Urteil des SozG Braunschweig vom 15.04.2010

SozG Braunschweig: medikamentöse behandlung, adhs, hauptsache, label, diagnose, verordnung, leistungsfähigkeit, defizit, wahrscheinlichkeit, erlass

Sozialgericht Braunschweig
Beschluss vom 15.04.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 6 KR 90/10 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflich-tet, den Antragsteller nach ärztlicher
Verordnung bis zum Abschluss der am 1. September 2009 begonnenen Ausbildung mit Medikamenten mit dem
Wirkstoff Methylphenidat zu versorgen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtli-
chen Kosten dieses Verfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist, ob die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Medikamenten zu versorgen hat, die den Wirkstoff
Methylphenidat enthalten.
Der am 12. September 1991 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er hat
einen Zwillingsbruder. Beide sind nach Komplikationen un-ter der Geburt behindert. Beim Antragsteller besteht eine
kombinierte Entwicklungsstö-rung mit Lernbehinderung und Konzentrationsstörung. Er besuchte zunächst die Schule
für Lernbehinderte und befindet sich nunmehr seit 01.09.2009 in einer Berufsausbildung zum Bau- und Metalllackierer
bei einem Bildungsträger in D ... Seit seiner Kindheit ist bei ihm die Diagnose einer Lernbehinderung mit ADHS
(Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) gestellt, u.a. in amtsärztlichen Gutachten und durch die behan-
delnde Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychatrie, Psychotherapie E., welche den Antragsteller seit mehreren
Jahren behandelt. Wegen ADHS wurde der Antragsteller seit mehreren Jahren mit Medikamenten behandelt, die den
Wirkstoff Methylphenidat enthal-ten, zuletzt mit Medikinet retard und davor auch mit Concerta. Die Medikation erfolgte
bereits durch das sozialpädatrische Zentrum D., wo der Antragsteller als Kind in Behandlung war. Diese Medikamente
sind zugelassen für Kinder ab 6 Jahren und Jugendliche mit einer eindeutigen ADHS-Diagnose.
Unter Aufsicht der Ärztin F. fand im August 2009 ein Auslassversuch statt. Diese verfasste daraufhin zur Vorlage bei
der Antragsgegnerin eine ärztliche Stellungnahme vom 09.10.2009, in der sie auch auf ein Schreiben vom 17.09.2009
hinwies (welches sich allerdings nicht in der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin befindet). Bei dem Auslass-versuch
sei erneut deutlich geworden, dass der Antragsteller in seiner Leistungsfähigkeit auf Grund der
Konzentrationsprobleme ohne Medikation den Anforderungen kaum gewachsen ist. Erst mit der
wiederaufgenommenen Behandlung seien auch seine Ausdauer und seine Leistungen wieder zufriedenstellend
gestiegen. Es sei für ihn unendlich wichtig, diese Chance nutzen zu können. Ohne diese werde er auf Grund seines
Abschlusses der Förderschule keine Ausbildungschancen haben und damit kaum eine Chance für eine selbstständige
Sorge für sein Leben. Sie bat deshalb um die Übernahme der Kosten für die weitere Behandlung mit Methylphenidat,
zumindest für die Dauer der Ausbildung.
Dieses Schreiben legte der Antragsteller mit dem entsprechenden Antrag bei der Antragsgegnerin vor. Diese holte ein
Gutachten des Medizinischen Dienstes der Sozialversicherung Niedersachsen (MDKN) ein. Dr. G. bestätigte am
23.10.2009 die Diagnose einer kombinierten Entwicklungsstörung mit Lernbehinderung und Konzentrationsstörung. Er
führte aus, der Wirkstoff Methylphenidat gehöre zu den Psychostimulantien. Diese seien in Deutschland zugelassen
zur Behandlung von Aufmerksamkeits- und Konzentra-tionsstörungen bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren.
