Urteil des SozG Berlin vom 22.12.2006
SozG Berlin: bemessungszeitraum, versorgung, vertragsarzt, elektronische gesundheitskarte, vergütung, leistungserbringer, verfügung, produkt, anteil, verwaltungsbezirk
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Gericht:
SG Berlin 71.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 71 KA 12/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 85 Abs 4 S 6 SGB 5 vom
22.12.2006, § 85 Abs 4 S 7 SGB
5 vom 14.11.2003, § 85 Abs 4 S
8 SGB 5 vom 14.11.2003, Art 12
Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG
(Vertragsärztliche Versorgung - Honorarverteilungsregelungen
der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin - keine Übertragbarkeit
der Rechtsprechung des BSG vom 17.3.2010 - B 6 KA 43/08 R -
Festsetzung von Individualbudgets - kein Verstoß gegen
höherrangiges Recht - Verlegung des Praxissitzes und
Übernahme von Patienten nach Auflösung einer
Praxisgemeinschaft - Ausgestaltung der Anhebung des
Individualbudgets im Rahmen einer Ermessensentscheidung)
Leitsatz
1. Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.03.2010 in dem Verfahren B 6 KA 43/08
R, das zu den Honorarverteilungsregelung des Bezirks der Kassenärztlichen Vereinigung
Nord-Württemberg ergangen ist, ist nicht auf die ab dem Quartal II/2007 geltenden
Honorarverteilungsregelungen im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin übertragbar.
2. Ein Zusammenhang zwischen der Verlegung eines Praxissitzes und der Übernahme der
Patienten mit entsprechender Fall- und Punktzahlerhöhung ergibt sich hinreichend deutlich
aus Listen, in denen ehemalige Patienten durch ihre jeweiligen Unterschriften bestätigen, sich
in die Behandlung des antragstellenden Arztes begeben zu haben.
3. Zur näheren Ausgestaltung der Anhebung des Individualbudgets durch die Kassenärztliche
Vereinigung im Rahmen ihres Ermessens.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18. November 2008, ausgefertigt am 17. Dezember 2008,
wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger ab dem Quartal II/2007 und bis zum Quartal
IV/2008 ein höheres Individualbudget unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Gerichts zu gewähren.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch des Klägers auf Neufestsetzung seines
Individualbudgets bzw. auf Gewährung eines höheren Punktzahlvolumens.
Der Kläger nimmt seit dem 1. April 1998 als Facharzt für Allgemeinmedizin im
Verwaltungsbezirk K-T an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Bis zum 31. März 2007
bestand eine Praxisgemeinschaft des Klägers mit der Fachärztin für Allgemeinmedizin
Frau Dr. med. K…. Zum 1. April 2007 schied Frau Dr. K… aus Altersgründen aus der
Praxisgemeinschaft aus. Für das Quartal II/2007 ließ sie sich im Medizinischen
Versorgungszentrum (MVZ) „Praxisklinik am …..“ – dem hier Beigeladenen - anstellen.
Ab dem Quartal III/2007 war Frau Dr. T… auf dem Angestelltensitz von Frau Dr. K… tätig.
Die Beklagte ermittelte für den Kläger folgende Individualbudget-Punkte je Quartal (unter
Berücksichtigung des Gewichtungsfaktors):
Die Fachgruppengrenzwerte gemäß § 9 Absatz 7, § 16 Absatz 2 c
Honorarverteilungsmaßstab (HVM) beliefen sich für den Bereich der Ersatzkassen auf
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Honorarverteilungsmaßstab (HVM) beliefen sich für den Bereich der Ersatzkassen auf
324.004 Punkte und für den Bereich der Primärkassen auf 243.005 Punkte.
Mit Schreiben vom 4. Juli 2007 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf
Neufestsetzung seines Individualbudgets. Seine Fallzahlen seien durch die Übernahme
von 115 ehemaligen Patienten von Frau Dr. K… deutlich angestiegen. Die
Patientenakten seien ihm von Frau Dr. K… übergeben worden. Seinen Antrag ergänzte
der Kläger mit Listen von insgesamt 115 namentlich aufgeführten Patienten, die er im
Quartal II/2007 von Frau Dr. K… übernommen habe. Im Folgenden ergänzte der Kläger
seinen Antrag mit einem Verweis auf seine Abrechnungsdaten aus dem Quartal III/2007.
Demzufolge sei die Anzahl der von Frau Dr. K… übernommenen Patienten auf 167
angestiegen. Seit dem Quartal II/2007 würden seine Patientenzahlen kontinuierlich
ansteigen. Er sei an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt. Im Gegensatz zu ihm
würde in K… kein Hausarzt wegen Überschreitung seines Individualbudgets neue
Patienten aufnehmen.
Mit Bescheid vom 31. Januar 2008 gab die Beklagte dem Antrag vom 4. Juli 2007 auf
Neufestsetzung des Individualbudgets des Klägers teilweise statt. Die Regelungen des
ab dem 1. Juli 2007 geltenden HVM gemäß § 9 Absatz 8 b – in Verbindung mit den
Voraussetzungen des § 10 HVM für einen erhöhten Zuwachs des Individualbudgets bis
zum Fachgruppendurchschnitt – seien erfüllt worden. Dem Kläger werde daher eine
Erhöhung des Individualbudgets entsprechend der Wachstumsregelungen für Altpraxen
auf den Fachgruppendurchschnitt zugebilligt, da durch die Übernahme der Patienten von
Frau Dr. K… seine Fallzahlen gegenüber denen des Bemessungszeitraumes des Jahres
2002 um ca. 20% angestiegen seien. Eine dokumentierte Patientenübernahme würde
jedoch nicht vorliegen.
Dagegen legte der Kläger mit am 14. Februar 2008 bei der Beklagten eingegangenen
Schreiben Widerspruch ein. Die ihm zugebilligte Erhöhung seines Individualbudgets sei
nicht ausreichend und werde seiner individuellen Situation nicht gerecht. Er beantrage
eine Neufestsetzung seines Individualbudgets gemäß § 9 Absätze 12 und 13 HVM wegen
Praxisschließung ohne Praxisnachfolge bzw. Praxisumzug im Umfeld des Antragstellers.
Zusätzlich legte er Listen mit 215 namentlich aufgeführten Patienten vor, die er im
Zeitraum vom 1. April 2007 bis zum 7. Februar 2008 von Frau Dr. K… übernommen
habe.
Mit Schreiben vom 12. Juni 2008 bat die Beklagte den Beigeladenen, das MVZ
„Praxisklinik am …“, in das Frau Dr. K… ihren Arztsitz verlegt hatte, um Auskunft, ob
eine Vereinbarung zur Patientenübernahme getroffen worden sei oder ob
Patientenakten an das MVZ abgegeben worden seien. Mit am 23. Juni 2008 bei der
Beklagten eingegangenen Schreiben antwortete die Beigeladene, dass durch eine
mündliche Vereinbarung alle Patienten zu der Nachfolgerin auf dem Arztsitz von Frau Dr.
K… in dem MVZ, Frau Dr. M… T…, zur Behandlung kommen konnten und alle
Hausbesuche von ihr übernommen worden seien.
Die Beklagte wies den Beigeladenen im Folgenden darauf hin, dass ggf. mit einer
Kürzung des Individualbudgets zu rechnen sei, wenn nicht alle ehemaligen Patienten von
Frau Dr. K… übernommen worden wären. Eine Überprüfung habe ergeben, dass Frau Dr.
T… weniger Patienten behandeln würde als ihre Vorgängerin. Um eine namentliche
Aufstellung der übernommenen Patienten werde daher gebeten. Der Beigeladene
bestätigte daraufhin die Übernahme aller Patienten von Frau Dr. K…. Frau Dr. T…
erklärte, dass alle Patienten von Frau Dr. K… die Möglichkeit gehabt hätten, sich von ihr
behandeln zu lassen. Eine Übernahme aller Hausbesuchspatienten sei gewährleistet
worden. Frau Dr. K… erklärte ihrerseits, dass für alle ihre Patienten die Möglichkeit
bestanden habe, sich bei dem Beigeladenen behandeln zu lassen.
