Urteil des SozG Berlin vom 06.06.2006

SozG Berlin: aufschiebende wirkung, heizung, wesentliche veränderung, härte, angemessenheit, zukunft, auflage, gleichbehandlung, begriff, ermächtigung

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 06.06.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 104 AS 8872/06 ER
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird zurück-gewiesen. Der Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt. Der Antrag auf
Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt M A wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin erstrebt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die teilweise
Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für den Monat Oktober 2006 sowie den Erlass einer
einstweiligen Anordnung auf Gewährung eines höheren Alg II ab November 2006.
Die am ... 1965 geborene Antragstellerin erhielt von der Antragsgegnerin durch Bescheid vom 20. April 2006 in der
Fassung des Änderungsbescheids vom 3. Juli 2006 für die Zeit von Mai 2006 bis Oktober 2006 Alg II. Für den Monat
Oktober 2006 gewährte die Antragsgegnerin ein Alg II in Höhe von 837,57 Euro, wobei ihre tatsächlichen Kosten für
Unterkunft und Heizung in Höhe von 492,57 Euro zugrunde gelegt wurden. Bereits mit Schreiben der Antragsgegnerin
vom 16. März 2006 wurde die Antragstellerin dazu angehört, dass lediglich Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe
von 360,00 Euro angemessen seien. Sie habe ihre derzeitigen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 492,57
Euro bis zum 30. September 2006 auf das angemessene Maß abzusenken. Gegebenenfalls werde die
Antragsgegnerin zum 1. Oktober 2006 die Zahlung der Kosten für Unterkunft und Heizung auf die für die
Antragstellerin angemessenen Kosten in Höhe von 360,00 Euro absenken. Durch die Bescheide vom 13. September
2006 hob die Antragsgegnerin das Alg II für den Monat Oktober 2006 hinsichtlich eines Betrages von 132,57 Euro auf.
Zur Begründung wurde auf § 22 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) i.V.m. Ziffer
4 der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II (AV-Wohnen)
der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (vgl. Rundschreiben I Nr. 14/2005 vom 17.
Juni 2005, zuletzt geändert mit Verwaltungsvorschrift vom 30. Mai 2006) und § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) verwiesen. Hiergegen legte die Antragstellerin am 29.
September 2006 mit der Begründung Widerspruch ein, eine Absenkung der Kosten für Unterkunft und Heizung auf das
von der Antragsgegnerin für angemessen gehaltene Maß von 360,00 Euro monatlich komme - jedenfalls derzeit - nicht
in Betracht. Eine der in § 48 SGB X bezeichneten Änderungen liege nicht vor. Der Widerspruch wurde durch den
Widerspruchsbescheid der Antragsgegnerin vom 9. Oktober 2006 zurückgewiesen.
Durch Bescheid vom 22. September 2006 gewährte die Antragsgegnerin der Antragstellerin für die Zeit von November
2006 bis April 2007 Alg II i.H.v. 696,00 Euro monatlich, wobei wiederum Kosten für Unterkunft und Heizung i.H.v.
360,00 Euro (abzüglich der Warmwasserpauschale von 9,00 Euro) zugrunde gelegt wurden.
Bereits am 29. September 2006 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin vorläufigen Rechtsschutz begehrt.
Unter Vertiefung ihres Vorbringens aus dem Widerspruchsverfahren führt sie ergänzend aus: Es bestehe ein
Anordnungsgrund, da Leistungen der Existenzsicherung nach dem SGB II in Rede stünden. Während des
Hauptsacheverfahrens sei das Existenzminimum nicht gedeckt. Diese möglicherweise längere Zeit dauernde,
erhebliche Beeinträchtigung könne nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden. Es bestehe auch ein
Anordnungsanspruch. Die Absenkung der anerkannten Kosten für Unterkunft und Heizung sei für den Monat Oktober
2006 rechtswidrig, da keine Anspruchsgrundlage für eine Absenkung gegeben sei. Die Festsetzung der
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung auf pauschalierte 360,00 Euro Gesamtmiete sei auch für den
nachfolgenden Zeitraum rechtswidrig. Solange das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit von der
Verordnungsermächtigung des § 27 SGB II keinen Gebrauch mache, sei eine Pauschalierung der
berücksichtigungsfähigen Kosten für die Unterkunft im Bereich des SGB II ausgeschlossen.