Die Verordnung von Psy-chostimulantien bei Erwachsenen (ab dem vollendeten 18. Lebensjahr) mit einem
Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom stelle eine Off-label-Verordnung dar. Die Voraussetzungen für den sogenannten
Off-label-use lägen nicht vor. Auch fänden sich im Bericht der behandelnden Fachärztin keine Hinweise auf eine
diagnostische Einordnung der be-schriebenen Konzentrationsschwierigkeiten. Es fänden sich keine Hinweise auf
durchge-führte diagnostische Maßnahmen, somatische Kontrolluntersuchungen und auf durchge-führte flankierende
Therapiemaßnahmen, weder zu einem früheren Zeitpunkt noch aktuell. Es sei nicht erkennbar, dass es sich bei der
beantragten medikamentösen Therapie mit Methylphenidat um eine indikationsbezogene ergänzende Maßnahme im
Rahmen eines multimodalen Gesamttherapiekonzepts zur Behandlung eines Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms
handele.
Mit Bescheid vom 30.10.2009 wies die Antragsgegnerin daraufhin den Antrag ab. Dage-gen legte der Antragsteller am
4. November 2009 Widerspruch ein. Der Antragsteller sei seit mindestens 8 Jahren in permanenter ambulanter
fachärztlicher Behandlung bei Frau F ... Diese kenne ihn und seine spezielle medizinische Situation wesentlich besser
als der MDK, der nur nach Aktenlage begutachtet habe. Die weitere Versorgung mit Methylphenidat sei dringend
erforderlich.
Die Antragsgegnerin holte daraufhin ein weiteres MDKN-Gutachten ein. Frau Dr. H. bestätigte darin am 10.11.2009
das Ergebnis des Vorgutachters.
Die Antragsgegnerin übernahm zunächst noch im Wege der Erstattung die Kosten (31,88 EUR je Rezept) für die
Medikamente (zuletzt für ein am 30.11.2009 erstelltes Rezept voll und für ein am 23.2.2010 erstelltes Rezept
teilweise) und wies jedoch mit Widerspruchs-bescheid vom 10.03.2010 den Widerspruch zurück. Das beantragte
Arzneimittel sei in der beantragten Indikation nicht zugelassen. Es ergäben sich bereits keine Hinweise auf die
diagnostische Einordnung der beschriebenen Konzentrationsschwierigkeit im Sinne einer ADHS, noch auf andere
diagnostische, somatische und flankierende Behandlungs- und Therapiemaßnahmen. Insofern sei die Behandlung mit
Methylphenidat nicht indiziert. Auch lägen die Voraussetzungen für den Off-label-use bei ADHS im Erwachsenenalter
nicht vor.
Dagegen hat der Antragsteller am 1. April 2010 Klage beim Sozialgericht Braunschweig erhoben und zugleich den
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.
Die seit Jahren andauernde fachärztliche Behandlung habe deutlich gezeigt, dass die Behandlung mit Methylphenidat
für den Antragsteller alternativlos sei und andere Thera-pieformen die jetzt anstehende Berufsausbildung sowie die
notwendige Konzentrations- und Leistungsfähigkeit nicht sicher stellen könnten. Die Verweigerung der Kostenüber-
nahme beeinträchtige den Antragsteller massiv in seinen Zukunftschancen, weil der er-folgreiche Abschluss seiner
Ausbildung ohne die Kostenübernahme für Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat nicht sicher gestellt,
sondern sogar sehr unwahrscheinlich sei. Auch die Voraussetzungen für einen Off-label-use lägen vor. Der
Antragsteller sei nämlich schwerwiegend erkrankt und die Erkrankung beeinträchtige seine Lebensqualität auf Dauer
nachhaltig. Durch die Erkrankung bestehe eine im Vergleich zu nicht erkrank-ten Menschen massive Herabsetzung
der Konzentrationsfähigkeit, der Ausdauer und Leistungsfähigkeit. Der Antragsteller habe größte Schwierigkeiten, bei
Fortfall der medi-kamentösen Behandlung den normalen Anforderungen des Lebensalltags gewachsen zu sein. Er
müsse für den Weg zur Ausbildung zwei verschiedene Buslinien und eine Straßenbahnlinie benutzen. Bereits die
Benutzung dieser unterschiedlichen öffentlichen Verkehrsmittel würde ihn vor erhebliche Schwierigkeiten stellen, weil