Der Kläger ergänzte seinen Vortrag im Folgenden durch die Angabe, er habe sein
angefordertes Punktzahlvolumen in den Quartalen II/2007 und III/2007 gegenüber den
beiden Quartalen IV/2006 und I/2007 vor der Patientenübernahme um 13,1% steigern
können. Gegenüber den beiden Vorjahresquartalen II/2006 und III/2006 habe sich eine
Steigerung um 20,2% ergeben. Eine dokumentierte Vereinbarung zur
Patientenübernahme halte er für realitätsfern. Zwar seien ihm von Frau Dr. K… die
entsprechenden Patientenakten übergeben worden, eine schriftliche Vereinbarung
darüber habe sie jedoch abgelehnt. Er bitte daher, die von Frau Dr. T… aus dem MVZ
„Praxisklinik am …“ behandelten Patienten mit seinen Listen der übernommenen
Patienten zu überprüfen. Er könne ebenfalls nicht nachvollziehen, dass die hauptsächlich
älteren Patienten von Frau Dr. K… die neue 5 km entfernte Praxis einer wohnortnahen
hausärztlichen Versorgung vorziehen würden.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte aufgrund ihrer Sitzung vom 18.
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Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte aufgrund ihrer Sitzung vom 18.
November 2008 durch am 17. Dezember 2008 ausgefertigten Widerspruchsbescheid
zurück. Nach ihren, das Ermessen näher definierenden und der Gleichbehandlung
dienenden Bearbeitungsrichtlinien vom 27. August 2003 könne eine Neufestsetzung des
Individualbudgets aufgrund der Übernahme von Patienten aus geschlossenen
Arztpraxen ohne Praxisnachfolge nur dann gerechtfertigt sein, wenn die vertragsärztliche
Praxis den angeforderten Leistungsbedarf in Punkten bzw. die Fallzahl in mindestens
zwei aufeinanderfolgenden Quartalen um mindestens 10% gegenüber dem
Bemessungszeitraum gesteigert habe und gleichzeitig mit dieser Leistungssteigerung
um 10% oberhalb des Wachstums der Fachgruppe liege. Zudem müsse der
Antragsteller anhand der Benennung der übernommenen Patienten glaubhaft machen
können, dass sein erkennbarer Fallzahlanstieg tatsächlich aus der Übernahme von
Patienten einer geschlossenen Praxis resultiere. Vorliegend fehle es weiterhin an einer
dokumentierten Patientenübernahmevereinbarung. Um eine ggf. erforderliche Kürzung
auf Seiten der Patienten abgebenden Praxis umsetzen zu können, sei es erforderlich,
dass diese Praxis mit der Übernahme der konkret geltend gemachten Patienten
einverstanden sei. Dies könne zum Beispiel durch eine Unterschrift der abgebenden
Praxis auf der Patientenliste geschehen. Zwar liege eine Liste des Klägers mit
ehemaligen Patienten von Frau Dr. K… vor, jedoch sei diese nicht von ihr bestätigt
worden. Hinsichtlich der Verlegung des Arztsitzes von Frau Dr. K… sei weiterhin
festzustellen, dass sich der von Frau Dr. T… im MVZ „Praxisklinik am …“ fortgeführte
Arztsitz lediglich 5 km entfernt vom ehemaligen Praxisstandort befinde. Aufgrund der
relativ kurzen Distanz zum neuen Praxissitz sei die Weiterbehandlung zumindest
wesentlicher Teile des Patientenstammes möglich. Zudem lägen Erklärungen von Frau
Dr. K…, Frau Dr. T… sowie des beigeladenen MVZ über die Weiterbehandlung der
ehemaligen Patienten von Frau Dr. K… durch ihre Nachfolgerin vor.
Dem Kläger sei bereits ab dem II. Quartal 2007 ein Individualbudget in Höhe des
Fachgruppendurchschnitts zugestanden worden. Die Zuordnung des
Fachgruppendurchschnitts als Budgetobergrenze erscheine auch unter Berücksichtigung
seiner Fallzahlen im Verhältnis zu den Fallzahlen seiner Fachgruppe gerechtfertigt. So
beziffere sich die durchschnittliche Fallzahl des Klägers im Jahr 2007 auf 720, während
die Fachgruppe in diesem Zeitraum 710 Fälle je Quartal abgerechnet habe. Im I. Quartal
2008 seien durch den Kläger 772 Fälle zur Abrechnung eingereicht worden, während sich
die durchschnittliche Fallzahl auf 743 beziffere. Zwar liege seine Fallzahl des I. Quartals
2008 somit etwas oberhalb des Fachgruppendurchschnittswertes, jedoch träten
quartalsweise Überschreitungen des Mittelwertes in Höhe von ca. 20-30 Patienten auch
bei Kollegen seiner Fachgruppe auf, ohne dass hieraus ein Anspruch auf Erhöhung des
Individualbudgets über den Fachgruppendurchschnitt hinaus entstehen könne.
Am 7. Januar 2009 erhob der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten Klage vor dem
Sozialgericht Berlin. Seit dem Zeitpunkt der Beendigung der Praxisgemeinschaft habe er
einen erheblichen Teil der vormaligen Patienten von Frau Dr. K…übernommen, und zwar
im Quartal II/2007: 115 ehemalige Patienten von Frau Dr. K…, im Quartal III/2007: 167
ehemalige Patienten von Frau Dr. K…, im Quartal IV/2007: 210 ehemalige Patienten von
Frau Dr. K…, im Quartal I/2008: 215 ehemalige Patienten von Frau Dr. K…. Auch in
absoluten Zahlen lasse sich eine erhebliche Steigerung der Behandlungsfälle
verzeichnen. Noch im Jahr 2006 habe die durchschnittliche Fallzahl in seiner Praxis 624
pro Quartal betragen. Diese durchschnittliche Fallzahl habe derjenigen des für die
Berechnung des Individualbudgets relevanten Jahres 2002 entsprochen. Seit der
Beendigung der Praxisgemeinschaft mit Frau Dr. K… habe seine Fallzahl signifikant
höher gelegen, und zwar 730 Behandlungsfälle im Quartal II/2007, 725 Behandlungsfälle
im Quartal III/2007, 805 Behandlungsfälle im Quartal IV/2007 und 775 Behandlungsfälle
im Quartal I/2008. Auch ein Vergleich der angeforderten Punkte belege einen Anstieg der
Punktmengen seit der Patientenübernahme von Frau Dr. K…. Die in der einschlägigen
Vorschrift des HVM als Tatbestandsmerkmal genannte Voraussetzung einer
Patientenübernahme sei erfüllt. Es komme nicht darauf an, ob diese
Patientenübernahme auch in der Art und Weise dokumentiert sei, wie es die Beklagte
verlange. Selbst wenn man davon ausginge, dass der Wille der Patienten abgebenden
Praxis von Bedeutung sei, so sei doch unberücksichtigt geblieben, dass Frau Dr. K… ihm
die Akten der betreffenden Patienten persönlich übergeben habe. Damit habe sie
konkludent ihr Einverständnis mit der Weiterbehandlung dieser Patienten durch ihn – den
Kläger – zum Ausdruck gebracht. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass eine rein
privatrechtliche Vereinbarung zwischen Vertragsärzten regelmäßig ohne Einfluss auf die
öffentlich-rechtlichen Positionen des Vertragsarztrechts sei.
Die Beklagte gehe weiterhin unzutreffend davon aus, dass neben dem Erfordernis der
Leistungs- bzw. Fallzahlsteigerung gegenüber dem Bemessungszeitraum auch ein
solches der gleichzeitigen Leistungssteigerung oberhalb des Fachgruppendurchschnitts
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solches der gleichzeitigen Leistungssteigerung oberhalb des Fachgruppendurchschnitts
bestehe. Zudem fänden sich in dem Bescheid keine Ausführungen dazu, ob er –
entsprechend der Richtlinien der Beklagten – „in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen
einen gegenüber dem Bemessungszeitraum um 10% gesteigerten Leistungsbedarf“ in
Punkten bzw. Fallzahl aufweise und ob seine Leistungssteigerung das Wachstum der
Fachgruppe um 10% überschreite. Tatsächlich seien diese Kriterien erfüllt.
