Urteil des SozG Berlin vom 27.08.2008

SozG Berlin: innere medizin, verjährungsfrist, rechtsgrundlage, verordnung, rka, ausschluss, unterbrechung, rechtssicherheit, vertragsarzt, behandlung

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Gericht:
SG Berlin 83.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 83 KA 652/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Leitsatz
Parallelentscheidung zu dem Urteil des 83. Kammer vom 27.08.2008 -S 83 KA 653/07, dass
vollständig dokumentiert worden ist.
Tenor
Der Beschluss des Beklagten vom 10. April 2007 (schriftlicher Bescheid vom 11. Juli
2007) bezüglich der Feststellung eines sonstigen Schadens auf Antrag der Barmer EK
wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen.
Tatbestand
Streitig ist ein Regress wegen verschiedener einzelner Arzneimittelverordnungen, der
anlässlich der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2000 festgesetzt wurde.
Die Klägerin ist eine Gemeinschaftspraxis, die von den beiden Gesellschafterinnen Dr. E
E und Dr. D. B. Beide Gesellschafterinnen sind Fachärztinnen für Innere Medizin, der
Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt im Bereich der Dialyse, der Behandlung und Betreuung
transplantierter Patienten und der Behandlung von Bluthochdruckerkrankungen.
Mit Schreiben vom 5. November 2002 teilte die Geschäftsstelle der Prüfgremien bei der
Kassenärztlichen Vereinigung Berlin der Klägerin mit, dass ihre Verordnungsweise für
das Jahr 2000 nach Richtgrößen von Amts wegen überprüft werde. Mit Stellungnahme
vom 12. Januar 2003 teilte die Klägerin ihre Praxisbesonderheiten mit. Mit Schreiben
vom 21. Februar 2005, eingegangen beim Prüfungsausschuss am 24. Februar 2005,
beantragte die Beigeladene zu 2) die Feststellung eines sonstigen Schadens wegen der
Verordnungen verschiedener Präparate aus den Quartalen I bis IV/2000 in Höhe von
insgesamt 2.231,37 DM (= 1.140,88 €). Mit Schreiben vom 28. Juni 2005 teilte der
Prüfungsausschuss der Klägerin mit, dass die Richtgrößenprüfung wegen Anträgen auf
Feststellung sonstiger Schäden ausgesetzt worden sei. Zugleich übersandte der
Prüfungsausschuss der Klägerin unter anderem den Antrag der Beigeladenen zu 2). Mit
Schreiben vom 7. August 2005 gab die Klägerin eine medizinische Stellungnahme zu
den beanstandeten Verordnungen ab. Mit Beschluss vom 14. Dezember 2005
(schriftliche Ausfertigung vom 22. Dezember 2005) setzte der Prüfungsausschuss eine
Ersatzverpflichtung in Höhe von 1.691,51 DM (= 864,86 €) fest. Am 5. Januar 2006 legte
die Klägerin hiergegen Widerspruch ein.
Mit Beschluss vom 10. April 2007 (schriftliche Fassung vom 11. Juli 2007) bestätigte der
Beklagte den Regress und wies den Widerspruch der Klägerin zurück. Die einzelnen
beanstandeten Arzneimittelverordnungen hätten nicht zu Lasten der Beigeladenen zu 2)
vorgenommen werden dürfen.
Hiergegen richtet sich die am 13. August 2007 erhobene Klage, zu deren Begründung
die Klägerin im Wesentlichen vorträgt: Die Entscheidung des Prüfungsausschusses sei
verspätet. Es werde die Einrede der Verjährung erhoben. Im Übrigen werde insbesondere
auf die Stellungnahme aus dem Verwaltungsverfahren vom 7. August 2005 verwiesen.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Beklagten vom 10. April 2007 (schriftlicher Bescheid vom 11. Juli
2007) bezüglich der Feststellung eines sonstigen Schadens auf Antrag der Beigeladenen
zu 2) aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.
Die Klage hat sich zunächst gegen weitere Regressbeschlüsse des Beklagten vom 10.