ohne Fortführung der medikamentösen Behandlung nicht sicher gestellt wäre, dass er sich die für ihn jeweils richtige
Bus- bzw. Straßenbahnlinie merken könne und die erhebliche Gefahr bestünde, dass er unter Umständen falsche
Verkehrsmittel wählen und sich schlichtweg verfahren würde. Genauso verhalte es sich mit den etwa im Zuge der
Ausbildung ihm erteilten An-weisungen und Aufträgen. Der Antragsteller sei ohne medikamentöse Behandlung ex-trem
vergesslich und habe große Schwierigkeiten, sich etwa mehrere Dinge gleichzeitig zu merken bzw. die Abläufe der zu
erledigenden Arbeiten richtig zu koordinieren. Durch das Absetzen der medikamentösen Behandlung sei er ständig
Misserfolgserlebnissen ausgesetzt, die sein Selbstwertgefühl nachhaltig beeinträchtigen würden. Ihm würde deutlich
vor Augen geführt werden, dass seine Leistungsfähigkeit gegenüber der anderer Menschen deutlich herabgesetzt ist.
Er wäre ständig der Kritik seitens seiner Ausbilder und anderer Arbeitskollegen ausgesetzt. Dadurch sei der
Ausbildungserfolg insgesamt erheblich gefährdet. Genauso verhalte es sich in allen Lebensbereichen außerhalb der
Ausbildung. Auch hier würden die Einschränkungen in Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit den Antragsteller vor
gravierende Probleme stellen.
Soweit die Antragsgegnerin darauf verweise, dass andere Therapien oder psychoedukative Maßnahmen möglich sein,
löse dies die Probleme des Antragstellers nicht. Derartige Therapieformen mögen sehr langfristig auch zu Erfolgen
führen Der Antragsteller sei aber sofort und kurzfristig auf eine Aufrechterhaltung der Konzentrationsfähigkeit in aus-
reichendem Maße angewiesen, um die Ausbildung überhaupt erfolgreich fortsetzen zu können.
Soweit die Antragsgegnerin darauf verweise, dass die Einnahme von Methylphenidat im Erwachsenenalter als
bedenklich einzustufen sei, gehe dieser pauschale Hinweis fehl. Es gehe vorwiegend nicht um eine zeitlich
vollkommen unbegrenzte Weitergabe des Medikaments, zumal mit Vollendung des 18. Lebensjahres sich der
körperliche Zustand eines Menschen nicht von heute auf morgen grundlegend ändere. Für den Antragsteller stehe
keine andere zugelassene Therapie zur Verfügung, die in gleicher Weise kurzfristig wirksam wäre. Der
Behandlungserfolg sei auch ausreichend begründet, wie sich aus der Bescheinigung der Frau F. ergäbe.
Der Antragsteller könne nicht darauf verwiesen werden, den Abschluss der Hauptsache in möglicherweise erst 2 bis 3
Jahren abzuwarten. Bis dahin müsste seine Ausbildung abgeschlossen sein. Er sei finanziell auch nicht in der Lage,
die Medikamente zunächst selbst zu bezahlen. Im Rahmen eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat
der Antragsteller seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse offengelegt.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller die Kosten für den
Wirkstoff Methylphenidat bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Es sei bereits nicht erkennbar, dass es sich bei der beantragten medikamentösen Thera-pie mit Methylphenidat um
eine indikationsbezogene ergänzende Maßnahme im Rahmen eines multimodalen Gesamttherapiekonzeptes zur
Behandlung eines Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms handele. Selbst wenn es sich jedoch um die Fortsetzung der
Behand-lung einer ADHS handele, könne aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.06.2009 - B 1 KR
58/09 R- ein Anspruch auf die weitere Übernahme der Kosten von Methylphenidat nicht abgeleitet werden.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der näheren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die
Verwaltungsakten der Antragsgegnerin sowie auf die Gerichts-akten nebst Beiakten, die Gegenstand der
Entscheidungsfindung waren, verwiesen.