Die Antragstellerin beantragt nach ihrem Vorbringen,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 29. September 2006 gegen die Bescheide der Antragsgegnerin
vom 13. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Oktober 2006 anzuordnen und
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verurteilen, ihr für die Zeit ab November 2006 ein um
132,57 Euro höheres Arbeitslosengeld II zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst
Anlagen Bezug genommen.
Die Kammer hat die Leistungsakte der Antragsgegnerin beigezogen. Die Leistungs-akte hat der Kammer bei ihrer
Entscheidung vorgelegen.
II.
Die von der Antragstellerin gestellten Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sowie auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung haben keinen Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 29. September
2006 gegen die Bescheide der Antragsgegnerin vom 13. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 9. Oktober 2006 ist zulässig. Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung
entfalten, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Antragstellerin hat gegen die Bescheide vom
13. September 2006 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Oktober 2006) Widerspruch eingelegt. Dieser
entfaltet jedoch nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung, weil
es sich insoweit um Verwaltungsakte handelt, die über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
entscheiden.
Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Im Rahmen einer eigenen Ermessensausübung gelangte die Kammer nach
summarischer Prüfung zu der Einschätzung, dass das öffentliche Vollzugsinteresse gegenüber dem
Aussetzungsinteresse der Antragstellerin deutlich überwog. Denn es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes; des Weiteren hat die Vollziehung desselben für die
Antragstellerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende Interessen gebotene Härte zur Folge. Die
Antragsgegnerin bezieht sich hinsichtlich der teilweisen Aufhebung der Leistungsbewilligung für den Monat Oktober
2006 in Höhe eines Betrages von 132,57 Euro zu Recht auf die Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Hiernach
ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche
Änderung eingetreten ist. Hier besteht die wesentliche Veränderung der Verhältnisse gegenüber der Sach- und
Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 3. Juli 2006 darin, dass die Antragstellerin ab Oktober
2006 keinen Anspruch auf Übernahme der tatsächlich von ihr zu entrichtenden Kosten für Unterkunft und Heizung in
voller Höhe (492,57 Euro) mehr hat. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des
Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II als Bedarf des allein
stehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft solange zu berücksichtigen, wie es dem allein stehenden
Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zumutbar ist, durch einen Wohnungswechsel,
durch Vermietung oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs
Monate. Hier sind die derzeitigen Kosten der Antragstellerin für Unterkunft und Heizung aber unangemessen hoch.
Dieses ergibt sich aufgrund der Vorgaben der AV-Wohnen, wonach als Richtwert für eine angemessene Brutto-
Warmmiete bezogen auf einen Ein-Personen-Haushalt ein Betrag von 360,00 Euro anzusetzen ist. Die Kammer hat
insoweit keine Bedenken, auf die Vorgaben der AV-Wohnen abzustellen. Zwar handelt es sich insoweit lediglich um
eine Verwaltungsvorschrift, die den Begriff der Angemessenheit im Sinne des § 22 SGB II interpretiert. Die
Angemessenheitsvorgaben der AV-Wohnen sind jedoch in Berlin seit langer Zeit von der Rechtsprechung akzeptiert
und stellen eine durchgängige Verwaltungs-Praxis dar. Damit legt auch die Kammer in ständiger Rechtsprechung,
nicht zuletzt im Sinne einer Gleichbehandlung aller Hilfebedürftigen, die AV-Wohnen ihren Entscheidungen zugrunde,
zumal durchgreifende Bedenken daran nicht bestehen, dass die Richtwerte der Ziffer 4 Abs. 2 der AV-Wohnen nicht
das wiedergeben, was nach der Vorschrift des § 22 SGB II als angemessen angesehen werden kann. Solange das
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit von der diesbezüglichen Ermächtigung in § 27 SGB II keinen Gebrauch
gemacht hat, bestehen bei der Auslegung des Begriffs der Angemessenheit im Rahmen des § 22 SGB II unter
Heranziehung der Richtwerte der AV-Wohnen keine rechtlichen Bedenken. Gleichwohl ist die Antragsgegnerin
entsprechend der Vorschrift des § 22 Ab. 1 Satz 2 SGB II für eine Übergangszeit, innerhalb derer die Antragstellerin
alles Zumutbare hat unternehmen müssen, um die Kosten für Unterkunft und Heizung auf ein angemessenes Maß zu
senken, verpflichtet die tatsächlichen (unangemessen hohen) Kosten für Unterkunft und Heizung weiter zu tragen.
