Urteil des SozG Berlin vom 08.09.2009
SozG Berlin: vorläufiger rechtsschutz, wohnung, notlage, firma, rechtfertigung, erlass, hauptsache, depression, rente, ausschluss
Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 08.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 159 AS 27256/09 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten werden nicht erstattet. Der Antrag auf
Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin G wird zurückgewiesen.
Gründe:
Der am 19. August 2009 bei dem Sozialgericht Berlin gestellte Antrag im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes,
den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller ein Darlehen in Höhe von 709,40 Euro für die Abwendung einer
Klage wegen Zutritts zur Wohnung zum Zwecke der Sperrung des Stromanschlusses zu gewähren,
hat keinen Erfolg.
Der Antrag ist als Regelungsanordnung zulässig, aber unbegründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer
einstweiligen Anordnung liegen nicht vor. Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht
in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen
notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h.
des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines
Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der
Hauptsache abzuwarten, voraus. Der geltend gemachte (Leistungs-)Anspruch (Anordnungsanspruch) und die
besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) sind vom
Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Absatz 2
Zivilprozessordnung).
Es bestehen bereits erhebliche Zweifel an dem Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. der besonderen
Eilbedürftigkeit. Die Firma V hat nach hiesigem Kenntnisstand noch keine Klage auf Zählersperrung bei dem
zuständigen Amtsgericht erhoben. Zudem dürfte zur Abwendung der Erhebung einer solchen Klage die Begleichung
der Schulden, die allein für die Verbrauchsstelle M Straße – der derzeit von dem Antragsteller bewohnten Wohnung -
entstanden sind, notwendig sein. Die Schulden für die derzeitige Wohnung belaufen sich auf 533,35 Euro.
Ungeachtet dessen konnte der Antragsteller jedenfalls einen Anordnungsanspruch (den materiell-rechtlichen
Anspruch) nicht glaubhaft machen.
Als Anspruchsgrundlage für die begehrte Übernahme der Schulden kommt nicht § 23 Abs. 1 SGB II in Betracht.
Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II kann im Einzelfall dem Hilfebedürftigen eine Geldleistung in Form eines Darlehens
gewährt werden, wenn ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur
Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs.2 Nr.4 SGB II noch auf andere Weise
gedeckt werden kann. Die laufenden Stromkosten, zu denen auch die Abschläge zählen, sind ein von der
Regelleistung umfasster Bedarf. § 20 Abs. 1 SGB II benennt die Kosten für Haushaltsenergie als Teil, der von der
Regelleistung umfasst ist. Wurden jedoch wie hier, Abschläge in der Vergangenheit nicht bezahlt und ergeben sich
aufgrund der Abrechnungen vom 17. August 2008 und 22. Juli 2009 Schulden für die Vergangenheit so ist § 22 Abs. 5
SGB II die hierfür speziellere Anspruchsgrundlage.
Nach § 22 Abs. 5 SGB II kommt die Übernahme von Schulden in Betracht, sofern Leistungen für Unterkunft und
Heizung erbracht werden und soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren
Notlage gerechtfertigt ist. Wenn dies auch dem Wortlaut des § 22 Abs. 5 SGB II nicht direkt zu entnehmen ist, fällt
hierunter auch die Übernahme von Schulden für die Inanspruchnahme von Energie, wie sich unter Heranziehung der
gesetzgeberischen Grundlagen ergibt (vgl. Bundestags-Drucksache, 16/688 vom 15. Februar 2006, S. 14). Aus den
gesetzgeberischen Motiven ergibt sich das Bestreben, mit der Regelung unmittelbar im SGB II eine Grundlage für die
Übernahme von Miet- und Energieschulden zu schaffen und hierfür nicht mehr auf das Zwölfte Sozialgesetzbuch
(SGB XII) zu verweisen, um die Leistungen aus einer Hand zu gewähren (vgl. Beschlüsse des Landessozialgerichts
Berlin-Brandenburg vom 22. Juni 2006 – L 25 B 459/06 AS ER – und vom 21. September 2006 – L 25 B 469/06 AS
ER).