II.
Der form- und fristgerecht erhobene Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechts-verhältnis gem. § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) zulässig.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein strei-tiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentli-cher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für den
Erlass einer einstweiligen Anordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h. die Eil-bedürftigkeit zur
Abwendung wesentlicher Nachteile) und ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in
der Sache gegebenen materiellen Leis-tungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.
V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung in der
Hauptsache nicht vorweg genommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19
Abs. 4 Grundgesetz -GG-) ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte
Anordnung dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verlet-zung in seinen Rechten droht
und damit schwere und unzumutbare, später nicht wieder gutzumachende Nachteile entstünden, die durch die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden können (vgl. z.B. Bundesverfassungsgericht -BVerfG-,
Be-schluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – mit weiteren Nachweisen).
Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand
einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auf die Folgenabwägung kommt es insbesondere dann an, wenn es um
überragende Rechtsgüter wie die Wahrung der Würde des Menschen und Leben und Gesundheit geht (BVerfG a.a.O.
und BVerfG, Beschluss vom 04. Juli 2001, 1 BvR 165/01 und Beschluss vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02
sowie vom 14. Mai 1996, 2 BvR 1516/93, BVerfGE 94, 166, 216 und Beschluss vom 19. Oktober 1977, 2 BvR 42/76,
BVerfGE 46, 166 ff). Die Folgenab-wägung, die auch eine Interessensabwägung ist, ist dabei abhängig vom Ergebnis
der summarischen Prüfung des Hauptsacheanspruchs. Wenn der Erfolg der Klage in der Hauptsache wahrscheinlich
ist, können die Anforderungen an den Anordnungsgrund für eine einstweilige Anordnung geringer sein als wenn der
Ausgang völlig offen oder sogar eher unwahrscheinlich ist. Immer sind dabei jedoch die grundrechtlichen Belange des
Antragstellers umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die
Grundrechte des Einzelnen stellen (BVerfG vom 12. Mai 2005, a.a.O.). Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen
Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern.
Unter Beachtung dieser Grundsätze ergibt sich Folgendes:
Vorliegend erscheint ein Erfolg der Hauptsache wahrscheinlich.
Es gibt zwar keine Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat, die für die Behand-lung von ADHS bei
Erwachsenen zugelassen sind. Nach der insoweit eindeutigen Rechtssprechung des Bundessozialgerichts im Urteil
vom 30.06.2009 (B 1 KR 5/09 R; Breithaupt 2010, 111 - 121) sind die vom Antragsteller begehrten Medikamente auch
nicht für die Indikation ADHS im Erwachsenenalter im Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung
enthalten. Insbesondere kommt danach keine Versorgung nach den Grundsätzen des Off-label-use in Betracht.
Das BSG hat jedoch in dieser Entscheidung vom 30.06.2009 überzeugend angemerkt (dort Rdnr. 39), die Anpassung
an die Anforderung an einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Kinderarzneimitteln für Erwachsene komme
etwa in Betracht, wenn der Ver-sicherte in der Zeit unmittelbar vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit einem nur für
Kinder und Jugendliche zugelassenen Arzneimittel indikationsbezogen versorgt wurde und er nach Erreichen des 18.
