines Bescheid vom 30.
März 2010 dem Antragsteller unter Anrechnung der Erwerbsminderungsrente Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des
Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII). Dem Antragsteller wird nur ein geringer Barbetrag (96,93,- EUR) als
Taschengeld ausgezahlt. Die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII ist in dem genannten
Bescheid mit 0,00 EUR ausgewiesen.
Der Antragsteller, der über mehrere Jahre von der Antragsgegnerin die Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im
öffentlichen Personenverkehr kostenlos erhalten hatte, beantragte am 14. Oktober 2010 wiederum die kostenlose
Ausgabe einer Wertmarke.
Durch Bescheid vom 15. Oktober 2010 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 09. Dezember 2010 lehnte die
Antragsgegnerin den Antrag ab. Nach der geltenden Fassung des § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX bestehe nur dann
ein Anspruch auf Ausstellung einer unentgeltlichen Wertmarke, wenn der Antragsteller unter anderem laufende Hilfe
zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach
dem 4. Kapitel des SGB XII erhalte. Dies sei ausweislich des Bescheides des Amtes für Soziale Dienste bei dem
Antragsteller nicht der Fall.
Am 05. Januar 2011 hat der Antragsteller sowohl Klage erhoben (Az.: S 3 SB 6/11) als auch einen Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur kostenlosen Ausgabe einer
Wertmarke gestellt. Zur Begründung des Anordnungsantrages hat er vorgetragen, er könne die Kosten von 60,- EUR
jährlich für die Wertmarke nicht selbst tragen, da er völlig mittellos sei. Der ihm zustehende Barbetrag werde nach
dem 3. Kapitel des SGB XII berechnet, so dass er die Anspruchsvoraussetzungen erfülle.
Die Antragsgegnerin ist dem Eilantrag entgegengetreten. Sie hält weder einen Anordnungsanspruch noch einen
Anordnungsgrund für gegeben.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Prozessakte und die Verwaltungsakten
der Beklagten. Diese Unterlagen haben vorgelegen und waren Grundlage der Entscheidung.
II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist
zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-
Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft
machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-
Ladewig, a. a. O., Rn. 28). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche
belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss
die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Dies bedeutet
zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte
Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein
Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, be-misst sich
an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei
reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a. a. O.).
Es ist schon kein Anordnungsanspruch gegeben. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf kostenlose Ausgabe einer
Wertmarke.
Gem. § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die
öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach §
69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr unentgeltlich befördert. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen
Wertmarke versehen ist. Sie wird grundsätzlich gegen Entrichtung eines Betrages von 60,- EUR für ein Jahr oder 30,-
EUR für ein halbes Jahr ausgegeben. Ausnahmeregelungen für die kostenlose Abgabe der Wertmarke enthält § 145
Abs. 1 Satz 5 SGB IX:
Bis zum 20. Dezember 2007 hatten nach § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX Anspruch auf kostenlose Ausgabe der
Wertmarke schwerbehinderte Menschen, die Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz oder die Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem
Zwölften Buch, dem Achten Buch oder den §§ 27a und 27d des Bundesversorgungsgesetzes erhielten. Durch das
Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts
vom 13. Dezember 2007 (BGBl. 2007 I S. 2904 ff) wurde die Vorschrift geändert. Nach der seit dem 21. Dezember
2007 geltenden Fassung der genannten Vorschrift erhalten nur noch diejenigen schwerbehinderten Menschen die
Wertmarke kostenlos, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch oder Leistungen
nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches, dem Achten Buch oder den §§ 27a und 27d des
Bundesversorgungsgesetzes erhalten.
Der Antragsteller gehört zwar als schwerbehinderter Mensch, dem das Merkzeichen "G" zuerkannt ist, zum Kreis der
berechtigten Personen i.S.d. § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, aber er erhält keine der in § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB
IX genannten Leistungen, insbesondere keine Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII. Ausweislich des
Bescheides des Amtes für Soziale Dienste vom 30. März 2010 ist der Antragsteller nicht sachlich-rechtlich Inhaber
eines Anspruchs auf Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII, sondern erhält Leistungen nach dem 7.
Kapitel des SGB XII. Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII sind ausdrücklich mit 0,00 EUR beziffert worden.
Für eine erweiternde Auslegung des § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX, die zu einer Erstreckung auch auf
Leistungsbezieher nach anderen als dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII führen würde, besteht kein Raum. Der
Gesetzgeber wollte das Privileg unentgeltlicher Beförderung ohne Eigenbeteiligung nur noch einem begrenzten
Personenkreis zukommen lassen, um die ansonsten nicht tragbaren Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte
einzudämmen (vgl. Bundessozialgericht – BSG -, Urteil v. 17. Juli 2008, Az. B 9/9a SB 11/06 R). Die Regelung ist
abschließend (BSG a.a.O.). Die Gesetzesmaterialien ergeben keinerlei Hinweis darauf, dass der weiteren Eingrenzung
des privilegierten Personenkreises durch das Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer
Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 nicht ein eindeutiger und einheitlicher
gestalterischer BBC. des Gesetzgebers zugrunde gelegen hätte.
Die gesetzliche Privilegierung der Bezieher von Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII stellt auch keinen
Verstoß gegen Art. 3 GG dar, der die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz verlangt. Der Antragsteller
unterscheidet sich von dem in der geltenden Fassung des § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 erfassten Personenkreis,
insbesondere von den Leistungsbeziehern nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII, in einer Weise, die eine ungleiche
Behandlung rechtfertigen kann. Personen, die Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII beziehen, können
ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen (§ 19
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB XII). Der Antragsteller bezieht eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 982,66 EUR.
Würde er nicht in einer Pflegeeinrichtung leben, hätte er bei diesem Einkommen keinen Anspruch auf ergänzende
Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII.
Soweit der Antragsteller offenbar geltend machen will, wirtschaftlich faktisch einem Empfänger von Hilfe zum
Lebensunterhalt gleichzustehen, so muss er sich mit anderen Einzelpersonen vergleichen lassen, die selbst bei nur
gerade centgenauer Entsprechung zwischen ihrem Einkommen und ihrem Bedarf keinen Anspruch auf Leistungen
nach dem SGB XII und damit auch keinen Anspruch auf kostenlose Ausgabe der Wertmarke haben. Das ist
verfassungsrechtlich unbedenklich (BSG a.a.O.).
Die Aufbringung von 60,- EUR im Jahr entsprechend 5,- EUR im Monat für die Wertmarke führt auch nicht zu einer
gegen Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verstoßenden Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums
des Antragstellers.
Es liegt auch kein Anordnungsgrund vor. Es sind keine Gründe dafür vorgetragen, dass dem Antragsteller ein
Abwarten bis zum Ansparen des für die Wertmarke erforderlichen Betrages oder bis zur Entscheidung in der
Hauptsache nicht zumutbar wäre. Das Gericht kann mangels entsprechenden Vorbringens auch nicht erkennen, dass
der Antragsteller aus zwingenden Gründen – z.B. wegen unaufschiebbarer Arztbesuche – dringend auf die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen wäre und die hierfür erforderlichen Fahrkarte nicht aus dem ihm zur Verfügung
stehenden Barbetrag aufzubringen vermöchte.