Die Beklagte übersehe weiterhin, dass eine Erhöhung des Individualbudgets wegen einer
Praxisschließung ohne Nachfolge im Sinne des § 9 Absatz 12 HVM nicht nur dann zu
gewähren sei, wenn der seine Praxis schließende Leistungserbringer endgültig aus der
vertragsärztlichen Versorgung ausscheide. Maßgeblich sei vielmehr, dass die
geschlossene Praxis nicht mehr zur Versorgung der Versicherten beitragen könne. Denn
eine Erhöhung des Individualbudgets sei gemäß § 9 Absatz 12 Spiegelstrich 2 HVM auch
wegen Praxis im Umfeld des Antragstellers und entsprechender
Patientenübernahme zu gewähren. Die Übernahme der Patienten von Frau Dr. K… stelle
auch keine Leistungsmengenausweitung dar. Denn gemäß § 95 Absatz 3 Satz 1 Fünftes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bewirke die Zulassung, dass der Vertragsarzt zur
Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung nicht nur berechtigt, sondern auch
verpflichtet sei.
Mit Schriftsatz vom 29. Januar 2010 wurde eine Liste derjenigen Patienten, die der Kläger
von Frau Dr. K… übernommen haben will, übergeben, die mit weiterem Schriftsatz vom
24. Februar 2010 ergänzt wurde.
Selbst wenn – auf der Grundlage des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.
März 2010, Aktenzeichen B 6 KA 43/08 R – die Honorarverteilung in der Zeit vom Quartal
II/2005 bis zum Ende des Quartals IV/2008 rechtswidrig auf der Grundlage von
Individualbudgets erfolgt sein sollte, sei die Klage dennoch begründet. Im Ergebnis
beantrage er, dass die der Abrechnung zugrunde gelegten Instrumente der
Leistungsmengenbegrenzung derart angepasst werden, dass die durch die
Patientenübernahme verursachten Mehrleistungen angemessen vergütet würden. Er
begehre also die Zuweisung höherer maximal abrechenbarer Punktzahlvolumina für die
Quartale II/2007 bis IV/2008. Dieses Begehren könne einerseits durch eine Erhöhung des
Individualbudgets für die Quartale II/2007 bis IV/2008, aber andererseits auch durch die
Zuweisung eines den Vorgaben des § 85 Absatz 4 SGB V gerecht werdenden
Instruments der Leistungsmengensteuerung wie beispielsweise einem
Regelleistungsvolumen (RLV) erfüllt werden. Einer Anwendung eines den Vorgaben des §
85 Absatz 4 SGB V gerecht werdenden Instruments der Leistungsmengensteuerung
könne auch nicht entgegengehalten werden, dass die Honorarbescheide der Quartale
II/2007 bis IV/2008 bereits bestandskräftig seien.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18. November 2008, ausgefertigt am 17. Dezember 2008,
aufzuheben und
die Beklagte zu verpflichten, ihm ab dem Quartal II/2007 und bis zum Quartal
IV/2008 ein höheres Individualbudget bzw. ein höheres abrechenbares Punktzahlvolumen
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entgegen der Auffassung des Klägers reiche es für eine Patientenübernahme im Sinne
des § 9 Nr. 12 HVM nicht aus, dass die Patienten tatsächlich aus einer anderen Praxis im
Umfeld kommen. Vielmehr müsse diese Patientenübernahme auf einer ausdrücklichen
Übernahmevereinbarung mit der geschlossenen Praxis beruhen. Es liege auch keine
Praxisschließung ohne Nachfolge vor; denn bei einem Umzug scheide ein
Leistungserbringer nicht endgültig aus der vertragsärztlichen Versorgung aus.
Davon abgesehen könne ein Leistungserbringer nur dann einen Ausgleich für eine
budgetmäßig nicht berücksichtigte Belastung beanspruchen, wenn diese Belastung nicht
auf eine Leistungsmengenausweitung zurückzuführen sei. Die Entscheidung des Klägers,
Patienten aus der Praxis Dr. K… zu übernehmen, stelle sich aber als eine
Leistungsmengenausweitung dar, da der Kläger zu einer entsprechenden
Weiterversorgung nicht verpflichtet gewesen sei. Trotz des Grundsatzes einer freien
Arztwahl sei kein Leistungserbringer verpflichtet, über seine Kapazität hinaus tätig zu
werden.
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Festzuhalten sei ferner, dass der Kläger erst nach der tatsächlichen Übernahme von
Patienten seiner ehemaligen Praxisgemeinschafts-Partnerin im Wesentlichen die
durchschnittliche Fallzahl einer hausärztlichen Praxis in Berlin erreiche. Hierfür sei ihm
auch ein Individualbudget in Höhe des Fachgruppendurchschnitts zugeteilt worden.
Im Hinblick auf die Entscheidung des BSG vom 17. März 2009 in dem Verfahren B 6 KA
43/08 R gelte, dass diese auf den HVM der KV Berlin nicht übertragbar sei. Das Urteil des
BSG betreffe lediglich den HVM der KV Nord-Württemberg und sei durch dessen
Besonderheiten geprägt. Die rechtlichen Grundlagen der Honorarverteilung in Berlin ab
dem Quartal II/2005 hätten weiterhin Bestand.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Gerichts- und Verwaltungsakten haben vorgelegen und waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung. Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten
sowie des übrigen Inhalts wird auf sie Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18. November 2008, ausgefertigt am 17. Dezember 2008,
ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch
auf Neufestsetzung seines Individualbudgets ab dem Quartal II/2007 unter Beachtung
der Rechtsauffassung des Gerichts.
Diesem Anspruch steht nicht entgegen, dass bereits das Regelungskonzept der
Individualbudgets ab dem hier streitgegenständlichen Quartal II/2007 rechtswidrig
gewesen wäre. Die Kammer hält das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.
März 2010 in dem Verfahren B 6 KA 43/08 R, das zu den Honorarverteilungsregelungen
des Bezirks der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg ergangen ist, im
Ergebnis nicht auf die ab dem Quartal II/2007 geltenden Honorarverteilungsregelungen
im Bezirk der Beklagten übertragbar. Die für den streitgegenständlichen Zeitraum
geltenden Honorarverteilungsregelungen der Beklagten verstoßen nicht gegen
höherrangiges Recht.
Die Honorarverteilungsregelungen, die die Beklagte und die Krankenkassen für den
Zeitraum ab dem II. Quartal 2007 vereinbart hatten, entsprachen zwar nicht den
Vorgaben des § 85 Absatz 4 Satz 7 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach dieser
Bestimmung sind in der Honorarverteilung „insbesondere … arztgruppenspezifische
Grenzwerte festzulegen, bis zu denen die von einer Arztpraxis erbrachten Leistungen mit
festen Punktwerten zu vergüten sind (Regelleistungsvolumina)“. Kernpunkt dieser
Bestimmung sind zwei Vorgaben, nämlich die Festlegung arztgruppenspezifischer
Grenzwerte und fester Punktwerte, - und gemäß § 85 Absatz 4 Satz 8 SGB V kommt
hinzu, dass für die darüber hinaus gehenden Leistungsmengen abgestaffelte Punktwerte
vorzusehen sind.
Von den beiden Elementen „arztgruppenspezifische Grenzwerte“ und „feste
Punktwerte“ wichen die ab dem Quartal II/2007 geltenden Honorarverteilungsregelungen
der Beklagten ab.
Da es vor dem Hintergrund der Voraussetzungen der Übergangsregelung in Teil III Nr.