Dies gilt jedoch regelmäßig längstens für einen Zeitraum von sechs Monaten. Dieser ist hier jedoch ausgehend von
der Anhörung der Antragstellerin mit Schreiben vom 16. März 2006 im Laufe des September 2006 abgelaufen, so
dass die Antragsgegnerin für den Zeitraum ab Oktober 2006 lediglich verpflichtet ist, die nach der AV-Wohnen
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 360,00 Euro (abzüglich einer Warmwasserpauschale
von 9,00 Euro) zu tragen. Anhaltspunkte, die ein Überschreiten dieses 6-Monate-Zeitraums erforderlich machen
könnten, sind für die Kammer nicht erkennbar und von der Klägerin auch nicht vorgetragen worden. Die somit
eingetretene Veränderung der Verhältnisse hat zur Folge, dass die, wie aufgezeigt, ursprünglich rechtmäßige
Gewährung von Alg II in dem Bescheid vom 3. Juli 2006 ab Oktober 2006 rechtswidrig geworden ist, so dass die
Antragsgegnerin nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X verpflichtet war, den Bescheid vom 3. Juli 2006 insoweit
(hinsichtlich des Monats August 2006) teilweise aufzuheben.
Das Entfallen der aufschiebenden Wirkung hat für die Antragstellerin auch keine unbillige Härte zur Folge, denn selbst
für den Fall, dass sie (unter Berücksichtigung des Monats Oktober 2006) in Zukunft keine ausreichenden Mittel zur
Verfügung hat, ihre derzeitige Mietwohnung zu finanzieren, wäre sie gezwungen, sich anderen, günstigeren,
Wohnraum zu suchen. Hierin liegt jedoch keine unbillige Härte, sondern lediglich die Umsetzung der Vorgaben des
Gesetzgebers in § 22 SGB II, wonach das Alg II lediglich der Finanzierung angemessenen Wohnraums zu dienen
bestimmt ist.
Die von der Antragstellerin erstrebte Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) in
Bezug auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hinsichtlich der Übernahme der derzeitigen tatsächlichen Kosten für
Unterkunft und Heizung für den Zeitraum ab November 2006 ist bereits unzulässig. Denn der Bescheid der
Antragsgegnerin vom 22. September 2006, mit dem diese der Antragstellerin für die Monate November 2006 bis April
2007 Alg II unter Berücksichtigung lediglich der nach der AV-Wohnen angemessenen Kosten für Unterkunft und
Heizung gewährt hat, ist bestandskräftig und damit gemäß § 77 SGG zwischen den Beteiligten bindend geworden.
Denn die Antragstellerin hat es ausweislich der Leistungsakte der Antragsgegnerin unterlassen, den Bescheid vom
22. September 2006 mit dem Widerspruch anzugreifen. Die Antragstellerin kann aber über einen Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung auch nicht mehr erreichen, als in einem möglichen Hauptsacheverfahren (vgl. Keller in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, § 86 b, Rdnr. 23 i.V.m. Kopp/Schenke, VwGO, 13.
Auflage, § 123, Rdnr. 18); einem gegebenenfalls nach Bestandskraft des Bescheides eingelegten Widerspruch oder
einer entsprechenden Klage bliebe - als Folge der eingetretenen Bestandskraft - ebenfalls der Erfolg versagt.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt M A war ebenfalls abzuweisen.
Denn die Sache bietet nach § 73 a SGG i.V.m. § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg. Insoweit sei auf die obigen Ausführungen verwiesen.