Lebensjahres an derselben Krankheit leidet, die auch nach einem solchen "Stichtag" auf andere Weise nicht
angemessen behandelt werden kann. Unter diesem Blickwinkel könne auch die Behandlung von ADHS zu würdigen
sein, z. B. im Wege einer bereichsspezifischen Auslegung des Merkmals "Jugendlicher". Für ADHS sei man in
Fachkreisen im deutschsprachigen Raum noch bis Ende der 1990er Jahre vielfach davon ausgegangen, dass es sich
um eine Störung handele, die aus-schließlich das Kinder- und Jugendalter betreffe (Prävalenz 4-5 %) und mit dem
Erwach-senenalter "ausheile". Demgegenüber hätten inzwischen zahlreiche Studien verdeutlicht, dass ADHS häufig
auch im Erwachsenenalter (Prävalenz ca. 2 %) fortbestehe. Das BSG führt dort weiter aus: "Sollte das Risiko-Nutzen-
Potential beim Fortgebrauch eines bei Kindern zugelassenen und im Kindes- und Jugendlichenalter schon unmittelbar
vor Errei-chen des 18. Lebensjahres angewandten Arzneimittels auch bei Überschreiten der Schwelle der Volljährigkeit
im Wesentlichen gleich geblieben sein, bedürfte es jedenfalls einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose
Weiterversorgung des Betroffenen mit dem begehrten Mittel abzulehnen"
Eine solche Situation liegt hier vor.
Zwar lagen dem MDKN bei seinen Begutachtungen nach Aktenlage keine Unterlagen vor, die die Diagnose ADHS
eindeutig belegen. Dort haben aber außer dem Bericht der Frau F. und einem MDK-Pflegegutachten aus dem Jahr
2008 keine der mit Sicherheit vorhandenen zahlreichen Berichte und Gutachten aus der vorangegangenen Zeit (z.B.
des sozialpädiatrischen Zentrums D. und der Amts- und Schulärzte) vorgelegen. Es gibt zudem auch keinerlei
ärztliche Unterlagen, die ernsthaft diese Diagnose in Zweifel ziehen. Das Gericht geht deshalb von der Richtigkeit der
von der behandelnden Ärztin I. mitgeteilten Diagnose ADHS aus. Auch gibt es keinerlei Anlass daran zu zweifeln,
dass die bisherige medikamentöse Behandlung medizinisch indiziert war.
Die vom BSG entwickelten Grundsätze für die Anwendung eines Medikaments außerhalb des zugelassenen
Anwendungsbereichs (Off-label-use) sind hier nicht zu Grunde zu legen. Die Zulassung bezieht sich nämlich nicht (wie
der MDKN angibt) auf Jugendliche unter 18 Jahren. Vielmehr lautet die Zulassung auf "Kinder ab 6 Jahren und
Jugendliche". Ein Höchstalter von 18 Jahren ist nicht erwähnt.
Es kommt deshalb darauf an, ob das Merkmal "Jugendlicher" einem bestimmten Alter eindeutig zugeordnet werden
kann. Das dürfte nicht der Fall sein. Zwar markiert in Deutschland der 18. Geburtstag den Beginn der Volljährigkeit.
Das bedeutet aber nicht zwingend, an diesem Tag vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu werden. Eine solche
"Stichtagsregelung" kennt unsere Rechtsordnung nicht. So können über 18-Jährige noch nach Jugendstrafrecht und
Jugendgerichtsgesetz behandelt werden. Selbst Kindergeld kann sogar noch im 25. Lebensjahr bezogen werden.
Das Gericht hat keine Bedenken, im Falle des Antragstellers davon auszugehen, dass er in nahezu allen Belangen
noch einem Jugendlichen gleichzustellen ist. Dies gilt insbesondere für den hirnorganischen Bereich, auf den die
Methylphenidatmedikation abzielt. Es gibt keine Anhaltspunkte für einen ein anderes Ergebnis rechtfertigenden
Entwick-lungsschub seit dem 18. Geburtstag. Auch sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die eine solche Situation vor
Ende der jetzt begonnen Ausbildung erwarten lassen.