2.2. des Beschlusses des Bewertungsausschusses vom 29. Oktober 2004 – wonach eine
Rechtmäßigkeit der Honorarverteilungsregelungen trotz Abweichungen von den
Vorgaben des § 85 Absatz 4 Satz 7 SGB V dann in Betracht kommt, wenn bisherige
Steuerungsinstrumente fortgeführt werden, deren Auswirkungen mit den Vorgaben des
§ 85 Absatz 4 SGB V vergleichbar sind (vgl. dazu unten) – auf einen Vergleich der
Bestimmungen des ab dem Quartal II/2007 geltenden HVM mit den davor geltenden
Honorarverteilungsregelungen ankommt, sind auch diese in eine Bewertung im Lichte
der Vorgaben des § 85 Absatz 4 Satz 7 SGB V miteinzubeziehen:
Zum 1. Juli 2003 erfolgte auf der Grundlage des HVM in der Fassung vom 19. Juni 2003
durch die Beklagte erstmalig die Honorarverteilung auf Grundlage sogenannter
Individualbudgets. Das Individualbudget als maximal abrechenbares individuelles
Punktzahlvolumen wurde aus den individuellen Umsätzen im Bemessungszeitraum der
Quartale I/2002 bis IV/2002 getrennt nach Primär- und Ersatzkassen ermittelt. Die
ermittelten Umsätze wurden mit dem Faktor 10/0,511292 € multipliziert. Dieses Produkt
wurde durch 4 dividiert. Daraus ergab sich das für ein Quartal geltende Individualbudget,
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wurde durch 4 dividiert. Daraus ergab sich das für ein Quartal geltende Individualbudget,
das lediglich mit einem Gewichtungsfaktor an die Quartalsschwankungen angepasst
wurde.
Nach § 9 Absatz 2 HVM wurden Leistungen, die Ärzte über das ihnen zugeordnete
maximal abrechenbare individuelle Punktzahlvolumen hinaus abrechneten, auf dieses
Punktvolumen gekürzt. Die nach Kürzung verbleibenden maximal zulässigen
punktzahlbewerteten Leistungen wurden mit einer Fachgruppenquote multipliziert. Die
Fachgruppenquote ergab sich, indem die zur Verfügung stehende Honorarsumme der
Fachgruppe durch das Produkt des maximal zulässigen Punktzahlvolumens der
Fachgruppe mit 5,112929 Cent dividiert wurde. Das sich daraus ergebende individuelle
Punktzahlvolumen des Arztes wurde mit 5,112929 Cent vergütet.
Wurde dieses maximal abrechenbare Punktzahlvolumen im Abrechnungsquartal von
einer Praxis unterschritten, trat die abgerechnete Leistungsmenge an die Stelle des
maximal abrechenbaren Punktzahlvolumens. Überschritt das abgerechnete
Punktzahlvolumen eines Arztes das maximal abrechenbare individuelle
Punktzahlvolumen, ergaben sich von 5,11929 Cent abweichende praxisindividuelle
Punktwerte.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass für die Vergütung der Leistungen mit einem Punktwert
von 5,112929 Cent nicht allein das nach § 9 Absatz 1 HVM ermittelte Punktzahlvolumen
maßgeblich war. Eine Verminderung des nach § 9 Absatz 1 HVM ermittelten
Punktzahlvolumens trat dann ein, wenn die Summe der auf der Grundlage der Umsätze
des Jahres 2002 ermittelten Punktzahlen aller Ärzte der Fachgruppe größer war als die in
Punkte umgerechnete zur Vergütung zur Verfügung stehende Honorarsumme der
Fachgruppe und damit die Fachgruppenquote kleiner 1 war.
Die Fachgruppenquote war in jedem Abrechnungsquartal verschieden und ergab sich
erst nach Abschluss des Abrechnungsquartals, so dass vor dem jeweiligen
Abrechnungsquartal dem Arzt nicht bekannt war, welche Punktmenge mit welchem
Punktwert vergütet wird. Es gab also keine vorab dem Arzt bekannten festen Punktwerte.
Mit Wirkung zum 1. Juli 2005 ist der ab dem 1. Juli 2003 geltende HVM durch einen neuen
HVM ersetzt worden. Dieser neue HVM sah auch weiterhin eine Vergütung auf der
Grundlage von Individualbudgets vor. Nach der Vorschrift des § 9 Absatz 1 HVM sollten
die abgerechneten Leistungen bis zum Erreichen der Grenze des Individualbudgets mit
einem festen Punktwert von 4,15 Cent vergütet werden. Die über die Grenzen des
Individualbudgets hinaus abgerechneten Leistungen sollten mit einem Restpunktwert
vergütet werden.
Das Individualbudget wurde nach den Regelungen des § 9 Absatz 2 HVM ermittelt. Dazu
wurden wiederum zunächst die individuellen Umsätze im Bemessungszeitraum der
Quartale I/2002 bis IV/2002 getrennt nach Primär- und Ersatzkassen ermittelt. Die
ermittelten Umsätze wurden mit dem Faktor 10/0,511292 € multipliziert. Dieses Produkt
wurde wiederum durch 4 dividiert. Daraus ergab sich das für ein Quartal geltende
Individualbudget, das lediglich mit einem Gewichtungsfaktor an die
Quartalsschwankungen angepasst wurde. Dieses Individualbudget wurde jedoch nicht
der Vergütung im Abrechnungsquartal zugrunde gelegt. Vielmehr wurde das nach § 9
Absatz 2 HVM ermittelte Individualbudget mit der Fachgruppenquote multipliziert (§ 9
Absatz 5 HVM). Erst dieses Produkt ergab die Punktzahl, die dann im konkreten
Abrechnungsquartal mit einem Punktwert von 4,15 Cent vergütet wurde.
Dieses Punktzahlvolumen war jedoch Schwankungen unterworfen, denn die
Fachgruppenquote wurde in jedem Quartal neu berechnet. So wurden die jeweils zur
Verfügung stehenden Honorarfonds zunächst um 3,9% bei den Hausärzten und 5% bei
den Fachärzten gekürzt, um mit den aus der Kürzung resultierenden Beträgen den
Restpunktwert zu finanzieren. Das verbleibende Honorar für eine Fachgruppe wurde
durch 4,15 Cent dividiert, so dass sich daraus die Punktmenge der Fachgruppe ergab,
die mit einem Punktwert von 4,15 Cent vergütet wurde. Sodann wurde dieses
Punktvolumen durch die Summe der für die Ärzte nach § 9 Absatz 2 HVM ermittelten
Punktvolumen geteilt. Dieser Quotient war die Fachgruppenquote. Der Betrag der
Fachgruppenquote war also von dem jeweils im Abrechnungsquartal zur Verfügung
stehenden Honorar der Fachgruppe abhängig.
Das tatsächlich mit einem Punktwert von 4,15 Cent vergütete Punktzahlvolumen war
somit nur dann mit dem auf der Grundlage der Umsätze des Jahres 2002 ermittelten
Punktzahlvolumen identisch, wenn die Fachgruppenquote gleich 1 war. War aber die
Fachgruppenquote kleiner 1, wurde gemäß § 9 Absatz 5 lit. a) HVM das gemäß § 9
Absatz 2 ermittelte Punktzahlvolumen durch die Multiplikation mit dem
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Absatz 2 ermittelte Punktzahlvolumen durch die Multiplikation mit dem
Fachgruppenquotienten vermindert und damit weniger Punkte mit einem Punktwert von
4,15 Cent vergütet als die Berechnung nach § 9 Absatz 2 HVM ergab. Die übrigen
Punkte wurden mit dem Restpunktwert vergütet.
Da die Fachgruppenquote dem abrechnenden Arzt erst mit seinem Honorarbescheid
bekannt wurde, wusste der Arzt bei seiner Leistungserbringung nicht, welche
Punktmenge mit dem Punktwert von 4,15 Cent und welche Punktmenge mit dem
Restpunktwert vergütet würde. Einen vorab feststehenden Punktwert gab es also auch
nach dem ab dem 1. Juli 2005 geltenden HVM nicht.