April 2007 gerichtet. Mit Beschluss vom 5. November 2007 hat die Kammer das
vorliegende Verfahren zur gesonderten Entscheidung von den anderen Verfahren
abgetrennt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte
und die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorlag und Gegenstand der mündlichen
Verhandlung und der Entscheidungsfindung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid des Beklagten, der
nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. z. B. BSG, SozR 3 – 2500 § 106 Nr. 22;
Leitherer in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 95, Rn. 2b) alleiniger Gegenstand
der Klage wird, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die Regressforderung ist § 14 Abs. 1 der „Vereinbarung zwischen
der KV Berlin und den Verbänden der Krankenkassen über das Verfahren zur
Überwachung und Prüfung der Wirtschaftlichkeit durch die Prüfungs- und
Beschwerdeausschüsse bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (§ 106 SGB V)“ vom
10. Januar 1994 (im Folgenden: PrüfV 1994). § 24 der Prüfvereinbarung vom 20. Juni
2003 (PrüfV 2003) ist auf den vorliegenden Sachverhalt des Jahres 2000 nicht
anwendbar. Die rückwirkende Anwendung der erst im August 2003 im KV-Blatt
veröffentlichten Prüfvereinbarung 2003 verstößt gegen das Rückwirkungsverbot.
Rechtsgrundlage für die Vereinbarung des Prüfverfahrens zur Feststellung eines
sonstigen Schadens nach § 24 PrüfV 2003 ist § 106 Abs. 2 S. 4 SGB V in der Fassung
des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000. Danach können die Landesverbände der
Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den
Kassenärztlichen Vereinigungen über die in Satz 1 vorgesehenen Prüfungen hinaus
andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Die Vereinbarung liegt folglich im
Ermessen der Vertragspartner. Somit treffen sie nicht nur Verfahrensregelungen zur
Ausgestaltung über den Ablauf einer gesetzlich geforderten Prüfung, sondern schaffen
erst eine Rechtsgrundlage für die Wirtschaftlichkeitsprüfung im Einzelfall und die
Festsetzung entsprechender Regresse. Die damit verbundenen materiell-rechtlichen
Wirkungen können nur in Ausnahmefällen auf abgeschlossene, in der Vergangenheit
liegende Sachverhalte erstreckt werden. Hierfür besteht vorliegend jedoch kein Bedarf,
weil zum Verordnungszeitpunkt im Jahr 2000 mit § 14 PrüfV 1994 eine Rechtsgrundlage
zur Durchführung der streitgegenständlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung bestand.
Nach § 14 Abs. 1 S. 1 PrüfV 1994 entscheidet der Prüfungsausschuss auf Antrag einer
Krankenkasse im Einzelfall über einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn der
Vertragsarzt oder eine der Personen, für die er haftet, bei der Erfüllung der
vertragsärztlichen Pflichten die nach den Umständen erforderliche Sorgfalt außer acht
gelassen hat.
Die dem Bescheid des Beklagten zugrunde liegende Entscheidung des
Prüfungsausschusses vom 14. Dezember 2005 hätte jedoch nicht mehr ergehen dürfen.
Zu diesem Zeitpunkt war die Festsetzung der Regresse wegen der Unzulässigkeit der
Verordnungen einzelner Präparate zu Lasten der Beigeladenen zu 2) verfristet und
wegen Zeitablaufs unzulässig.
Dabei kann offen bleiben, ob für die Feststellung eines sonstigen Schadens auf
Grundlage der Wirtschaftlichkeitsprüfung gem. § 106 SGB V ebenso wie für die anderen
Prüfverfahren eine Ausschlussfrist von vier Jahren, innerhalb derer das Prüfverfahren
abzuschließen ist, läuft (BSG, Urteil v. 16. Juni 1993, -14a/6 RKa 37/91-, BSGE 72, 271,
277), oder ob die zugrunde liegende Regressforderung der Beigeladenen zu 2) der
Verjährung innerhalb von vier Jahren unterliegt (BSG, Urteil vom 28. August 1996, -6 RKa
88/95-). Beide Ansätze führen zum gleichen Ergebnis.
Für die Annahme einer Ausschlussfrist für die Ausübung des Prüfungsrechts nach dem
Urteil des BSG vom 16. Juni 1993, a.a.O., spricht insbesondere, dass der vorliegende
Regress der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V unterfällt (BSG, Urteil vom 14.
