Urteil des SozG Berlin vom 19.11.2007
SozG Berlin: erlass, teilung, auflage, arbeitsförderung, geburt, heizung, beschränkung, verordnung, leistungsbezug, zivilprozessordnung
Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 19.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 104 AS 27329/07 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorurteilt, den Antragstellern für die Zeit vom 4.
Oktober 2007 bis zum 31. März 2008 Arbeits- losengeld II in Höhe von monatlich 817,00 EUR zu gewähren. Die
Antragsgegnerin hat den Antragstellern die außer- gerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Den
Antragstellern wird für dieses Verfahren Prozess- kostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt N beigeordnet.
Gründe:
Der (sinngemäße) Antrag der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verurteilen,
ihnen für die Zeit ab dem 4. Oktober 2007 (für die Antragstellerin zu 2.) ab dem 23. Oktober 2007) Arbeitslosengeld II
(Alg II) zu gewähren, hat Erfolg.
Der Antrag der Antragsteller war bei verständiger Würdigung ihres Vorbringens im oben aus-geführten Sinne
auszulegen (§ 123 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Insoweit war zu berücksich-tigen, dass es des mit Schriftsatz vom
25. Oktober 2007 gestellten Antrags zu 2. (Verurteilung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Entbindungskosten in
Höhe von 3.146,50 EUR) nicht bedurft hat, denn diesem Begehren wird bereits durch den mit der Gewährung von Alg
II ver-bundenen Krankenversicherungsschutz (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 a Sozialgesetzbuch – Gesetzliche
Krankenversicherung – [SGB V]) entsprochen.
Der zulässige Antrag ist begründet. Für die von den Antragstellern erstrebte Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz
2 Sozialge-richtsgesetz – SGG -) besteht bereits ein Anordnungsanspruch. Eine vollständige Abklärung der
materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Alg II nach den §§ 7 ff Sozialgesetz-buch – Grundsicherung für
Arbeitsuchende – (SGB II) ist der Kammer zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Mit dem Vorbringen der
Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 29. Oktober 2007 geht auch die Kammer davon aus, dass der
Aufenthaltsstatus der Antragstel-ler bislang noch nicht abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht – wie in diesem Fall –
eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG, 2. Kammer des ersten Senats, NVwZ – RR 2001, S. 694 ff.). In
diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die
Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, 1.Kammer des
ersten Senats, NJW 2003, S. 1236 ff.). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen
geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur
zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Auch im vorliegenden Fall besteht jedenfalls die konkrete
Möglichkeit, dass es ohne den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung bei den Antragstellern zu einer
Beeinträchtigung von verfassungsrechtlich garantierten Grundrechtspositionen kommt. Denn die erstrebten Leistun-
gen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens. Diese
Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der
Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG E 82, S. 60 ff.). Nach summarischer
Prüfung aufgrund der Aktenlage sowie des Vor-bringens der Beteiligten ist es für die Kammer jedenfalls nicht
erkennbar, dass die Antragstel-ler in dem streitigen Zeitraum über finanzielle Mittel verfügen, die ein
menschenwürdiges Da-sein gewährleisten.
Im Rahmen der von der Kammer durchgeführten Folgenabwägung war auch zu berücksichti-gen, dass gute Gründe für
das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des von den An-tragstellern geltend gemachten Anspruchs vorliegen.
In diesem Zusammenhang geht die Kam-mer entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin davon aus, dass – auch
in Anbetracht des noch nicht abschließend geklärten aufenthaltsrechtlichen Status der Antragsteller – dass ein
materieller Anspruch auf Gewährung von Alg II jedenfalls nicht offensichtlich deshalb ausge-schlossen ist, weil die
Antragstellerin zu 1.) nicht im Sinne des § 8 SGB II erwerbsfähig wäre. Nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer nur
erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Ausweislich
der von den An-tragstellern vorgelegten Bescheinigung des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegen-heiten
vom 22. Oktober 2007 benötigt die Antragstellerin zu 1.) zur Aufnahme einer unselb-ständigen
arbeitsgenehmigungspflichtigen Erwerbstätigkeit eine Arbeitserlaubnis – EU oder eine Arbeitsberechtigung – EU.
Soweit Hilfebedürftige eine solche Erlaubnis noch nicht haben, genügt es für den SGB II – Leistungsbezug, dass
ihnen eine solche Arbeitsgenehmigung - EU gemäß § 284 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) erteilt
werden könnte (vgl. Brühl in LPK – SGB II, 2. Auflage, § 8, Randnr. 32). Jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist
für die Kammer nicht erkennbar, weshalb die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Er-teilung einer solchen
Arbeitsgenehmigung-EU im Falle der Antragstellerin zu 1.) ausgeschlos-sen sein sollten.
Hinsichtlich der Höhe des monatlich zu gewährenden Alg II von 817,00 EUR hat die Kammer hinsichtlich der
Antragstellerin zu 1.) eine Regelleistung nach § 20 Abs. 1 SGB II von 347,00 EUR (nach § 37 SGB II ab
Antragstellung am 4. Oktober 2007) sowie für die Antragstellerin zu 2.) ein Sozialgeld nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1
SGB II i.H.v. 208,00 EUR (ab der Geburt am 23. Ok-tober 2007) sowie Kosten für Unterkunft und Heizung
entsprechend den Angaben der Antrag-stellerin zu 1.) im Rahmen des Pkh-Verfahrens von 386,00 EUR zugrunde
gelegt. Von dem Ge-samtbetrag i.H.v. 941,00 EUR müssen nach §§ 9 und 11 SGB II als Einkommen 124,00 EUR
(Kinder-geld von 154,00 EUR abzüglich einer Versicherungspauschale nach § 11 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 3 Abs.
1 Nr. 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtbe-rücksichtigung von Einkommen und
Vermögen beim Arbeitslosengeld II / Sozialgeld [Alg II – V]) abgezogen werden. Darüber hinaus besteht auch ein
Anordnungsgrund. Der Erlass der einstweiligen Anordnung erscheint aufgrund der obigen Ausführungen nötig, um
wesentliche Nachteile auf Seiten der Antragsteller abzuwenden. Die Beschränkung des zeitlichen Rahmens der Alg II-
Gewährung auf ca. sechs Monate steht mit dem Charakter einer einstweiligen Anordnung als einer noch vorläufigen
Entscheidung sowie mit der Regelung des § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II in Einklang.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Die Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsan-walt M N beruht auf §
73 a SGG i.V.m. §§ 114 ff Zivilprozessordnung (ZPO).