Auch in dem hier maßgeblichen Zeitraum ab dem Quartal II/2007 galt ein HVM, der die
Regelungen des ab dem 1. Juli 2005 geltenden HVM zur Vergütung auf Grundlage von
Individualbudgets fortführte. Damit ergab sich der Punktwert für den einzelnen Arzt aus
dem Honorarvolumen für die Arztgruppe dividiert durch die Summe der den Ärzten der
Gruppe zuerkannten Punktzahlen. Somit hing die Höhe des Punktwertes davon ab, wie
sich das Verhältnis zwischen dem Honorarvolumen für die Arztgruppe zu der Summe
der den Ärzten der Gruppe zuerkannten Punktzahlen verhielt: Je nachdem, ob diese von
den Ärzten abgerechnete Punktmenge größer oder kleiner war, errechnete sich ein
geringerer oder höherer Punktwert. Somit war ein sogenannter floatender Punktwert
nach Maßgabe des der Arztgruppe zugeordneten Honorarvolumens vorgegeben. Dieser
stand in Widerspruch zu der Vorgabe fester Punktwerte in der Regelung des § 85 Absatz
4 Satz 7 SGB V.
Zudem fehlten in den Honorarverteilungsregelungen der Beklagten auch
arztgruppenspezifische Festlegungen. Das Merkmal arztgruppenspezifischer Grenzwerte
im Sinne des § 85 Absatz 4 Satz 7 SGB erfordert, dass in die Regelung jedenfalls auch
ein Element arztgruppeneinheitlicher Festlegung einfließt. Hierfür reicht nicht aus, dass
jeder Arztgruppe ein gemeinschaftliches Honorarkontingent zugeordnet ist. Vielmehr
müsste die Regelung zum Beispiel jedenfalls auf arztgruppeneinheitlichen
Fallpunktzahlen aufbauen, und zwar dergestalt, dass eine arztgruppeneinheitliche
Festlegung nur bei den Fallpunktzahlen vorgegeben wird und deren Multiplikation mit den
individuellen Behandlungsfallzahlen dann zu praxisindividuellen Grenzwerten führt (vgl.
BSG, andere Angaben oben, Randnummern 15 und 17 des bei Juris veröffentlichten
Urteils). Bei der Bemessung des Individualbudgets auf der Grundlage der
Honorarverteilungsregelungen der Beklagten war die Arztgruppenzugehörigkeit des
jeweiligen Arztes jedoch unbeachtlich.
Ob die Honorarverteilungsregelungen der Beklagten dieselben Ziele wie die Regelung in
§ 85 Absatz 4 Satz 7 SGB V verfolgen, ist nicht maßgeblich. Allein eine möglicherweise
gleichwertige Zielsetzung kann nicht den Mangel ausgleichen, dass es an den nach dem
Wortlaut des § 85 Absatz 4 Satz 7 SGB V erforderlichen Regelungen – feste Punktwerte
und arztgruppenspezifische Grenzwerte – fehlt.
Die Honorarverteilungsregelungen, die die Beklagte und die Krankenkassen für den
Zeitraum ab dem II. Quartal 2007 vereinbart hatten, erfüllten jedoch die
Voraussetzungen der Übergangsregelung in Teil III Nr. 2.2. des Beschlusses des
Bewertungsausschusses vom 29. Oktober 2004. Diese Regelung ist auch – wie das BSG
in dem vorgenannten Urteil vom 17. März 2010 entschieden hat (vgl. Randnummer 20-
22 des bei Juris veröffentlichten Urteils) – von der Ermächtigung des § 85 Absatz 4a Satz
1 letzter Teilsatz in Verbindung mit Absatz 4 Satz 6 bis 8 SGB V gedeckt.
Die in dieser Übergangsregelung festgelegte Voraussetzung, dass bisherige
Steuerungsinstrumente fortgeführt werden müssen, deren Auswirkungen mit den
Vorgaben des § 85 Absatz 4 SGB V vergleichbar sind, ist erfüllt:
Die oben dargestellten Honorarverteilungsregelungen entfernen sich – chronologisch
betrachtet – nicht von den Vorgaben fester Punktwerte und arztgruppenspezifischer
Grenzwerte. Insoweit unterscheiden sie sich von dem HVM des KV-Bezirks Nord-
Württemberg, den das oben genannte Urteil des BSG zum Gegenstand hatte. Die dort
bis zum 31. März 2005 geltenden Honorarverteilungsbestimmungen enthielten keine
Regelung über einen floatenden Punktwert und waren daher dem System, das in § 85
Absatz 4 Satz 7 SGB V angelegt ist, näher als die Bestimmungen des ab dem 1. April
2005 geltenden HVM (vgl. hierzu BSG, andere Angaben oben, Randnummer 16 und 24
des bei Juris veröffentlichten Urteils). Insofern führten die ab dem 1. April 2005 im Bezirk
der KV Nord-Württemberg geltenden Bestimmungen von der Zielrichtung der
Realisierung von Regelleistungsvolumina weg und waren deshalb nicht von der
Übergangsregelung in Teil III Nr. 2.2 des Beschlusses des Bewertungsausschusses
gedeckt. Vorhandene Steuerungsinstrumente wurden nicht „fortgeführt“.
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Für die im Bezirk der Beklagten geltenden Honorarverteilungsregelungen gilt indes
Folgendes: im Unterschied zu dem bis zum 30. Juni 2005 gültigen HVM sieht der ab dem
1. Juli 2005 gültige HVM zwar keinen festen Punktwert, wohl aber bereits einen
Zielpunktwert in Höhe von 4,15 Cent vor (§ 9 Absatz 1 HVM). Dieser Zielpunktwert wurde
– wie aus der von der Beklagten mit Schriftsatz vom 13. September 2010 zu den Akten
gereichten Aufstellung hervorgeht – relativ stabil erreicht und in einigen Quartalen sogar
übertroffen. Annäherungsweise konnte somit Kalkulationssicherheit für die Ärzte bei der
Verteilung des Honorars geschaffen werden, so dass die Einhaltung der gemäß § 85
Absatz 4 SGB V geforderten Steuerungswirkung im Wesentlichen – noch - möglich war.
Zum anderen wurden die Leistungen, die über das maximal abrechenbare
Punktzahlvolumen abgerechnet worden sind, gemäß § 9 Absätze 1, 3 und 6 HVM zu
einem abgestaffelten Punktwert – Restpunktwert – vergütet. Auch insoweit werden
Vorgaben des § 85 Absatz 4 SGB V – und zwar diejenige aus Satz 8 der genannten
Vorschrift – bereits teilweise umgesetzt.
Auch ab dem III. Quartal 2007 galten die gleichen Vergütungsmodalitäten wie ab dem III.
Quartal 2005, das heißt insbesondere Vergütung der abgerechneten Leistungen mit
einem zwar nicht festen Punktwert, wohl aber mit einem Zielpunktwert hinsichtlich der
innerhalb des Individualbudgets abgerechneten Leistungen und mit einem
Restpunktwert hinsichtlich der das Individualbudget überschreitenden Leistungsmenge.
Vor diesem Hintergrund führten die von der Beklagten in den maßgeblichen
Honorarverteilungsregelungen vorgenommenen Änderungen von den Vorgaben des in §
85 Absatz 4 Satz 6 bis 8 genannten Zielsetzungen nicht weg, sondern stellten eine
schrittweise - und nach Auffassung der Kammer gerade noch ausreichende -
Annäherung an diese Vorgaben dar. Bei der Auslegung der Ermächtigung des § 85
Absatz 4a Satz 1 letzter Teilsatz SGB V ist auch zu berücksichtigen, dass es unter dem
Gesichtspunkt des Interesses der Ärzte an einer Kontinuität des Honorierungsumfangs
und aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität problematisch gewesen wäre, eine
sofortige volle Übereinstimmung mit den Vorgaben des § 85 SGB V erreichen zu wollen.
Vielmehr ist es – wie auch das BSG in dem vorgenannten Urteil vom 17. März 2010
vertritt (vgl. Randnummer 21 des bei Juris veröffentlichten Urteils) – bei solchen
Anpassungen sachgerecht, eine nur allmähliche Anpassung genügen zu lassen und
übergangsweise Abweichungen zu tolerieren. Dass dies auch im Interesse der
Vertragsärzte war, zeigt sich, wenn man bedenkt, dass – um sofort einen festen
Punktwert garantieren zu können – die Höhe der Individualbudgets hätte signifikant
abgesenkt werden müssen. Konsequenz wäre eine geringere Vergütung gewesen, als
dies mit der Festlegung von Zielpunktwerten der Fall war.
Nicht hinnehmbar wäre es indes gewesen, dass sich eine Honorarverteilungsregelung
gegenüber der bisherigen – sei es auch nur vorübergehend – weiter von den Vorgaben
des § 85 Absatz 4 Satz 6 bis 8 SGB V entfernt. Dies ist hier – wie oben dargelegt – nicht
der Fall gewesen.