März 2001, -B 6 KA 19/00 R-, zit. n. juris). Die Ausschlussfrist für die Festsetzung eines
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März 2001, -B 6 KA 19/00 R-, zit. n. juris). Die Ausschlussfrist für die Festsetzung eines
Regresses wegen einzelner Verordnungen beginnt entweder mit dem Datum der
jeweiligen Verordnung oder mit Ablauf des Quartals, in dem die Verordnung ausgestellt
wurde (Hartmannsgruber, „Die Ausschlussfrist im Vertragsarztrecht – Eine
Bestandsaufnahme“, ZMGR 2008, 124, 128), oder aber mit Beginn des auf die
Verordnung folgenden Jahres.Für die Annahme des Beginns der Ausschlussfrist am
Beginn des auf das Jahr der Verordnung folgenden Jahres spricht insbesondere die
einfache Bestimmung des Zeitpunkts und der damit einhergehende Gewinn an
Rechtssicherheit. Ebenso läuft in diesen Fällen die Ausschlussfrist parallel zur
Ausschlussfrist der Prüfung der Verordnungsweise nach Richtgrößen (vgl. Urteile der
Kammer vom heutigen Tage, u.a. -S 83 KA 74/07-, -S 83 KA 314/07-, -S 83 KA 384/07-
und -S 83 KA 433/07-). Auch die gesetzgeberische Wertung, wie sie in § 106 Abs. 2 S. 6
SGB V i.d.F. des GKV-WSG zum Ausdruck kommt, wonach die Regressfestsetzung
innerhalb einer (nunmehr zweijährigen) Frist nach Ende des geprüften Zeitraums
(regelmäßig ein volles Jahr) erfolgen muss, stützt diese Lösung. Schließlich wird eine
Parallele zu § 45 Abs. 1 SGB I hergestellt, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen nach
Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind, zu verjähren beginnen.
Spätester Zeitpunkt für den Beginn der Ausschlussfrist ist für die vorliegend
beanstandeten Verordnungen des Jahres 2000 also der 1. Januar 2001, das Ende der
Ausschlussfrist ist der 31. Dezember 2004. Die Entscheidung des Prüfungsausschusses
vom 14. Dezember 2005 ist danach verfristet.
Kein anderes Ergebnis ergibt sich, wenn man davon ausgeht, dass die dem Regress zu
Grunde liegenden Ersatzansprüche der Beigeladenen zu 2) der Verjährung unterliegen
(so für einen sonstigen Schaden wegen einer fehlgeschlagenen kieferorthopädischen
Behandlung BSG, Urteil vom 28. August 1996, a.a.O.). Zwar hat das BSG in dem Urteil
ausdrücklich offen gelassen, ob bei Schadenersatzansprüchen, die aus einer Verletzung
kassen(zahn)ärztlicher Pflichten resultieren, die Verjährung wie bei anderen Ansprüchen
aus dem Bereich des Sozialrechts (§ 45 Abs. 1 S. 1 SGB I; § 25 Abs. 1, § 27 Abs. 2 SGB
IV, § 50 Abs. 4, § 113 SGB X) mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden
sind, oder wie heute im Allgemeinen bei Ansprüchen des Zivilrechts (§ 199 Abs. 1 BGB
i.d.F. des SchuMoG) erst mit der Kenntnis des Ersatzberechtigten von dem
eingetretenen Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen beginnt. Allerdings ist nach
Auffassung der Kammer die Frage nur im Sinne der ersten aufgezeigten Lösung zu
beantworten. Zu berücksichtigen ist, dass den Regressansprüchen der Krankenkassen
keine privatrechtlichen, sondern öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehungen des
Sozialrechts zugrunde liegen, so dass der Rückgriff auf die spezielleren Regelungen des
Sozialgesetzbuchs geboten ist. Zum anderen ist das Bedürfnis des Vertragsarztes an
Rechtssicherheit im Fall von Regressen wegen einzelner Verordnungen gleich groß wie
im Fall von sonstigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Verordnungsweise. Ein
Auseinanderfallen von Ausschluss- und Verjährungsfrist ist nicht zu rechtfertigen. Auch
sollte der Lauf der Verjährungs- und der Ausschlussfrist nicht von unterschiedlichen
Voraussetzungen, insbesondere der Kenntnis der Anspruchsinhaber von Anspruch und
Person des Schuldners, abhängig gemacht werden. Hierfür besteht auch kein Bedürfnis,
weil Anspruchsinhaber die Krankenkassen, also Körperschaften des öffentlichen Rechts,
sind. Diesen ist es mittels entsprechender Verwaltungsstrukturen möglich und
zumutbar, etwaig bestehende Regressansprüche wegen unzulässiger Verordnungen
innerhalb einer bereits laufenden vierjährigen Verjährungsfrist zu ermitteln und geltend
zu machen. Dies gilt auch für den Fall einer parallel laufenden Richtgrößenprüfung.