Die Übernahme der Schulden muss nach § 22 Abs. 5 SGB II allerdings auch gerechtfertigt sein. Dies ist vorliegend
nicht der Fall. Der Gesetzgeber hat nicht definiert, wann eine Rechtfertigung vorliegt. Es handelt sich um einen
unbestimmten Rechtsbegriff. Dieser unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung. Bei der Prüfung der Rechtfertigung
der Leistung sind entsprechend der grundsätzlichen Subsidiarität der Grundsicherungsleistungen die
Selbsthilfemöglichkeiten des Leistungsberechtigten und seine wirtschaftliche Situation und seine
Vermögensverhältnisse zu berücksichtigen. Deshalb ist die Übernahme von Schulden nur dann gerechtfertigt, wenn
die Notlage vom Leistungsberechtigten nicht selbst beseitigt werden kann. Schließlich ist von Bedeutung, wie es zur
Notlage gekommen ist. Zwar bedingt nicht jede durch den Hilfebedürftigen verschuldete Herbeiführung der Notlage den
Ausschluss von Leistungen. Es kommt insofern auf die Umstände des Einzelfalls an. Eine Übernahme von Schulden
kann nicht gerechtfertigt sein, wenn sich das Verhalten des Hilfebedürftigen als vorwerfbar bzw. missbräuchlich
darstellt und die Übernahme von Schulden sich als "positiver Verstärker nicht erwünschten Verhaltens" darstellen
würde (u.a. SG Düsseldorf Beschluss vom 02.03.2007 Az. S 28 AS 372/06 ER [juris], SG Berlin Beschluss vom
19.02.2007 Az. S 102 AS 2126/07 ER).
Unter Anwendung dieses Prüfungsmaßstabes überwiegen die Umstände, die gegen den Antragsteller sprechen
eindeutig. Die Ursachen, die zum Entstehen der Schulden des Antragstellers bei der Firma V geführt haben, stammen
ausschließlich aus der Sphäre des Antragstellers. Er hat über mehrere Monate die laufenden Abschläge nicht gezahlt,
obwohl er eine Rente und ergänzend Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhaltes erhalten hat. Insoweit der
Antragsteller vorträgt, dass er aufgrund der schweren Erkrankung seiner Ehefrau, die im April 2007 verstarb, in eine
tiefe Depression verfiel und laufende Zahlungen nicht leisten konnte, vermag dies eine Rechtfertigung nicht
begründen. Der Tod eines nahe stehenden Menschen kann durchaus dazu führen, dass man in eine Depression
verfällt und die täglichen Geschäfte und Verpflichtungen des Lebens ruhen lässt. Ein solcher Zustand mag für eine
gewisse Zeit durchaus nachvollziehbar und verständlich sein. Das Gericht ist aber der Auffassung, dass dem
Antragsteller zumindest nach der ersten Stromsperre für die Wohnung E.damm im Dezember 2007 aufgefallen sein
muss, dass er sein Leben regeln muss und das Nichtnachkommen von Zahlungsverpflichtungen nicht folgenlos bleibt.
Zu Lasten des Antragstellers ist zu berücksichtigen, dass er trotz des einschneidenden Ereignisses einer Stromsperre
im Dezember 2007 auch in der neuen Wohnung in der M Straße die laufenden Abschläge nicht gezahlt hat. Der
Antragsteller hat vielmehr im Vertrauen darauf, dass sich die Sachlage schon regeln wird, den Kontakt zum
Stromlieferanten V nicht gesucht und die Stromschulden bewusst auflaufen lassen. Der Schuldübernahme steht
entgegen, dass der Antragsteller gegen den Grundsatz der Selbsthilfepflicht verstoßen hat. Nach § 2 Abs.1 Satz 1
SGB II ist von dem Hilfebedürftigen zu verlangen, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner
Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen. Der Antragsteller hat die Rechnungen vom 17. August 2008 und vom 22. Juli 2009
ignoriert. Ein ernsthaftes Bemühen um eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Firma V konnte nicht glaubhaft
gemacht werden. Zu begrüßen ist, dass der Antragsteller sich nunmehr um fremde Hilfe bei der Bürgerhilfe bemüht
hat und von dort aus, die Zahlung der laufenden Abschläge seit Juli 2009 veranlasst wird. Zudem hat der Antragsteller
einmalig einen Betrag von 30 Euro an die Firma V gezahlt. Die Nachfrage nach einer Ratenzahlungsvereinbarung
durch den Antragsteller kam nach Auffassung des Gerichts jedoch zu spät und er konnte nicht ernsthaft mehr mit
einer Ratenzahlungsvereinbarung rechnen.
Bei der gebotenen Gesamtschau ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass der Antragsteller die Wohnung allein bewohnt
und ihn allein die Stromsperre als Folge seines unwirtschaftlichen und gegen die Selbsthilfepflicht verstoßenden
Handelns trifft.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller beruht auf der entsprechenden Anwendung des
§ 193 SGG.
Aus den oben genannten Gründen ist auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe gemäß §§ 73a Abs. 1 SGG, 114 Abs. 1
ZPO wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht zurückzuweisen.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Absatz 3 Nr.1 SGG, § 144 Absatz 1 SGG). Der Wert des
Verfahrensgegenstandes übersteigt 750 Euro nicht.