Ist das Regelungskonzept der Individualbudgets in der Ausprägung, wie es die hier
maßgeblichen Honorarverteilungsmaßstäbe der Beklagten vorgesehen haben, in dem
Zeitraum vom II. Quartal 2007 bis zum IV. Quartal 2008 gemessen an den Vorgaben des
§ 85 Absatz 4 Sätze 7 und 8 SGB V in Verbindung mit der Übergangsregelung in Teil III
Nr. 2.2. des Beschlusses des Bewertungsausschusses vom 29. Oktober 2004 als – noch
– rechtmäßig anzusehen, so kann der Kläger aus diesem grundsätzlich auch einen
Anspruch auf Neufestsetzung seines Individualbudgets herleiten.
Die Honorarverteilungsmaßstäbe verstoßen – soweit mit ihnen Individualbudgets
festgesetzt wurden - auch nicht gegen höherrangiges Recht. Sie sind als
Berufsausübungsregelung an Art. 12 Grundgesetz (GG) zu messen und müssen im
Hinblick auf das verfolgte Ziel insbesondere verhältnismäßig sein. Danach ist die
Einführung von Individualbudgets grundsätzlich nicht zu beanstanden (BSG, Urteil vom
10. Dezember 2003, B 6 KA 54/02 R). Es ist im Hinblick auf das Ziel der
Punktwertstabilisierung, der Vermeidung der Punktmengenausweitung (sogenannter
„Hamsterradeffekt“) und damit der finanziellen Stabilität des Systems der gesetzlichen
Krankenversicherung von dem einzelnen Vertragsarzt hinzunehmen, dass ihm
Leistungsmengenausweitungen grundsätzlich verwehrt werden. Individualbudgets und
Fallzahlzuwachsbegrenzungen verhindern wirkungsvoll die Ausweitung einer Praxis in
einen Bereich, in dem eine sachgerechte und qualitativ hochwertige Versorgung der
Patienten allein wegen deren großer Zahl nicht mehr gewährleistet ist. Auch die
Honorarverteilungsgerechtigkeit bleibt hierdurch gewahrt (BSG, Urteil vom 10.
Dezember 2003, B 6 KA 54/02 R).
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Bei diesem Eingriff darf der Vertragsarzt jedoch nicht pauschal auf bestimmte, in der
Vergangenheit erzielte oder für die Zukunft zu erwartende Umsätze beschränkt werden.
Grundsätzlich rechtfertigt sich die Einführung von Individualbudgets zwar darin, dass der
in der Vergangenheit erreichte Praxisumsatz bei typisierender Betrachtung ein
maßgebendes Indiz für den Umfang ist, auf den der Vertragsarzt seine vertragsärztliche
Tätigkeit ausgerichtet hat. Dennoch muss für besondere Fallkonstellationen die
Möglichkeit bestehen, ausnahmsweise eine Neufestsetzung des einmal gewährten
Individualbudgets zu erreichen.
Gründe für eine Neufestsetzung können die in § 9 Absatz 12 HVM (in der Fassung vom
8. Juni 2007 bzw. die gleichlautenden Vorschriften der Honorarverteilungsmaßstäbe vom
23. Januar 2008 und vom 10. April 2006) enumerativ genannten Tatbestände sein.
Danach kann ein Leistungserbringer in begründeten Fällen beim Vorstand der Beklagten
eine Neufestsetzung seines Individualbudgets beantragen, insbesondere
Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift liegen hier vor. Es ist ein Fall der
Patientenübernahme wegen Praxisumzügen im Umfeld des Antragstellers gegeben (§ 9
Absatz 12, 2. Spiegelstrich HVM in der Fassung vom 8. Juni 2007 bzw. die
gleichlautenden Vorschriften der Honorarverteilungsmaßstäbe vom 23. Januar 2008 und
vom 10. April 2006, im Folgenden nur: HVM).
Der Kläger betrieb mit Frau Dr. K… bis zum Ende des Quartals I/2007 eine
Praxisgemeinschaft, das heißt, beide Praxen teilten Räumlichkeiten am selben Ort.
Bereits dieser Umstand legt es nahe, dass sich nach dem Wegzug der Praxis Dr. K… an
einen rund 5 km entfernten Standort eine Vielzahl von Patienten der Praxis Dr. K… in die
Behandlung des Klägers an dem vertrauten Standort begeben würden.
Durch die vorgelegten Patientenlisten in Verbindung mit den dauerhaft gestiegenen
Fallzahlen hat der Kläger auch nachgewiesen, dass er Patienten aus der verzogenen
Praxis von Frau Dr. K… übernommen hat. Der Kläger hat nachvollziehbar vorgetragen,
im Quartal II/2007 115 ehemalige Patienten von Frau Dr. K.. in seine Behandlung
übernommen zu haben. In den folgenden Quartalen wuchs die Anzahl übernommener
Patienten – in chronologischer Reihenfolge für die Quartale III/2007, IV/2007 und I/2008 –
nach seinen plausiblen Angaben auf 167, 210 und 215 an. Während sich die
durchschnittliche Fallzahl des Klägers im Jahr 2006 noch auf 624 Behandlungsfälle pro
Quartal belief und damit in etwa derjenigen des für die Berechnung des
Individualbudgets maßgeblichen Jahres 2002 entsprach, stieg diese im Quartal II/2007
sprunghaft auf 730 Behandlungsfälle an, um in den folgenden Quartalen Werte von 725,
805 bzw. 775 Behandlungsfällen zu erreichen. Für den Jahreszeitraum II/2007 bis I/2008
lag somit eine durchschnittliche Behandlungsfallzahl von 759 vor, was gegenüber dem
Jahr 2006 einen Anstieg pro Quartal um durchschnittlich 21,6% bedeutet.
Die Übernahme der Patienten erfolgte auch dauerhaft. Dies ist durch den über das Jahr
2007 hinaus andauernden Fallzahlanstieg belegt. Ein bloß morbiditätsbedingter Anstieg
in den Behandlungsfallzahlen kann bei dieser, einen Zeitraum von mindestens vier
Quartalen umfassenden Sichtweise, so gut wie ausgeschlossen werden.
Dieses Bild wird eindrucksvoll und überzeugend durch die von dem Kläger am 2. Februar
2010 vorgelegten Erklärungen von 199 Patienten gestützt, die bestätigt haben, bis zum
Anfang des Jahres 2007 Patienten von Frau Dr. K… gewesen zu sein und sich dann ab
dem Folgequartal in die Behandlung des Klägers begeben zu haben. Zu weiteren 16
Patienten trug der Kläger vor, dass diese auf seine Bitte um eine schriftliche Bestätigung
nicht reagiert hätten. Weitere 30 namentlich genannte Patienten konnten durch den
Kläger aus unterschiedlichen Gründen nicht erreicht werden.
Unter dem 25. Februar 2010 reichte der Kläger Erklärungen von drei weiteren Patienten
ein, die bestätigten, sich infolge des Wegzugs der Praxis Dr. K… aus ihrer Behandlung in
seine – des Klägers - Behandlung begeben zu haben. Addiert man diese drei
Erklärungen zu den 199 Erklärungen hinzu, ergibt sich eine Anzahl von 202 Patienten,
die nach den plausiblen Angaben des Klägers aus der Praxis Dr. K… tatsächlich in seine
Behandlung übernommen wurden.
Die Beklagte selbst stellt diesen Fallzahlzuwachs nicht grundsätzlich in Abrede, wenn
nach ihren eigenen Angaben auch geringfügig niedrigere Behandlungsfallzahlen in den
einzelnen, hier streitgegenständlichen Quartalen gegeben waren.
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Das gleiche Bild ergibt sich, wenn man die Leistungssteigerung in Punkten betrachtet: Im
Bemessungszeitraum des Jahres 2002 forderte der Kläger insgesamt 2.649.325 Punkte
an, in den Quartalen II/2007 bis I/2008 hingegen 3.749.720. Auch wenn man die
Punktmengen im Jahr 2006 mit den vier auf die Patientenübernahme folgenden
Quartalen II/2007 bis I/2008 vergleicht, zeigt sich deutlich ein mit dem Anstieg der
Behandlungsfallzahlen korrelierendes Bild:
Punktmengen:
Die von dem Kläger zur Substantiierung des vorgetragenen Fallzahlanstiegs vorgelegten
Unterschriftenlisten lassen ihrem Inhalt nach auch erkennen, dass sich die dort
genannten Patienten gerade aufgrund der Verlegung der Praxis von Frau Dr. K.. und in
zeitlich engem Zusammenhang hierzu in seine Behandlung begeben haben. Eine
Übernahme an die Praxisverlegung der Frau Dr. K… und eine
zwischen der Verlegung des Praxissitzes und einer Übernahme der Patienten durch den
Kläger wird hinreichend deutlich. Es erscheint vor diesem Hintergrund ausgeschlossen,
dass die Praxis des Klägers etwa nur durch die Qualität und Attraktivität der Behandlung
oder auch durch eine bessere Organisation neue Patienten für sich gewonnen hat, so
dass vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil
vom 10. Dezember 2003, - B 6 KA 54/02 R - BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr. 5) eine
Erhöhung des Individualbudgets nur nach den Grundsätzen des Wachstums für
Altpraxen zum Fachgruppendurchschnitt in Betracht kommen würde.