Die Verjährungsfrist für die streitgegenständlichen Regressforderungen, die im Jahr 2000
entstanden sind, begann also am 1. Januar 2001 zu laufen und endete am 31.
Dezember 2004. Der Beschluss des Prüfungsausschusses vom 14. Dezember 2005 hat
diese Frist nicht gewahrt. Die Klägerin hat die Einrede der Verjährung erhoben.
Ausschluss- bzw. Verjährungsfrist sind auch nicht unterbrochen worden. Eine
rechtserhebliche Unterbrechung bzw. Hemmung kann lediglich durch Tatbestände der
entsprechend anzuwendenden §§ 203-206 BGB, insbesondere durch die Erhebung einer
Untätigkeitsklage gem. § 88 SGG durch die Krankenkassen und der Zustellung des
Beiladungsbeschlusses an den Vertragsarzt, eintreten (vgl. BSG, Urteil vom 20.
September 1995, -6 RKa 40/94-, BSGE 76, 285; hier zit. n. juris, Rn. 21 u. 24). Eine
Untätigkeitsklage hat die Beigeladene zu 2) nicht erhoben. Soweit die Antragstellung der
Beigeladenen zu 2) auf Regressfestsetzung die Verjährung gem. § 204 Abs. Nr. 12 BGB
überhaupt unterbrechen kann (offen gelassen in BSG, Urteil v. 28. August 1996, a.a.O.,
Rn. 18 f.), ist sie hier jedenfalls erst nach Ablauf der Verjährungsfrist erfolgt, ebenso wie
die Information der Klägerin über die Antragstellung. Für das Vorliegen sonstiger
Hemmungstatbestände gem. §§ 203-206 BGB bestehen keine Anhaltspunkte. Vor allem
zieht das vor den Prüfgremien parallel laufende Verfahren zur Prüfung der
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zieht das vor den Prüfgremien parallel laufende Verfahren zur Prüfung der
Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise nach Richtgrößen keine Hemmung oder
Unterbrechung nach sich. Denn dieses hinderte die Beigeladene zu 2) nicht, Regresse
wegen einzelner Verordnungen geltend zu machen und ihre Feststellung durch die
Prüfgremien durchzusetzen. Schließlich spricht gegen eine Unterbrechung oder
Hemmung, dass auch für die Richtgrößenprüfung eine eigenständige vierjährige
Ausschlussfrist läuft. Die Richtgrößenprüfung und die Prüfung eines sonstigen Schadens
können sich nicht in der Weise gegenseitig beeinflussen, dass die eine Einfluss auf den
Lauf der Ausschlussfrist der anderen hat. Dies würde dazu führen, dass die Ausschluss-
bzw. Verjährungsfrist insgesamt bis zu acht Jahre betragen könnte, was dem Sinn und
Zweck der Frist – Rechtssicherheit, zügiges Prüfverfahren, zeitnahe Tatsachenermittlung,
Vermeidung von Beweisproblemen – entgegenstünde und für den Vertragsarzt zu
unzumutbar langen Prüfverfahren führen könnte.
Soweit zwischen den Beteiligten weitere Fragen im Streit stehen, insbesondere ob der
Regress auch der Sache nach festgesetzt werden durfte, brauchte hierüber wegen der
Verfristung nicht mehr entschieden zu werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 162 Abs. 3
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