Es bedarf deshalb einer besonderen Rechtfertigung, warum die nahtlose Weiterversorgung abgelehnt wird. Diese ist
nicht zu erkennen. Insbesondere können hier zur Recht-fertigung nicht die Argumente herangezogen werden, die
grundsätzlich für den Ausschluss der Anwendung bei Erwachsenen sprechen. Die Risiko-Nutzen-Relation, die bei
Erwachsenen wegen der bisher unerforschten Nebenwirkungen zum Ausschluss der Anwendung führt (vgl, dazu BSG
v. 30.6.2009, aaO) fällt hier anders aus. Es sind (s.o.) kei-ne Gründe ersichtlich (insbesondere keine medizinisch
relevanten körperlichen Verände-rungen des Antragstellers) die seine derzeitige gesundheitliche Situation anders
darstel-len als vor einem Jahr.
Die Zulassung für Jugendliche wurde erteilt, weil für diesen Personenkreis die Risiko-Nutzen-Relation
nachgewiesenermaßen für die Anwendung spricht. Für junge Erwachsene in der Situation des Antragstellers schlägt
diese Relation nicht schlagartig um. Me-dikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat können für ihn also nach der im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung mit hoher Wahrschein-lichkeit innerhalb des
Zulassungsrahmens ärztlich verordnet werden. Ein Anordnungsan-spruch ist deshalb gegeben.
Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die erforderliche Folgen- bzw. Interessenabwägung geht (insbesondere auch
wegen der hohen Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der Hauptsache) zu Gunsten des Antragstellers aus. Es ist darauf
abzustellen, welche Folgen sich ergeben, falls der Antrag abgewiesen wird und der Antragsteller in der Hauptsache
obsiegt bzw. welche Folgen sich aus dem umgekehrten Fall (Obsiegen im ER-Verfahren und Unterliegen im
Hauptsacheverfahren) ergeben.
Im ersten Fall würde der Antragsteller wahrscheinlich auf die Medikamente verzichten. Sie zunächst auf Privatrezept
zu beziehen und selbst zu bezahlen belastet ihn angesichts seiner Einkommensverhältnisse finanziell erheblich.
Darauf, dass es ihm finanziell un-möglich sein muss kann wegen der hohen Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der
Hauptsache bei der Interessen- und Folgenabwägung nicht abgestellt werden. Es ist dann mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die bisher durch die Medikamente behandelten Symptome der ADHS wieder
verstärkt auftreten. Wegen der zusätzlich bestehenden Beeinträchtigungen auf kognitivem Gebiet besteht dann eine
hohe Wahr-scheinlichkeit für den Abbruch der begonnen Ausbildung. Der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wäre dann für
den Antragsteller wegen der derzeitigen gesamtwirtschaftlichen Situation wahrscheinlich vollständig versperrt. Das
grundgesetzlich verbürgte Recht auf Ausbildung und Arbeit wäre verletzt. Eine positive Entscheidung in der
Hauptsache könnte daran nichts mehr ändern.
Dieser massiven Grundrechtsbeeinträchtigung des Antragstellers steht gegenüber das finanziell nicht genau
bezifferbare Risiko der Antragsgegnerin, die Medikamentenkosten möglicherweise vom Antragsteller wegen dessen
finanzieller Situation nie wieder zurück-zuerhalten. Das wäre jedoch für die Gesamtheit der Versichertengemeinschaft
(deren Interessen die Antragsgegnerin vertritt - eigene Interessen der Antragsgegnerin kann es gar nicht geben -) in
Anbetracht des Finanzvolumens der gesetzlichen Krankenversicherung zweifellos eher hinnehmbar als die mögliche
Grundrechtsverletzung des Antragstel-lers.
Unabhängig von dieser Entscheidung wird der Antragsteller mit seiner behandelnden Ärztin über die Risiken der
Weiterbehandlung zu sprechen haben. Nur wenn diese von der medizinischen Notwendigkeit der Verordnung
überzeugt ist, wird sie eine solche aus-stellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
C.