Dass die Fall- und Punktzahlerhöhung mit dem Praxisumzug der Frau Dr. K… in engem
Zusammenhang steht bzw. ursächlich auf diesen zurückzuführen ist, ergibt sich
hinreichend deutlich aus den von dem Kläger vorgelegten Patientenlisten, in denen
ehemalige Patienten der Praxis Dr. K… durch ihre jeweiligen Unterschriften bestätigen,
sich in die Behandlung des Klägers begeben zu haben.
Ein weitergehender Nachweis des Praxiswechsels ist nicht notwendig und wäre aus Sicht
der Kammer für den Kläger auch kaum bzw. gar nicht zu führen. Die von der Beklagten
aufgestellten Anforderungen an den Nachweis der Patientenübernahme sind überhöht.
Insbesondere die geforderte Übernahmevereinbarung mit der die Patienten abgebenden
Praxis wird kaum zu erbringen sein. Denn wegen der Gefahr der Budget-Kürzung für die
abgebende Praxis ist es realitätsfern anzunehmen, dass es je zu einer solchen
Vereinbarung kommen würde (vgl. hierzu auch das Urteil der Kammer vom 22. Juni 2009
– Az. S 71 KA 382/07 - sowie dasjenige vom 16. September 2009 – Az. S 71 KA 152/06).
Im Übrigen kann jeder Patient seinen Arzt grundsätzlich frei wählen und wäre an eine
Patientenübernahme-Vereinbarung nicht gebunden.
Auch das Interesse der Beklagten an einer stichhaltigen Tatsachengrundlage, um der
abgebenden Praxis das Leistungsvolumen entziehen zu können, kann nicht dazu führen,
dass der Nachweis der Übernahme praktisch unmöglich gemacht wird. Für das Vorliegen
einer Übernahmevereinbarung besteht insoweit auch kein Bedarf. Denn der Beklagten
ist es auf Grundlage einer Patientenliste möglich, anhand der Abrechnungsdaten von
abgebender und übernehmender Praxis die Patientenwanderung nachzuvollziehen und
einen ausreichenden Nachweis zu erbringen, der gegebenenfalls die Kürzung des
Individualbudgets der abgebenden Praxis ermöglicht.
Schließlich spricht - ohne dass es neben den vorgelegten Patientenlisten noch
entscheidend darauf ankäme – auch der Umstand deutlich für eine
Patientenübernahme, dass der Kläger im Besitz entsprechender Patientenunterlagen
war, die ihm von Frau Dr. K… überlassen worden waren. Dies bestätigte auch die Zeugin
Frau Dr. K… bei ihrer Vernehmung in der mündlichen Verhandlung. Sie sagte aus, dass
sich ihre Patientenunterlagen noch bis Ende Februar 2008 – und damit fast ein Jahr seit
Auflösung der Praxisgemeinschaft - in den Räumlichkeiten der (ehemaligen)
Praxisgemeinschaft befanden und dass der Kläger für den Fall der Behandlung
ehemaliger Patienten aus ihrer Praxis Zugriff auf diese hatte, den sie auch ausdrücklich
billigte. Erst Ende Februar 2008 seien die Behandlungsunterlagen in ihre Privaträume
verbracht und seien von dem Beigeladenen dort im Oktober 2008 abgeholt worden. Der
Beigeladene muss sich vor diesem Hintergrund fragen lassen, weshalb er – so denn der
Großteil der Patienten der ehemaligen Praxis Dr. K.. von ihm weiterbehandelt worden
sein sollten – die Behandlungsunterlagen der Patienten über einen Zeitraum von rund
anderthalb Jahren hinweg offenbar nicht benötigte. Die Antwort auf diese Frage kann
nach Auffassung der Kammer nur sein, dass die Patientenunterlagen für den
Beigeladenen entbehrlich waren, da sich der ganz überwiegende Anteil der früheren
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Beigeladenen entbehrlich waren, da sich der ganz überwiegende Anteil der früheren
Patienten der Praxis Dr. K… eben gerade nicht bei ihm zum Zwecke der
Weiterbehandlung eingefunden hatten.
Der Vortrag der Zeugin Frau Dr. K.., dass die bei dem Beigeladenen angestellte Ärztin
Frau Dr. T… etwa 20 bis 30 Hausbesuchspatienten sowie einige weitere Patienten aus
ihrer Praxis weiterbehandelt hat, widerspricht dem zuvor Gesagten nicht. Es wird auch
durch den Kläger selbst keineswegs behauptet – und wäre vor dem Hintergrund der
freien Arztwahl auch lebensfern -, dass er ausnahmslos alle Patienten der Praxis Dr. K…
weiterbehandelt hat. Dass er jedoch einen ganz maßgeblichen Anteil des früheren
Patientenstammes der Praxis Dr. K… übernommen hat, lässt sich durch den Umstand
einer Weiterbehandlung einzelner Patienten durch Frau Dr. T… nicht in Abrede stellen.
Diesen Feststellungen stehen auch die Angaben der bei dem Beigeladenen anstelle von
Frau Dr. K… angestellten Frau Dr. T… nicht entgegen. Diese gab in ihrem an die
Beklagte gerichteten Schreiben vom 10. September 2008 an, dass „allen Patienten (der
Praxis Dr. K..) die Möglichkeit gegeben wurde und alle Patienten ausdrücklich
hingewiesen wurden, den Praxiswechsel mit zu vollziehen“. Übereinstimmend hiermit
erklärte Frau Dr. K… in ihrem an die Beklagte gerichteten Schreiben vom gleichen Tage,
dass „alle meine Patienten die Möglichkeit (gehabt haben), mir in die neuen
Praxisräume zu folgen“. Hierauf seien sie durch direkte Ansprache und durch schriftliche
Information aufmerksam gemacht worden. Weder durch Frau Dr. T…, noch durch Frau
Dr. K… wird somit behauptet, dass ein Großteil der Patienten – geschweige denn alle
Patienten – in die Praxis des Beigeladenen gefolgt wären.
Im Übrigen ist seitens des Beigeladenen keine Reaktion auf die gerichtliche Aufforderung
mit Schreiben vom 12. Oktober 2009 erfolgt, substantiiert dazu vorzutragen, ob und ggf.
welche Patienten nach dem Ausscheiden von Frau Dr. K… aus der Praxisgemeinschaft
mit dem Kläger dort weiter behandelt worden sein sollen. Der Beigeladene wurde von
Seiten des Gerichts darauf hingewiesen, dass der Kläger mit Nichtwissen bestreitet, er -
der Beigeladene – sei im Besitz umfangreicher, nicht digitalisierter Patientenakten von
Frau Dr. K…. Dem Beigeladenen wurde vor diesem Hintergrund Gelegenheit gegeben,
die von dem Kläger vorgelegten Patientenlisten mit den Namen der dort behandelten
Patienten abzugleichen und das Ergebnis dieses Abgleichs dem Gericht mitzuteilen. Eine
Reaktion des Beigeladenen darauf erfolgte nicht und der Beigeladene erschien auch
nicht in der mündlichen Verhandlung. Für die Kammer ergeben sich vor diesem
Hintergrund keine Anhaltspunkte dafür, dass der Vortrag des Klägers zur tatsächlichen
Übernahme eines Großteils der Patienten von Frau Dr. K… unzutreffend sein könnte.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es entscheidend auf diese
Übernahme der Patienten der Frau Dr. K… durch den Kläger an, nicht jedoch darauf, ob
ein Wechsel der Patienten in die neue Praxis des Beigeladenen angeregt, gewünscht
oder zwischen zwei Vertragsärzten vereinbart worden wäre. Eine rein privatrechtliche
Vereinbarung zwischen Vertragsärzten ist grundsätzlich ohne Einfluss auf die öffentlich-
rechtlichen Positionen des Vertragsarztrechts. So hat das BSG ausdrücklich für den Fall
der Gemeinschaftspraxis entschieden, dass die zulassungsrechtlichen Belange
unabhängig von den hinter der Gemeinschaftspraxis stehenden gesellschaftsrechtlichen
Gestaltungen sind (BSG, Urteil vom 19. August 1992 – B 6 RKa 36/90). Diese
Entscheidung beinhaltet nach Auffassung der Kammer den Grundsatz, dass
vertragsarztrechtliche Fragen, zu denen auch die Zuweisung von Individualbudgets zählt,
auf der Grundlage des Vertragsarztrechts und nicht des Zivilrechts zu entscheiden sind.
Entscheidend sind somit nicht privatrechtliche Vereinbarungen bezüglich einer
Übernahme von Patienten, sondern vielmehr die Umstände.
Dem Kläger kann durch die Beklagte auch keine reine Leistungsmengenausweitung
entgegengehalten werden. Gemäß § 95 Absatz 3 Satz 1 SGB V bewirkt die Zulassung,
dass der Vertragsarzt zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung nicht nur
berechtigt, sondern auch verpflichtet ist. Die Behandlung eines gesetzlich
Krankenversicherten kann nach der für den Vertragsarzt verbindlichen Vorschrift des §
13 Absatz 7 BMV-Ä nur in den Fällen abgelehnt werden, in denen ein Versicherter, der
das 18. Lebensjahr vollendet hat, vor der Behandlung seine elektronische
Gesundheitskarte nicht vorlegt oder die in den gemäß § 28 Absatz 4 SGB V in
Verbindung mit § 18 Absatz 1 BMV-Ä vorgesehenen Fällen notwendige Zuzahlung nicht
leistet. Gemäß § 13 Absatz 7 Satz 2 BMV-Ä darf ein Vertragsarzt die Behandlung eines
Versicherten im Übrigen nur in begründeten Fällen ablehnen. Das BSG hat hierzu in
seinem Urteil vom 14. März 2001 – Az. B 6 KA 36/00 R – ausgeführt, dass sich Gründe
für eine solche Ablehnung jedenfalls nicht aus finanziellen Gesichtspunkten ergeben
können. Vor diesem Hintergrund ist es unzutreffend, wenn die Beklagte dem Kläger
pauschal eine fehlende rechtliche Verpflichtung, die Patienten von Frau Dr. K… zu
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pauschal eine fehlende rechtliche Verpflichtung, die Patienten von Frau Dr. K… zu
versorgen, entgegenhält.
Soweit die Beklagte darauf verweist, dass es keine Praxisschließung ohne
Praxisnachfolge gegeben habe, weil Frau Dr. K… ab dem II. Quartal 2007 ihre Praxis an
einem anderen Standort eingebracht habe – demjenigen des Beigeladenen – so kann
dies allenfalls zur Verneinung der Voraussetzungen der Fallgruppe des § 9 Absatz 12, 1.
Spiegelstrich HVM führen. Die Argumentation trifft aber erkennbar nicht auf die hier zur
Beurteilung stehende Fallgruppe der Praxisumzüge zu, der immanent ist, dass die Praxis
weiterhin betrieben wird, nur eben an einem anderen, von dem bisherigen Praxissitz
entfernten Standort – hier im Berliner Stadtteil O…. Im Rahmen dieser Fallgruppe kann
es auch nicht darauf ankommen, ob und in welchem Maße in der Fachgruppe eine
Überversorgung in Berlin oder im betroffenen Verwaltungsbezirk besteht. Anderenfalls
wäre für die Fallgruppe der Praxisumzüge von vornherein kaum ein Anwendungsfall
denkbar, weil sich zumindest die Versorgungssituation im gesamten Zulassungsbereich
Berlin im Falle eines Praxisumzugs nie ändert. Aber auch auf die Versorgungslage im
Verwaltungsbezirk bzw. im Umfeld des beantragenden Arztes kann es nicht ankommen.
Denn die Regelung stellt eine individuelle Härtefallregelung dar, die es ermöglichen soll,
vom Vertragsarzt nicht verursachte bzw. nicht steuerbare
Leistungsmengenausweitungen angemessen auszugleichen, wozu Änderungen in der
Versorgungsstruktur einer Region (vgl. BSGE 83, 52, 61; BSG, Urteil vom 28. Januar 2009
– B 6 KA 5/08 R -, zitiert nach Juris Randnummern 42 und 43) oder im Umfeld der Praxis
(vgl. BSGE 92,10, Randnummer 33) gehören können. Es ist mithin auf die individuelle
Versorgungssituation der Praxis und nicht auf die allgemeine Versorgungslage
abzustellen.
Die nähere Ausgestaltung der Anhebung des Individualbudgets liegt im Ermessen der
Beklagten. Bei der Neuentscheidung kann die Beklagte den Umfang der übernommenen
Patienten im Verhältnis zur Fallzahl im Bemessungszeitraum und den mit dieser
Übernahme verbundenen Punktzuwachs berücksichtigen. Denkbar ist aber auch, einen
auf die gewechselten Patienten entfallenden fiktiven Anteil am Individualbudget der
abgebenden Praxis zu berechnen und diesen auf die übernehmende Praxis zu
übertragen. Sofern die Beklagte dem Vortrag des Klägers zur Anzahl der
übernommenen Patienten anhand der Patientenliste nicht im Wesentlichen folgen will –
danach ist eine Übernahme von jedenfalls 202 Patienten durch entsprechende
Erklärungen bestätigt – wird sie genauere Zahlen anhand der ihr vorliegenden
Abrechnungsdaten ermitteln müssen.
Sie kann die dem Kläger bereits gewährte Individualbudget-Anhebung gegebenenfalls
angemessen berücksichtigen, darf aber nicht außer Acht lassen, dass dem Kläger über
die Patientenübernahme hinaus unter dem Gesichtspunkt des Wachstums von Altpraxen
(Zulassung von mehr als 20 Quartalen im Bereich der KV Berlin) gemäß § 9 Absatz 8b
HVM ein Anspruch auf Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt zusteht, und zwar
jährlich in Höhe von 10% bezogen auf den Fachgruppendurchschnitt.
Bei der Neufestsetzung des Individualbudgets kommt es nicht auf die in dem
Widerspruchsbescheid der Beklagten in Bezug genommenen Bearbeitungsrichtlinien an.
Diesen Richtlinien zufolge kann eine Neufestsetzung des Individualbudgets nur dann
erfolgen, wenn die vertragsärztliche Praxis den angeforderten Leistungsbedarf in
Punkten bzw. die Fallzahl in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Quartalen um
mindestens 10% gegenüber dem Bemessungszeitraum gesteigert hat und gleichzeitig
mit dieser Leistungssteigerung um 10% oberhalb des Wachstums der Fachgruppe liegt.
Nach den eigenen Angaben der Beklagten finden diese Richtlinien jedoch nur dann
Anwendung, wenn es um einen Anspruch auf Neufestsetzung des Individualbudgets
aufgrund der Übernahme von Patienten aus geschlossenen Arztpraxen ohne
Praxisnachfolge geht. Diese Fallgruppe ist jedoch bereits – wie oben ausgeführt – hier
nicht einschlägig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung
mit § 154 Absatz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die außergerichtlichen Kosten
des Beigeladenen sind nach § 197a SGG, § 162 Absatz 3 VwGO nur erstattungsfähig,
wenn das Gericht sie aus Billigkeit dem unterliegenden Beteiligten oder der Staatskasse
auferlegt. Der Beigeladene hat sich im Verfahren nicht zum Sach- und Streitstand
geäußert und mangels Antragstellung auch kein eigenes Kostenrisiko übernommen (vgl.
§ 154 Absatz 3 VwGO), so dass kein Grund ersichtlich ist, seine Kosten den
Hauptbeteiligten aufzuerlegen.
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